Seit dem Zweiten Weltkrieg verkündet die Wachtturm-Gesellschaft, daß ihre Anhänger in Deutschland die Prinzipien des Dritten Reiches standhaft ablehnten.

Nicht so bekannt ist jedoch sowohl den meisten Zeugen Jehovas als auch vielen unabhängigen Forschern, daß zwar die einfachen Anhänger im allgemeinen ihre Integrität bewahrten und zu ihren Grundsätzen standen, nicht so jedoch die Führung der Gemeinschaft. Der bekannte ZJ-Kritiker James M. Penton hat in einer ausführlichen Dokumentation die Fakten zusammengetragen.

Jehovas Zeugen, Antisemitismus und Drittes Reich:

Der Versuch der Wachtturm-Gesellschaft, mit den Nazis einen Kompromiß zu schließen

von M. James Penton

  1. Konrad Frankes Zeugnis
  2. Erklärung
  3. Brief an Hitler
  4. Brief des Autors an Milton Henschel

Seit dem Zweiten Weltkrieg lehrt die Wachtturm Bibel & Traktatgesellschaft (WTG) die Zeugen Jehovas, daß die Kirchen in Deutschland, sowohl die katholische wie die evangelische, sich durch Kompromisse mit Hitler und den Nationalsozialisten schuldig gemacht hätten, ihre deutschen Brüder jedoch, damals unter der Bezeichnung "Ernste Bibelforscher" bekannt, wie ein Mann gegen die Grundsätze des Dritten Reichs feststanden. Wegen des mutigen Standes der meisten einfachen Zeugen Jehovas (ZJ) angesichts furchtbarer Verfolgung, bei der viele in Hitlers Konzentrationslagern ihr Leben lassen mußten, seien sie zu Recht von den meisten Historikern lobend herausgestellt worden - eine Tatsache, die die WTG bis heute benutzt, um ihre Behauptung zu untermauern.

So berichtete z.B. der Wachtturm vom 1. Oktober 1984 (Seite 8) über die Untersuchungsergebnisse von Christine E. King und Michael Kater, die herausgefunden hatten, daß die Zahl der im Rahmen der Nazi-Verfolgung verhafteten und getöteten Zeugen bis dahin erheblich unterschätzt wurde. Dr. King wurde mit den Worten zitiert:

Die Zeugen hielten an theologischen Grundsätzen fest; sie blieben 'neutral'; sie waren ehrlich und völlig vertrauenswürdig, und aufgrund dessen wurden sie ironischerweise oft als Bedienstete der SS angestellt.

Was aber bis jetzt allgemein weder den meisten ZJ noch unabhängigen Wissenschaftlern bekannt ist: Während die einfachen ZJ gewöhnlich ihre Lauterkeit und die Hingabe an ihre Grundsätze bewahrten, gilt dies nicht für ihre Führung - den zweiten WTG-Präsidenten Richter Joseph F. Rutherford und den Mann, der ihm 1942 in diesem Amt folgte, Nathan H. Knorr, sowie hohe deutsche Wachtturm-Funktionäre.

Überdies versuchten Rutherford und seine Paladine, den deutschen Zweig ihrer Bewegung zu retten, indem sie die Juden zu Sündenböcken erklärten und Großbritannien, die Vereinigten Staaten, und den Völkerbund angriffen.

In der ersten Hälfte ihrer Geschichte waren die Bibelforscher/ZJ bekannt für ihre Sympathie gegenüber den Juden. Noch mehr als die meisten amerikanischen protestantischen Millenarier des ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts war der erste WTG-Präsident Charles T. Russell durch und durch ein Förderer der Sache der Zionisten. Er weigerte sich, Juden bekehren zu wollen, und glaubte an die jüdische Wiederbesiedelung Palästinas, und im Jahre 1910 führte er in New York eine jüdische Zuhörerschaft beim Singen der Zionistenhymne, der Hatikva, an.(1) Nach Russels Tod im Jahre 1916 folgte Richter Rutherford seinen Schritten.

1925 schrieb er ein kleines Buch mit dem Titel Restoration, das auf einer Reihe von Rundfunksendungen basierte, in denen er gesprochen hatte, und 1926 veröffentlichte er ein ähnliches Buch mit dem Titel Comfort for the Jews [Trost für die Juden]. In beiden Büchern machte er sich selbst zu einem Freund des jüdischen Volkes und behauptete, die jüdischen Einwanderung in das Heilige Land sei eine Erfüllung biblischer Prophezeiung. Sowohl Restoration als auch Comfort for the Jews enthielten dasselbe Vorwort des Herausgebers [sowohl hier wie auch in allen anderen Fällen, wo die englische Quelle angegeben ist, handelt es sich um eigene Übersetzungen, da der deutsche Text nicht zur Verfügung stand]:

DIE Wiedererrichtung Palästinas nimmt die Aufmerksamkeit der Juden auf der ganzen Erde in Anspruch. Einige heidnische Weltmächte treten offen für die Bewegung ein, tun dies aber aus egoistischen Gründen.

RICHTER RUTHERFORD, auf der ganzen Welt als Freund des hebräischen Volkes bekannt, unterstützt nachdrücklich den Anspruch der Juden auf das Heilige Land. Er lehnt die Bekehrung von Juden ab; er glaubt, daß dies nicht nur verkehrt, sondern auch im Widerspruch zur Bibel sei. Er hält Reden vor großen Zuhörerschaften über das Thema "RÜCKKEHR DER JUDEN NACH PALÄSTINA", die auch auf der ganzen Welt im Rundfunk ausgestrahlt wurden und großes Interesse erweckt haben. Es gibt auch viele Anfragen, ob sie in gedruckter Form erhältlich sind. So gibt er diese Reden nun in verkürzter Form als Buch heraus. Es wird von nachhaltigem Interesse sowohl für Juden als auch Nichtjuden sein. Es ist die erste unvoreingenommene Darstellung des Themas aus biblischer Sicht. Die Herausgeber sind zuversichtlich, daß das Buch viel Gute bewirken wird.

1930 schrieb Rutherford ein größeres Buch zum gleichen Thema mit dem Titel Life [Leben]. Doch plötzlich widerrief er seinen Glauben über die Juden. Life wurde aus dem Verkehr gezogen,(2) und 1932 verkündete Rutherford, das fleischliche Israel" spiele keine besondere Rolle in der Errettungsgeschichte. Er schrieb:

Die Juden wurden aus Palästina geworfen und 'ihr Haus wurde ihnen verödet hinterlassen', weil sie Jesus Christus verwarfen, den geliebten und gesalbten König Jehovas. Bis heute haben die Juden diese üble, von ihren Vorvätern begangene Tat nicht bereut. Viele von ihnen sind in das Land Palästina zurückgekehrt, aber sie sind aus Selbtsucht und aus sentimentalen Gründen dazu gebracht worden.

Während der langen Zeit seit ihrer Vertreibung bis heute haben die Juden nicht "die Schande der Heiden getragen", weder für Jehova noch für Christi Namen. Während all dieser Zeit, und insbesondere während des Weltkrieges [1. Weltkrieg], haben die wahren Nachfolger Jesu Christi, Gott und seinem Königreich hingegeben, die Schande der Heiden getragen und sie sind um Christi und des Namens Jehovas willen von allen Nationen gehaßt worden. (Matth. 24: 9; Mark.13: 13)

Im Gegensatz dazu erfuhren die Juden während des Weltkrieges die Anerkennung der heidnischen Nationen. 1917 kam die Balfour-Deklaration, unterstützt durch die heidnischen Regierungen der Organisation Satans, heraus; sie erkannte die Juden an und erwies ihnen großes Wohlwollen. Darin übernahm die siebente Weltmacht [das Britische Empire] die Führung. Jetzt stellen das Großgeschäft und andere Flügel der Organisation Satans die Juden in ein und dieselbe Reihe mit den Heiden. Bis dahin hatte sogar Gottes Volk die Tatsache übersehen, daß die Angelegenheiten des Königreiches Gottes im Hinblick auf die Dinge auf der Erde von weit größerer Bedeutung sind als die Wiederbesiedelung des kleinen Streifens Land an der Ostküste des Mittelmeers. Man hat den Juden mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als sie es verdienen. Deshalb muß diese Prophezeiung [Jesajas] die eigentliche Erfüllung an dem wahren Volk des Königreiches Gottes, das jetzt auf der Erde lebt, finden.(3)

Vielleicht war der Richter einfach bestrebt zu behaupten, die ZJ seien das "wahre Israel Gottes", aber anscheinend hatte er noch andere Gründe für solch eine dramatische Änderung der Lehre ohne genauere Erklärung. Er mag sich früher zum prozionistischen Freund des hebräischen Volkes in der Tradition seines Vorgängers erklärt haben, doch hin und wieder schien eine Ader von tiefsitzendem Antisemitismus durch.

Während einer Ansprache über die biblische Prophezeiung einer Rückkehr der Juden nach Palästina, die er in den frühen 1920er Jahren auf einem Kongreß der kanadischen Bibelforscher in Winnipeg, Manitoba, hielt, rief er plötzlich aus:

Ich spreche von den Palästinajuden, nicht von den hakennasigen, buckligen kleinen Juden, die an der Straßenecke stehen und einem noch den letzten Cent aus der Tasche holen.(4)

Doch es waren 1932 außer persönlichen Vorurteilen zweifellos noch andere Faktoren, die ihn die lange Bibelforschertradition des Philosemitismus aufgeben ließen. In den späten 1920er und frühen 1930er Jahren griff mit dem Aufkommen einer Reihe religiöser wie politischer Bewegungen in den Vereinigten Staaten und in Kanada der Antisemitismus um sich.(5) Und mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise im Jahre 1929 schien es möglich zu sein, daß die leidenschaftlich antijüdischen Nazis in Deutschland an die Macht kommen könnten - was am 30. Januar 1933 auch geschah. So scheint deutlich zu werden, daß Rutherford eifrig darauf bedacht war, die Zeugen so eindeutig wie möglich von den jüdischen Gemeinden abzusetzen. Doch dies kann keinesfalls entschuldigen, was er und seine Gefolgschaft schon bald im ersten Jahr des Dritten Reiches tun sollten.

Anfang April 1933 gingen die Nazis gegen die ZJ vor. Ihr Zweigbüro in Magdeburg wurde besetzt, und ihre religiöse Tätigkeit wurde zeitweise zum Erliegen gebracht. Doch am 28. April gaben die deutschen Behörden der WTG und damit den amerikanischen Eignern das Büro zurück; zweifellos, um nicht Amerika gegen sich aufzubringen.(6) Doch die Führung der ZJ und die einfachen Zeugen wußten, daß sie von den Nazis nicht gemocht wurden. So entschlossen sich nach einem offiziellen Bericht der ZJ Richter Rutherford und die deutschen Zeugen, unerschrocken gegen die Hitlerdiktatur festzustehen.

In dem Buch Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben, herausgegeben von der WTG im Jahre 1959 (deutsch: 1960), heißt es:

Richter Rutherford hatte die Lage in Deutschland fortwährend genau beobachtet und war mit ihrer Entwicklung, soweit sie das Zeugniswerk betraf, gut vertraut. Bei dieser ernsten Wendung der Dinge verlor er keine Zeit und begab sich in Begleitung von N. H. Knorr nach Deutschland, um zu sehen, was getan werden könnte. Am 25. Juni, an demselben Tag, der für die wiederholte Sendung des Vortrages "Wirkung des Heiligen Jahres auf Frieden und Wohlfahrt" über 158 Radiostationen in den Vereinigten Staaten angesetzt war, wurde ein Kongreß in Berlin einberufen. Dort wurde den 7000 Anwesenden eine vorbereitete Erklärung der Tatsachen als Protest gegen die Hitler-Regierung wegen ihrer anmaßenden Einmischung in das Zeugniswerk vorgelegt, die einstimmig angenommen wurde. Die Erklärung wurde dann jedem höheren Regierungsbeamten, vom Präsidenten abwärts bis zu den Reichstagsmitgliedern, zugesandt, und 2500000 Exemplare wurden öffentlich verbreitet. Die Vergeltungsmaßnahme folgte schnell. Drei Tage später, am 28. Juni, wurde das Eigentum der Gesellschaft zum zweiten Male beschlagnahmt und besetzt, und durch behördlichen Erlaß wurde ihre Druckerei geschlossen.(7)

Aber war der Wachtturm-Besitz am 28. Juni 1933 wirklich deshalb von den deutschen Behörden beschlagnahmt worden, weil die "Erklärung" ein mutiger Protest gegen Naziaktionen war? Nein, ganz im Gegenteil. In einem als Tonbandaufnahme vorliegenden Bericht über die Geschichte der ZJ in Deutschland erzählt der ehemalige "Zweigdiener" oder "Aufseher" der WTG, Konrad Franke, als er und ein weiterer ZJ in der Sporthalle Wilmersdorf in Berlin ankamen, wo der Kongreß 1933 der Zeugen stattfinden sollte, seien sie schockiert gewesen. Das Gebäude sei mit Hakenkreuzfahnen geschmückt gewesen - offenbar, um den Nationalsozialisten zu gefallen. Während des Kongresses selbst seien die Zeugen getreu dazu aufgefordert worden, eine Hymne zu singen, die sie schon jahrelang in Deutschland nicht mehr gesungen hatten. Zwar lehnten sie den Text nicht ab, doch die Musik war dieselbe wie die der deutschen Nationalhymne: "Deutschland, Deutschland über alles."(8)

Was die "Erklärung" und einen Begleitbrief an Adolf Hitler persönlich betrifft: sie waren alles andere als frei von eigennützigen Aussagen, mit denen sich ZJ versuchten, bei den Nazis einzuschmeicheln. Unter dem Absatztitel "Juden" hieß es in der Erklärung:

Es ist von unseren Feinden fälschlich behauptet worden, daß wir in unserer Tätigkeit von den Juden finanziell unterstützt werden. Dies ist absolut unwahr, denn bis zur gegenwärtigen Stunde ist auch nicht das geringste an Beitragen oder finanzieller Unterstützung für unser Werk von Juden geleistet worden. Wir sind treue Nachfolger Jesu Christi und glauben an ihn als den Heiland der Welt. Die Juden dagegen verwerfen Jesus Christus völlig und leugnen absolut, daß er der Welt Heiland ist, der von Gott zum Nutzen des Menschen gesandt wurde. Schon allein diese Tatsache sollte Beweis dafür sein, daß wir von den Juden nicht unterstützt werden und daß die Anschuldigungen gegen uns in böser Absicht vorgebracht wurden und falsch sind, und nur von Satan, unserem großen Feinde, herrühren können.

Das anglo-amerikanische Weltreich ist die größte und bedrückendste Herrschaft auf Erden. Hiermit ist das Britische Reich, wovon die Vereinigten Staaten Amerikas einen Teil bilden, gemeint. Es sind die Handelsjuden des Britisch-Amerikanischen Weltreiches, die das Großgeschäft aufgebaut und benutzt haben als ein Mittel der Ausbeutung und der Bedrückung vieler Völker. Diese Tatsache bezieht sich in Sonderheit auf die Städte London und New York als Hauptstützpunkte des Großgeschäfts. Dies ist in Amerika so offenbar, das es in bezug auf die Stadt New York ein Sprichwort gibt, das heißt: "Den Juden gehört die Stadt, die irischen Katholiken beherrschen sie, und die Amerikaner müssen zahlen." Wir haben mit den erwähnten Gruppen keinen Streit, sondern als Zeugen für Jehova und in Befolgung seiner in der Schrift niedergelegten Gebote müssen wir auf die Wahrheit hierüber aufmerksam machen, damit das Volk über Gott und sein Vorhaben aufgeklärt werden möchte.(9)

Das war nicht alles. Die Erklärung verurteilte den Völkerbund und sagte dann weiter:

Die nationale Regierung hat sich nun deutlich ausgesprochen gegen die Bedrückung durch das Großgeschäft und gegen verkehrte religiöse Einflüsse in den politischen Angelegenheiten des Staates. Genau dies ist auch unsere Stellungnahme ...(10)

Dann wurde verkündet:

Anstatt gegen die von der deutschen Regierung vertretenen Grundsätze eingestellt zu sein, treten wir vollkommen ein für diese Leitsätze, und weisen darauf hin, daß Jehova Gott durch Christus Jesus die gänzliche Verwirklichung dieser Grundsätze bringen ... wird.(11)

Der Brief an Hitler war ebenfalls kompromittierend. Um sich als Zeugen beim Führer einzuschmeicheln, wurde behauptet, die WTG sei seit jeher "in hervorragendem Masse deutschfreundlich". Überdies wurde fälschlich behauptet, Rutherford und sieben Mitglieder des Direktoriums der WTG seien zu insgesamt achtzig Jahren Gefängnis verurteilt worden, weil der Präsident sich weigerte, zwei von ihm in Amerika geleitete Zeitschriften zur Kriegspropaganda gegen Deutschland zu gebrauchen".(12)

Doch Jehovas Zeugen sollten bald dahinterkommen, daß die Nationalsozialisten weder durch die "Erklärung" noch durch den Brief an Hitler beeindruckt waren.

Viele deutsche Zeugen waren sich durch und durch bewußt, daß sie lange prozionistisch eingestellt waren, und Nazifunktionäre waren kaum so dumm, nicht zu wissen, daß sie direkt das Gegenteil von dem dachten, was Hitler und seine Gesinnungsgenossen verkündeten und forderten. Die Zeugen waren im religiösen Sinne Internationalisten und Menschen anderer Rassen gegenüber generell tolerant eingestellt; sie sahen weltliche Herrschaft als satanisch an und waren vor allem offen antimilitaristisch(13) - alles Faktoren, die die nationalistischen, rassistischen und militaristischen Nazis dazu brachten, sie zu verachten. So entfesselte die deutsche Regierung fast sofort eine Verfolgungswelle gegen die Zeugen.

Am 27. Juni 1933, einen Tag, nachdem sie damit begonnen hatten, per Einschreiben Exemplare der "Erklärung" an deutsche Beamte zu verschicken, wurden sie vom Land Preußen verboten und begann die Polizei mit umfangreichen Razzien in ihren Wohnungen und auf ihren Arbeitsstellen. Wie schon gesagt, wurde das Magdeburger WTG-Büro am 28. Juni besetzt.

Schließlich wurde von den Nazis WTG-Besitz im Wert von zwei bis drei Millionen Mark beschlagnahmt und zerstört.(14) Aber erst dann, und nur dann, entschlossen sich Rutherford und die WTG dazu, der Nazipolitik kompromißlos entgegenzutreten. Noch einige Zeit danach waren die deutschen Zeugen geteilter Meinung, was sie tun sollten.(15)

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren den Zeugen und anderen zwar nicht die Kompromisse der Wachtturm-Führung im Deutschland des Jahres 1933 bewußt, doch einige erinnerten sich noch an den Kongreß in Berlin.

Und es waren auch noch Exemplare der "Erklärung" und des WTG-Briefes an Hitler vorhanden. Als die WTG daher im Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1974 einen Geschichtsabriß über die ZJ in Deutschland veröffentlichte, mußte man mit den sehr peinlichen Fakten in einer Weise klarkommen, die die Brooklyner WTG-Führer nicht der Verletzung ihrer eigenen Lehren schuldig aussehen lassen würde. So machte man für die Kompromisse mit Hitler und den Nazis ganz und gar Paul Balzereit, den damaligen deutschen Zweigdiener der WTG, verantwortlich.

Wegen der Bedeutung der gegenwärtigen Haltung der Gesellschaft in dieser Sache wird die Schilderung des Kongresses 1933 in Berlin im Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1974 in ganzer Länge wiedergegeben. Es heißt:

Bis zum Sommer des Jahres 1933 war das Werk der Zeugen Jehovas in den meisten deutschen Ländern verboten worden. Regelmäßig wurden die Wohnungen der Brüder durchsucht, und viele Brüder wurden verhaftet. Die Versorgung mit geistiger Speise wurde teilweise behindert, wenn auch nur vorübergehend; doch viele Brüder fragten sich, wie lange das Werk fortgesetzt werden könne. In dieser Situation wurden die Versammlungen kurzfristig zu einem Kongreß nach Berlin eingeladen, der am 25. Juni stattfinden sollte. Da zu erwarten war, daß viele den Kongreß wegen der verschiedenen Verbote nicht besuchen könnten, wurden die Versammlungen ermuntert, mindestens einen oder einige Delegierte zu senden. Aber wie sich herausstellte, konnten immerhin 7000 Brüder kommen. Viele von ihnen waren drei Tage unterwegs, einige fuhren die ganze Strecke mit dem Fahrrad und wieder andere mit Lastwagen, da sich die Busunternehmen weigerten, Busse an eine verbotene Organisation zu vermieten.

Bruder Rutherford, der zusammen mit Bruder Knorr erst ein paar Tage zuvor in Deutschland eingetroffen war, um zu sehen, was getan werden könnte, um das Eigentum der Gesellschaft sicherzustellen, hatte mit Bruder Balzereit eine Erklärung vorbereitet, die den Kongreßdelegierten zur Annahme vorgelegt werden sollte. Es handelte sich dabei um einen Protest gegen die Einmischung der Hitlerregierung in das Predigtwerk. Alle hohen Regierungsbeamten, vom Reichspräsidenten abwärts, sollten ein Exemplar der Erklärung erhalten, und zwar möglichst per Einschreiben. Einige Tage vor dem Kongreß kehrte Bruder Rutherford nach Amerika zurück.

Viele Anwesende waren von der Erklärung" enttäuscht, da sie in vielen Punkten nicht so offen war, wie die Brüder es erhoffte hatten. Bruder Mütze aus Dresden, der bis dahin eng mit Bruder Balzereit zusammengearbeitet hatte, beschuldigte ihn später, den ursprünglichen Text abgeschwächt zu haben. Es war nicht das erste mal, daß Bruder Balzereit die offene und unmißverständliche Sprache, die in den Veröffentlichungen der Gesellschaft gesprochen wurde, verwässert hatte, um Schwierigkeiten mit den Regierungsorganen zu vermeiden.

Eine große Anzahl Brüder weigerte sich aus diesem Grund, die Resolution anzunehmen. Ja, ein früherer Pilgerbruder namens Kipper weigerte sich, sie zur Annahme vorzulegen, so daß ein anderer diese Aufgabe übernehmen mußte. Es konnte nicht mit Recht gesagt werden, die Erklärung sei einstimmig angenommen worden, obwohl Bruder Balzereit später Bruder Rutherford mitteilte, daß dies der Fall gewesen sei.

Die Kongreßteilnehmer kehrten müde und zum Teil enttäuscht nach Hause zurück. Sie nahmen jedoch 2 100 000 Exemplare der Erklärung" mit nach Hause, die schnell verteilt und auch an zahlreiche verantwortliche Persönlichkeiten versandt werden sollten. Das für Hitler vorgesehen Exemplar enthielt ein Begleitschreiben, in dem es unter anderem hieß:

Das Brooklyner Präsidium der Watch-Tower-Gesellschaft ist und war seit jeher in hervorragendem Maße deutschfreundlich. Aus diesem Grunde wurde im Jahre 1918 der Präsident der Gesellschaft und die sieben Glieder des Direktoriums in Amerika zu 80 Jahren Zuchthaus verurteilt, weil der Präsident sich weigerte, zwei von ihm in Amerika geleitete Zeitschriften zur Kriegspropaganda gegen Deutschland zu gebrauchen."

Obwohl die Erklärung abgeschwächt worden war und viele Brüder ihre Annahme nicht ganzherzig unterstützt hatten, war die Regierung empört und leitete eine Welle der Verfolgung gegen diejenigen ein, die sie verbreitet hatten.(16)

Jetzt entsteht die Frage, inwieweit dieser Bericht Bestand haben kann?

Zuerst wird in der Tradition des Buches Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben weiterhin fälschlich behauptet, bei dem Berliner Kongreß 1933 seien 7000 Personen anwesend gewesen. Die Erklärung" besteht klar darauf, daß es nur 5000 Delegierte waren. Aber das ist eher belanglos.

Viel wichtiger ist, daß das Jahrbuch 1974 unterstellt - offensichtlich nur auf den unbegründeten Glauben eines Bruders Mütze aus Dresden gestützt - daß Paul Balzereit derjenige war, der die Erklärung abschwächte.

Balzereit ließ vielleicht als Verantwortlicher die Erklärung ins Deutsche übersetzen, und vielleicht war er auch für das Aufsetzen des Briefes an Hitler verantwortlich. Doch es gibt eindeutige Hinweise, daß er den Wortlaut der Erklärung nicht beeinflußte.

Erstens: Die Watch Tower Society veröffentlichte die englische Version der Erklärung - die praktisch identisch mit der deutschen ist - als offizielles Statement an Hitler, die Reichsregierung und hohe und einfache Beamte im Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1934; das hätte sie nie ohne die volle Biligung Rutherfords getan.

Zweitens: Die englische Version der Erklärung ist eindeutig in dem bombastischen Stil von Richter Rutherford geschrieben.

Drittens: Die Statements in der Erklärung, die gegen die Juden gerichtet sind, sind eher in Übereinstimmung mit dem, was ein Amerikaner wie Rutherford geschrieben hätte statt ein Deutscher. Wie hätte Balzereit beispielsweise das sogenannte Sprichwort bezüglich New Yorks kennen können, das lautet: "Den Juden gehört die Stadt, die irischen Katholiken beherrschen sie, und die Amerikaner müssen zahlen."?

Viertens: Rutherford hatte sich vergeblich ähnlicher Kompromißversuche in den Vereinigten Staaten 1918 schuldig gemacht, um einer Haftstrafe zu entgehen.

Und schließlich: Er war in höchstem Maße ein Autokrat, der sich die schwerwiegende Art von Widersetzlichkeit, der sich Balzereit mit einer "Abschwächung" der Erklärung schuldig gemacht habe, nicht hätte gefallen lassen.

Man muß zwar einräumen, daß es sich dabei um keinen direkten, sondern einen, wenn auch starken, Indizienbeweis handelt, doch das macht auf lange Sicht wenig aus. Wer auch immer die Erklärung verfaßte, Tatsache ist, daß sie als offizielles Dokument der Wachtturm-Gesellschaft herausgegeben wurde.

Damit war die amerikanische Führung der Gesellschaft direkt - insbesondere Richter J. F. Rutherford - für den unverblümten Antisemitismus und die Bereitschaft verantwortlich, den laut herausposaunten Grundsatz der christlichen "Neutralität" zur Disposition zu stellen, um weiterhin in Deutschland predigen und Schriften herausgeben zu können.

Und das heißt: Die Führung der Zeugen Jehovas war wie die Führung fast jeder anderen Kirche oder Sekte im Dritten Reich unter den damaligen Umständen willens, ihre geheiligsten Werte zu verraten.

Aber das ist noch nicht alles.

Die WTG macht sich einer ständigen Vertuschung ihrer Vergangenheit in Bezug auf diese Dinge schuldig. Die Gesellschaft rühmt sich zwar der Tapferkeit der deutschen Zeugen Jehovas in ihrer Weigerung, sich den Diktaten des Nationalsozialismus zu unterwerfen, doch sie versucht auch weiterhin zu verbergen, daß ihre Führung 1933 versuchte, mit den Nazis einen Kompromiß zu schließen. Der Wachtturm vom 1. Oktober 1984 zitierte wohl aus Christine Kings Buch The Nazi State and the New Religions, doch die Herausgeber nahmen nicht zur Kenntnis, was Dr. King über die Erklärung" der Gesellschaft von 1933 geschrieben hatte.

Beispielsweise macht sie in einer knappen Beurteilung des Dokuments eine aus Zeugensicht ziemlich vernichtende Bemerkung. Sie schreibt:

Das Dokument ist in seiner Art ein Meisterwerk und könnte so auch aus der Feder der vier anderen Sekten stammen [der Christlichen Wissenschaft, der Mormonen, der Siebten-Tags-Adventisten und der Mitglieder der Neuapostolischen Kirche], die alle auf die eine oder andere Art den Nazistaat unterstützten.(17)

In einem anderen Absatz merkt sie an:

Nach ihrem Versuch, den Behörden durch ihre "Erklärung" zu versichern, sie seien gute Staatsbürger, und nachdem sie ihre Lehren gewissermaßen dargelegt und erklärt hatten, was bei den Sorgen des Regimes die Furcht mildern und Kompromißbereitschaft zeigen sollte, schienen die Zeugen wenig weitere Schikanen erwartet zu haben. Hatte die Erklärung denn zusammen mit den Nazis nicht den Völkerbund verurteilt, hatte sie denn nicht gesagt, der Nationalsozialismus widerstehe dem Unrecht, unter dem die Deutschen seit 1919 litten und hatte sie nicht mit einem persönlichen Appell an den Führer geendet?(18)

Es ist also kaum möglich, daß die heutige Führung der Gesellschaft die Erklärung mit ihrem kompromittierenden antisemitischen Charakter nicht kennen kann.

Doch trotz dieser Aussagen von Dr. King verurteilte Erwachet! vom 8. Juni 1985 (Seite 10) die katholische und evangelische Geistlichkeit, weil sie die Nazis unterstützt hatten, und verkündete:

In Deutschland gab es jedoch eine Gruppe, die mutig christliche Grundsätze hochhielt. Bei dieser Gruppe handelte es sich um Jehovas Zeugen. Anders als die Geistlichkeit und deren Anhänger weigerten sie sich, mit Hitler und den Nationalsozialisten Kompromisse einzugehen. Sie lehnten es ab, Gottes Gesetze zu übertreten. Sie waren nicht bereit, ihre christliche Neutralität in politischen Angelegenheiten zu verletzen. (Siehe Jesaja 2:2-4; Johannes 17:16; Jakobus 4:4.) Sie schrieben Hitler kein Heil zu wie die überwiegende Mehrheit der Geistlichen und ihrer Schutzbefohlenen.

Neuere Ausgaben von Erwachet! und Wachtturm haben denselben Kurs eingeschlagen.

Erwachet! publizierte mehrere Artikel über den Holocaust in der Ausgabe vom 8. April 1989, in der mit Recht argumentiert wurde, unter der Vernichtungspolitik der Nazis seien auch andere als Juden gestorben. Über die Verfolgung der Zeugen Jehovas von 1933 bis zum Zusammenbruch des Dritten Reiches im Jahre 1945 heißt es in einem der Artikel, "Der Holocaust - Opfer oder Märtyrer?", auf Seite 12:

Sie kamen aus den verschiedensten Nationen, doch man betrachtete sie fälschlicherweise als eine Gefahr für das NS-Regime in Deutschland, weil sie für die christliche Neutralität einstanden und es ablehnten, in die Kriegsbemühungen irgendeiner Nation mit einbezogen zu werden. Hitler nannte sie eine "Brut", die es auszurotten gelte.

Bezeichnenderweise wird auch in diesem Artikel Christine King angeführt, aber es wird weder die "Erklärung" noch der Brief der Gesellschaft aus dem Jahre 1933 genannt.

Dann, während der Veröffentlichung des Erwachet!-Artikels vom 8. April 1989 und kurz danach, erschien in den Wachtturm-Ausgaben vom 1. und 15. April sowie vom 1. und 15. Mai 1989 eine Serie über das Thema "Babylon die Große". Die Artikel nahmen Bezug auf die "Hure" aus Offenbarung, Kapitel 17, und identifizierten sie als das Weltreich der falschen Religion, das mit den Königen der Erde "Hurerei" begangen hat. Dementsprechend tadelte der Wachtturm in schroffstem Ton sowohl den Katholizismus wie den Protestantismus - beide werden als Babylon der Großen zugehörig betrachtet -, weil sie in den vergangenen Jahrhunderten zahlreiche europäische Regierungen unterstützt hätten, und besonders, weil sie während des Zweiten Weltkrieges mit dem Nationalsozialismus im Bunde gestanden hätten. Aber der anonyme Schreiber gibt in den Artikeln auch nicht ein einziges Mal zu, daß die WTG-Führer aus Sicht ihrer eigenen Lehren ebenfalls bereit waren, mit den Herrschern des Dritten Reiches "Hurerei" zu begehen, wenn die Nazis sie nur in ihr Bett gelassen hätten.

Schwerwiegender jedoch ist, daß die WTG-Sprecher kategorisch dementierten, als sie mit den Fakten in bezug auf die 1933er "Erklärung" konfrontiert wurden. 1985, als ich in meinem Buch Apocalypse Delayed(19) eine kurze Zusammenfassung des Wesens der Erklärung brachte, griffen mich WTG-Funktionäre mit den schlimmsten Ausdrücken an und nannten mich praktisch einen Lügner. Der Public Relations-Funktionär der WTG für Kanada, Walter Graham, behauptete, die Erklärung sollte "weder Hitler beschwichtigen noch sei sie antisemitisch." Über mich sagte er:

Penton verfolgt eigennützige Zwecke. Er versucht ständig, Jehovas Zeugen zu diskreditieren, seit er aus der Gesellschaft ausgestoßen ist.

Doch merkwürdigerweise gab er zu, er habe mein Beweismaterial nie gelesen. Er sagte: "Es liegt nicht in unserem Interesse, das zu lesen. Es interessiert uns nicht, was James Penton tut, schreibt oder denkt, weil er sich erwählt hat, keiner von uns zu sein."(20) In ähnlicher Diktion weigerte sich Eugene Rosam, ein höherer WTG-Funktionär jüdischer Herkunft, Apocalypse Delayed zu kommentieren. Wir haben zu dieser Veröffentlichung nichts zu sagen", meinte Rosam. Jeder kann ein Buch schreiben und es verlegen lassen. Es überrascht uns nur, daß einige Leute es so ansehen, als sei es ein Evangelium."(21)

Es überrascht nicht, daß die ZJ-Führer nur widerstrebend und nicht unbedingt mehr als nötig über die "Erklärung", den Brief der WTG an Hitler oder den Kongreß in Berlin im Juni 1933 sprechen wollen. Schließlich ist keine Religionsgemeinschaft begierig danach, die Sünden der Vergangenheit weit und breit herauzurufen. Doch die Vertuschung rund um das Wesen dieser Dinge ist heuchlerisch, insbesondere da die WTG so unbarmherzig mit anderen Religionen wegen ihrer Kollaboration mit dem Nazismus umgehen. Dennoch besteht für die WTG keine andere Möglichkeit, als weiter zu versuchen, die Dinge zu vertuschen. Jehovas Zeugen behaupten, die Körperschaft, die sie seit 1919 führt, bestehe bis heute aus 'gesalbten Nachfolgern Jesu'; sie wird als der 'Überrest ihres [des himmlischen Königreiches] Samens' bezeichnet, der den 'Geboten Gottes gehorcht und das Werk des Zeugnisgebens für Jesus innehat.'(22)

Es widerspräche diesem Anspruch, zuzugeben, man hätte mit einem Regime wie dem von Hitler nach Kompromissen gesucht. Auf der Grundlage der eigenen Lehren würden sie nur zu einem weiteren Teil von Babylon der Großen werden! Um nun eindeutig zu zeigen, daß die vorliegenden Ausführungen historisch genau sind und daß die grundlegenden Fakten unwiderlegbar sind, werden auf den nachfolgenden Seiten die genannten Dokumente wiedergegeben.