Sehr geehrter Herr Wrobel,
nun endlich komme ich dazu, meine Kritik am bisherigen Umgang der Wachturm-Gesellschaft mit dem Kongreß am 25. Juni 1933 in Berlin und der dort verabschiedeten “Erklärung” zu formulieren.
Sie merken, Herr Wrobel, meine Vorwürfe richten sich weniger auf den Kongreß und die “Erklärung” selbst, sondern vor allem darauf, wie die Wachtturm-Gesellschaft/der “treue und verständige Sklave” das Geschehen bis heute dargestellt hat.
Um es noch einmal zu betonen: Durch diese Kritik soll nicht das mindeste von der Hochachtung weggenommen werden, die den verfolgten Zeugen Jehovas für ihr Verhalten in der Nazi-Zeit gebührt - und ich weiß, daß zu den Betroffenen auch Mitglieder Ihrer Familie gehörten.
Die Darstellung der Ereignisse im Jahre 1933 durch die Führung Ihrer Religionsgemeinschaft während der letzten 60 Jahre zeigt jedoch, daß Ihre Organisation dann bereit ist, die Unwahrheit zu sagen, wenn sie meint, die Wahrheit schade ihr.
Überhaupt sind apologetische Darstellungen der eigenen Geschichte typisch für die Wachtturm-Gesellschaft. Die Behandlung des Themas “Kongreß 1933” ist dafür nur ein besonders aussagekräftiges Beispiel neben anderen.
Mein Vorwurf, den ich im folgenden belegen möchte, lautet so: Die Wachtturm-Gesellschaft/der “treue und verständige Sklave” hat noch nie die ganze Wahrheit über die Geschehnisse um den Kongreß 1933 gesagt. Sie/er hat im Gegenteil mehrfach ein völlig unwahres Bild vermittelt und damit nicht zuletzt die eigenen Glaubensbrüder und -schwestern in die Irre geführt.
Dies wiegt um so schwerer, als die Wachtturm-Gesellschaft - welche Publikation man auch immer aufschlägt - stets in aufdringlicher Weise des Selbstlobes voll ist und behauptet “in der Wahrheit” zu sein, ja letztlich als Vertreterin des Willens Gottes auf Erden zu handeln.
Zur Sache: Zunächst ist es wichtig, die “Wilmersdorfer Erklärung” im historischen Kontext zu charakterisieren. Ohne die verdienstvolle, mit großem Respekt gegenüber den verfolgten Bibelforschern geschriebene Dissertation von Detlef Garbe (Detlef Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, Die Zeugen Jehovas im “Dritten Reich”, München 1993) über die Zeugen Jehovas im “Dritten Reich” damals gekannt zu haben, habe ich schon vor Jahren die Erklärung ganz ähnlich bewertet wie er. (Ich finde es übrigens nicht anständig von Ihrer Organisation, wenn sie jetzt, etwa in “Erwachet” vom 22.8.1995, die Forschungsarbeit des Historikers und Theologen Garbe für ihre Zwecke nutzt. Garbes wiederholte Bitte, ihm bei der Suche nach Quellen für seine Arbeit zu helfen, war der Wachtturm-Gesellschaft in Selters lange Zeit nicht einmal eine Antwort wert. Garbe jetzt, da Ihnen seine Forschungsergebnisse teilweise “in den Kram passen”, zu zitieren, wäre nur statthaft, wenn sich Ihre Organisation gleichzeitig bei ihm entschuldigen würde. Vgl. Garbe, a.a.O., S.37, Anm. 111) Für mich war die “Erklärung” in erster Linie ein Versuch der Rechtfertigung vor den NS-Machthabern, der zum Teil anbiedernde Züge trägt und auf Kritik an der nationalsozialistischen Regierung nicht nur weitgehend verzichtet, sondern sogar den (vermeintlichen) Gleichklang bestimmter Ziele betont. Für Garbe steht sie dafür, daß der “in den zurückliegenden Monaten eingeschlagene Kurs der Loyalitätsbekundungen (...) nunmehr auch offensiv gegenüber der eigenen Anhängerschaft vertreten” wurde. (Garbe, a.a.O., S.99)
Für diesen “Kurs der Loyalitätsbekundungen” gab es verständliche Gründe. Schon in den 20er Jahren mußten sich die deutschen Bibelforscher Vorwürfen völkisch-nationaler und teilweise auch kirchlicher Kreise erwehren, sie stünden im Bunde mit Freimaurern, Juden und Marxisten und verhöhnten Staat und Kirche. (vgl. Garbe, a.a.O., S.61ff) Gestützt auf diese Vorwürfe gingen nach der nationalsozialistischen Machtübernahme deutsche Behörden auch mit Zwangsmaßnahmen gegen die “Internationale Bibelforschervereinigung” (IBV) vor. (vgl. Garbe, a.a.O., S.83ff.)
Seit April 1933 untersagten immer mehr deutsche Länderregierungen die öffentliche Tätigkeit der IBV. Am 24. April 1933 besetzten Polizeikräfte die Zentrale der deutschen Bibelforscher in Magdeburg und beschlagnahmten das Eigentum der IBV; erst nach Intervention des amerikanischen Generalkonsuls wurde es wieder freigegeben. Unmittelbar vor dem Berliner Kongreß verbot auch das größte und wichtigste deutsche Land, Preußen, die IBV, und unmittelbar danach wurde das Magdeburger Büro erneut beschlagnahmt.
In dieser Situation, in der die Existenz des Werkes auf dem Spiel stand, schlug die Leitung des deutschen Zweiges (sicher nicht nur Herr Balzereit, der Ihrer Organisation später als “Buhmann” diente) einen Kurs der “Anpassung der Vereinigung an die nationalen Verhältnisse in Deutschland” ein - so eine Formulierung der Zeugen Jehovas selbst. (Vgl. Garbe, a.a.O., S.84, auch Anm. 4) Dieser Kurs stieß bis Ende des Jahres 1933 offenbar auch nicht auf eindeutigen Widerstand der Zentrale der Zeugen Jehovas in Brooklyn. (vgl. Garbe, a.a.O., S.115) Dazu gehörte, daß man sich nicht nur bemühte, unberechtigte Vorwürfe zu entkräften, sondern offensiv versuchte, den neuen Machthabern zu gefallen.
Hier einige Beispiele für diesen Anpassungskurs: Schon vor den Verboten in den deutschen Ländern ersetzte die deutsche Leitung die Körperschaft “Internationale Bibelforschervereinigung (deutscher Zweig)” durch die beiden neuen Rechtspersonen “Norddeutsche Bibelforschervereinigung” und “Süddeutsche Bibelforschervereinigung”, offenbar um den in Nazi-Deutschland mißliebig gewordenen Begriff “international” zu tilgen. (vgl. Garbe, a.a.O., S.84)
Einem Schreiben an Hitler vom 26. April 1933 fügte die Führung der deutschen Zeugen ein “Memorandum” bei, für dessen Inhalt Garbe “deutliche Zugeständnisse an den Zeitgeist” konstatiert. (Vgl. Garbe, a.a.O., S.88f., auch S.88, Anm. 22 u. 23) Diese Zugeständnisse gingen so weit, daß Ihre Organisation in diesem Memorandum Maßnahmen der Hitler-Regierung gegen “Atheisten und Freidenkertum” ausdrücklich begrüßte, also die Verfolgung anderer der NS-Ideologie widersprechender Gruppierungen gut hieß.
Ins Bild paßt ebenfalls, daß Ihre Organisation im “Goldenen Zeitalter” vom 15. Mai 1933 die Parteizugehörigkeiten ihrer Rechtsbeistände besonders hervorhob, und die lauteten DNVP und NSDAP. Zeugen-Anwalt Karl Kohl hatte 1924 Hitler im Putsch-Prozeß verteidigt und sich später als Verteidiger auch anderer Nazis einen Namen gemacht. Mehr noch: In der genannten Publikation versicherte man der inzwischen nationalsozialistisch gewendeten deutschen Öffentlichkeit, man werde weiterhin alles tun, um die “Greuelpropaganda” über die Zustände in Deutschland zurückzuweisen. (Vgl. Garbe, a.a.O., S.90, S.103. Die Weigerung “an der Greuelpropaganda gegen Deutschland teilzunehmen”, welche von “Geschäftsjuden und Katholiken” betrieben werde, wird übrigens auch im Begleitbrief der “Erklärung” betont; zweite Briefseite, veröffentlicht in Günter Pape, Die Wahrheit über die Zeugen Jehovas, Rottweil 1970, S. 138) Sie wissen, Herr Wrobel, mit dem Begriff “Greuelpropaganda” versuchte die Nazi-Regierung die im Ausland laut gewordene Kritik am demokratiefeindlichen, menschenrechtsverletzenden Handeln des Regimes zu diskreditieren. Das “Goldene Zeitalter” gebraucht den Begriff in gleichem Sinn. Später, Herr Wrobel, konnten im KZ gequälte Zeugen Jehovas allerdings nur hoffen, daß dieser “Greuelpropaganda” im Ausland geglaubt wurde!!
Der Kongreß in der Wilmersdorfer Sporthalle am 25. Juni 1933 und die dort (einstimmig?) angenommene “Erklärung” sind der nun auch für die breite Öffentlichkeit sichtbare - die “Erklärung” wurde ja millionenfach im Volk verbreitet - Höhepunkt dieses sicher verständlichen Anpassungskurses. Wie die “Erklärung” meiner Ansicht nach summarisch zu charakterisieren ist, habe ich oben schon gesagt: Sie sollte unter der Überschrift Rechtfertigung vor dem Hitlerregime stehen. Wer gestützt auf sie behauptet, die Zeugen seien anfänglich Sympathiesanten des Nationalsozialismus gewesen, der hat entweder keine Ahnung oder er lügt ganz bewußt. Ganz bewußt lügt aber auch, wer den Kongreß in Berlin und die “Erklärung” zu einem “Protest gegen Hitler” verdreht - und Sie wissen, Herr Wrobel, daß die Führung Ihrer Religiongsgemeinschaft genau dies mehrfach getan hat!
Ich möchte jetzt meine (und es ist ja nicht nur meine) Einschätzung der “Erklärung” an ihrem Text belegen. Den Begleitbrief an Hitler lasse ich der Einfachheit wegen außer Betracht, da er in Inhalt und Duktus der “Erklärung” sehr ähnlich ist, etwa wenn darin versichert wird, daß “zur nationalen Regierung des deutschen Reiches keinerlei Gegensätze vorliegen”. (Vgl. Garbe, a.a.O., S.101, Anm. 75)
Offene Kritik an der Hitler-Regierung, an ihrer Ideologie und an ihren Handlungen, wird in der “Erklärung” nicht geübt. Deutlich kritisch gemünzt auf die neuen Machthaber scheinen nur folgende Sätze zu sein, ohne allerdings auch hier den Adressaten der Kritik namentlich zu nennen:
Jehova Gott hat deutlich seinen Zorn zum Ausdruck gebracht gegen alle, die seine Diener verfolgen. Dies beweist, daß, wer uns verfolgt, nicht Gott dient, sondern von dem Feinde Gottes und des Menschen dazu veranlaßt wird. (Jahrbuch 1934 der Zeugen Jehovas, hrsg. Wachtturm Bibel- & Traktat-Gesellschaft u. a., Bern 1934, S.97)
Recht deutlich formuliert ist in einem Satz auch der Anspruch auf Verkündigungsfreiheit:
“Unsere Organisation ist keinesfalls politisch; wir bestehen nur darauf, das Wort Jehova Gottes dem Volke zu lehren und dies ohne Behinderungen tun zu können.” (ebd, S. 93)
Und als Warnung an die Machthaber wird folgende Bibelstelle zitiert:
“... Und nun, ihr Könige, seid verständig; lasset euch zurechtweisen, ihr Richter der Erde! Dienet Jehova mit Furcht, und freuet euch mit Zittern! Küsset den Sohn, daß er nicht zürne, und ihr umkommet auf dem Wege, wenn nur ein wenig entbrennet sein Zorn ...” (ebd., S. 99)
Allerdings nimmt man auch dieser Warnung gleich im nächsten Satz wieder die Spitze, indem man erklärt, daß die politischen Führer wohl nur unwissentlich das Zeugniswerk bekämpften.(ebd.)
Überhaupt erscheint die Hitler-Regierung in der “Erklärung” so, als wolle sie eigentlich das Gute und werde nur durch böswillige irdische Werkzeuge Satans, namentlich “die politischen Geistlichen, Priester und Jesuiten”, dazu getrieben, die Bibelforscher zu verfolgen. (ebd., S. 97) Nirgends dagegen wird der (prinzipiell auch gegen die etablierten Kirchen gerichtete) Totalitätsanspruch der nationalsozialistischen Weltanschauung als ursächlicher Verfolgungsgrund genannt, nirgends findet sich ein Wort der Solidarität, des Mitgefühls gegenüber anderen Verfolgten des Nazi-Regimes, von denen einige ja zur Zeit der Veröffentlichung der “Erklärung” bereits in deutschen Gefängnissen saßen.
Statt dessen bemüht sich die (deutsche) Führung der Wachtturm-Gesellschaft in der “Erklärung” hauptsächlich darum, gegen sie erhobene Vorwürfe zu entkräften. Dabei belassen es die Autoren jedoch nicht bei einer Richtigstellung von falschen Anschuldigungen, sondern sie betonen darüber hinaus einen Gleichklang der Einschätzungen und Zielsetzungen von Bibelforschern und nationalsozialistischer Regierung auf verschiedenen Themenfeldern, nämlich Juden, Anglo-Amerika; Völkerbund, Einfluß der Geistlichen auf die Politik. Daß dies bis zur Übernahme von gängigen rechten Propagandaphrasen ging, läßt sich an dem mit “Juden” überschriebenen Abschnitt der “Erklärung” zeigen. (vgl. ebd., S.90ff.)
Den Vorwurf, die Bibelforscher würden von “den Juden” finanziell unterstützt, weist die “Erklärung” mit dem Argument zurück, “die Juden” leugneten im Gegensatz zu den Zeugen Jehovas, daß Jesus Christus der Heiland der Welt sei. (Jahrbuch 1934, a.a.O., S.91f.)
Einmal abgesehen von der Frage, wer “die Juden” überhaupt sein sollten (eine wie auch immer bestimmte rassische Gemeinschaft, Menschen jüdischen Glaubens, Zionisten oder längst in den verschiedenen nationalen Gesellschaften assimilierte Bürger), einmal abgesehen davon, was daran etwa schlimm gewesen wäre, auch von Juden unterstützt zu werden - man mag diesen Passus als gängige christlich-religiös motivierte Judenkritik hinnehmen.
Dann aber fährt die “Erklärung” wie folgt fort:
Das Anglo-Amerikanische Weltreich ist die größte und bedrückendste Herrschaft auf Erden. (...) Es sind die Handelsjuden des Britisch-Amerikanischen Weltreiches, die das Großgeschäft aufgebaut und benutzt haben als ein Mittel der Ausbeutung und der Bedrückung vieler Völker. Diese Tatsache bezieht sich insonderheit auf die Städte London und New York als Hauptstützpunkte des Großgeschäfts. Dies ist in Amerika so offenbar, daß es in Bezug auf die Stadt New York ein Sprichwort gibt, das heißt: ‘Den Juden gehört die Stadt, die irischen Katholiken beherrschen sie, und die Amerikaner müssen zahlen.’” (Jahrbuch 1934, a.a.O., S.92)
“Als Großbewegung der sozialen und politischen Ressentiments ging die NSDAP von Anbeginn davon aus, alle Mißgefühle ihrer Anhänger so weitgehend in das Bett eines radikalen Antisemitismus zu lenken, daß mit der Machtergreifung ein breiter Strom von Stimmungen und Aftertheorien in jene Staatsphilosophie des ‘Dritten Reiches’ münden konnte, die schließlich in jedem Dorf die Schaufenster des Stürmer verkündete: ‘Die Juden sind unser Unglück’”, schreibt Karl-Dietrich Bracher in dem Standardwerk “Stufen der Machtergreifung”. (in: Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34. Von Karl-Dietrich Bracher, Wolfgang Sauer und Gerhard Schulz. Frankfurt/M. 1983, S.379)
Ein wenig unappetitliche Brühe in diesen “Strom der Stimmungen” gegen Juden floß auch aus der “Erklärung”. Die “Handelsjuden”, die durch das “Großgeschäft” die Völker ausbeuten, ihre politisch-geographische Verortung im überhaupt zur Feindmacht erklärten Anglo-Amerika (dies besonders peinlich, weil es Regierungsvertreter der USA waren, die sich kurz zuvor für die bedrängten Zeugen Jehovas in Deutschland eingesetzt hatten) - Herr Wrobel, die Auslassungen der “Erklärung” zum Thema “Juden” hätten genauso in deutschnationalen oder nationalsozialistischen Postillen stehen können!
Detlef Garbe kommentiert diese antisemitische Polemik völlig richtig so:
Nunmehr zeigte sich, daß der Anpassungskurs das bisherige religiöse Selbstverständnis nicht unbeschädigt ließ, es vielmehr in seiner Substanz berührte: Wer sich mit derartigen Einlassungen in ein besseres Licht bei den Mächtigen der ‘alten Welt’ zu stellen beabsichtigte, hatte den selbst erklärten Standpunkt der ‘Neutralität’ weit hinter sich gelassen.” (Garbe, a.a.O., S.100)
Am Pranger stehen in der “Erklärung” nicht das nationalsozialistisch gewendete Deutschland, das zur Zeit der Veröffentlichung dieser Schrift bereits schon deutlich auf dem Weg zum totalitären Herrschaftssystem vorangekommen war, politische Gegner verhaftet, Menschen jüdischen Glaubens diskriminiert hatte - sondern angeklagt werden vergleichsweise demokratische und humane Rechtsstaaten wie Großbritannien und die USA, die man von ausbeuterischen “Geschäftsjuden” beherrscht sieht.
Um sich bei den nationalsozialistischen Machthabern in ein besseres Licht zu rücken, malt die “Erklärung” ein gegensätzliches Bild der Verhältnisse in Anglo-Amerika und im nationalsozialistisch dominierten Deutschland. Leidet in der anglo-amerikanischen Sphäre das Volk unter der “Mißwirtschaft des Großgeschäfts” und “gewissenloser Politiker”, unterstützt von “politischen Religionsvertretern” (vgl. Jahrbuch 1934, a.a.O., S.93), so konstatiert man für die Einflußsphäre der nationalsozialistischen deutschen Regierung bessere Aussichten:
Die nationale Regierung hat sich nun deutlich ausgesprochen gegen die Bedrückung durch das Großgeschäft und gegen verkehrte religiöse Einflüsse in die politischen Angelegenheiten des Staates. genau dies ist auch unsere Stellungnahme ... (ebd.)
Denn das “Großgeschäft” (aufgebaut von den “Geschäftsjuden”) und der “verkehrte politisch-religiöse Einfluß” (ausgeübt durch Geistliche, Jesuiten...) kämen vom Teufel. (ebd.)
Im Gegensatz zu diesen Gruppen sieht die “Erklärung” die nationalsozialistisch bestimmte deutsche Regierung nicht an der Seite Satans, sondern gemeinsam mit den Zeugen Jehovas eigentlich auf der Seite des Guten:
Eine sorgfältige Prüfung unserer Bücher und Schriften wird deutlich zeigen, daß die hohen Ideale, die sich die nationale Regierung zum Ziele gesetzt hat und die sie propagiert, auch in unseren Veröffentlichungen dargelegt, gutgeheißen und besonders hervorgehoben werden. (Jahrbuch 1934, a.a.O., S.95)
Auf die Verwirklichung “hoher Ideale” zielt also nach den Aussagen der “Erklärung” das Handeln der Hitler-Regierung, wenn auch unklar bleibt, ob man ihr diese ganz allgemein zuschreibt oder bezogen auf bestimmte Ziele, etwa der Abwehr des (jüdischen) Großgeschäfts. Auf jeden Fall verbindet die “Erklärung” das Wirken der Nazi-Regierung mit der Aussicht auf eine Verbesserung(!) der Verhältnisse gegenüber der Weimarer Zeit.
Unsere amerikanischen Brüder haben das Werk in Deutschland auch mit Geldmitteln fleißig unterstützt, und zwar zu einer Zeit, wo sich ganz Deutschland in großer Not befand. Nun, wo es scheint, daß Deutschland bald von Bedrückung befreit und das Volk in eine bessere Lage gebracht sein wird, bemüht sich Satan, der große Feind, diese gemeinnützige Unternehmen zu vernichten. (ebd.)
Deutschland leidet wirtschaftlich und politisch unter dem “Versailler Diktat”, wird ausgenutzt und unterdrückt, doch die Rettung naht von rechts - auf genau diese bekannte Propagandafigur der Rechten spielt die obenstehende Passage der “Erklärung” an. Bei der “gänzlichen Verwirklichung” solcher “hohen Ideale” muß sich deutsche Regierung allerdings Jehova Gott und Jesus Christus geschlagen geben:
Anstatt gegen die von der deutschen Regierung vertretenen Grundsätze eingestellt zu sein, treten wir vollkommen ein für diese Leitsätze und weisen darauf hin, daß Jehova durch Jesus Christus die gänzliche Verwirklichung dieser Grundsätze bringen, dem Volke Frieden und Wohlstand schenken und die höchsten Wünsche aller aufrichtigen Herzen erfüllen wird.” (ebd., S.94; zuvor heißt es schon in der “Erklärung”, die “gänzliche Errettung” vom “Großgeschäft” und “verkehrten politisch-religiösen Einflüssen” komme in Gottes Königreich, vgl. ebd., S. 93; vgl. auch S. 95, zweiter Absatz Mitte)
Man sollte es doch einmal ganz deutlich sagen: Diese Passagen der “Erklärung” sagen aus, Jehova Gott und die Hitler-Regierung hätten teilweise die gleichen Grundsätze und Ziele, wenn auch ihre vollständige Verwirklichung erst in Christi Königreich erreicht sein würden! Das ist doch Blasphemie erster Güte, Herr Wrobel.
Der Vollständigkeit wegen sei noch erwähnt, daß die “Erklärung” auch in ihrer Polemik gegen den Völkerbund (vgl. ebd.,S. 95f) bis in die Wortwahl sich unisono mit rechten Politikern und Publizisten jener Zeit ausläßt. Hitler konnte sich also auch in seiner Bewertung dieser Institution von der “Erklärung” bestätigt fühlen.
Herr Wrobel, ich habe nun wohl hinlänglich belegt, auf welch problematische Weise in der “Erklärung” der Versuch einer Rechtfertigung unternommen worden ist. Den neuen Machthabern wurde darin nach dem Munde geredet, Kritik an ihnen nur verhalten geübt, (vermeintliche) Gemeinsamkeiten dagegen deutlich herausgestrichen.
Das alles macht aus ihr keine Sympathieschrift für den Nationalsozialismus, aber sie steht unter dem Zeichen einer kritikwürdigen Rechtfertigung, keinesfalls unter dem des Protests! Daß sie so ausgefallen ist, dafür habe sicher nicht nur ich viel Verständnis angesichts der bedrohlichen Situation, in der die Bibelforscher in jener Zeit standen.
Hätte die Führung der Zeugen Jehovas/der “treue und verständige Sklave” sie später wahrheitsgemäß charakterisiert, ihre Entstehung im historischen Kontext glaubhaft erklärt - Ihre Organisation hätte sich wegen ihrer Ehrlichkeit viel Respekt erworben und stünde jetzt nicht vor der peinlichen Situation erklären zu müssen, warum sie bis heute mehrfach darüber ein völlig falsches Bild gezeichnet hat oder - um es deutlich zu sagen - warum sie in dieser Sache bis heute lügt.
Bevor ich diesen Vorwurf belegen werde, möchte ich Ihnen noch über meine Erfahrungen mit Zeugen Jehovas berichten, die ich in den vergangenen Jahren auf unser Thema angesprochen habe ; es waren zahlreiche Gespräche. Die Erfahrungen daraus sind bezeichnend: Sie werfen nicht nur ein Licht auf die “mentale” Befindlichkeit dieser Menschen, sondern reflektieren auch die bisherige Behandlung unseres Themas durch Ihre Organisation, Herr Wrobel.
Ich lasse einmal jene leider nicht kleine Zahl von Zeugen weg, die ihre Wahrheitsliebe und Christsein dadurch demonstrierten, daß sie beim kleinsten Wort der Kritik an der Wachtturm-Gesellschaft entweder in Schweigen verfielen oder wutschnaubend in die Luft gingen. Für die kann man nur hoffen: “Selig sind die geistig Armen” oder “Herr, schmeiß’ Hirn vom Himmel!”.
All diejenigen, die wenigstens einigermaßen gesprächsbereit waren, nicht nur immer selbst redeten, sondern auch mal anderen Menschen zuhören konnten, hatten eins gemeinsam: Nicht ein Zeuge Jehovas, den ich bisher (außerhalb von Selters) gesprochen habe, wußte, daß 1933 ein Kongreß in Deutschland stattfand, wußte, daß es die “Erklärung” gibt, geschweige denn wußte einer etwas über ihren Inhalt. Und zu meinen Gesprächspartnern gehörten auch ansonsten recht belesene Älteste und Sonderpioniere. Dagegen kannten die meisten auf Anhieb die (Protest)schreiben Rutherfords an Hitler aus dem Jahre 1934(!), und alle ließen sich wortreich über die Verfolgung der Zeugen aus.
Diese Unkenntnis ist verwunderlich, denn der Wilmersdorfer Kongreß und die dort verabschiedete und millionenfach verbreitete “Erklärung” waren die erste und einzige an die große Öffentlichkeit gerichtete Darstellung der Haltung der Zeugen Jehovas in Deutschland nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten! Eigentlich müßte sie jeder Zeuge Jehovas kennen. Warum, Herr Wrobel, ist die ganze Geschichte Ihren Mitbrüdern völlig unbekannt? Wie ist das denn zu erklären, wenn es richtig sein sollte, was Sie in Ihrem Schreiben vom September 1995 behaupten, nämlich daß die Wachtturm-Gesellschaft “keinesfalls Informationen ... in Verbindung mit diesem Kongreß zurückgehalten” habe? Warum, Herr Wrobel, weiß dann kaum einer Ihrer Mitbrüder und -schwestern davon?
Oft genug mußte ich mich, als ich die “Erklärung” erwähnte und aus ihr zitierte, von Mitgliedern Ihrer Religionsgemeinschaft, die ja stets ohne den Anflug von Zweifeln die Wahrheit für sich reklamieren, als “Lügner” beschimpfen lassen. Einige bezeichneten selbst Kopien des Textes aus dem Jahrbuch 1934 als “böswillige Fälschung”, und einer ließ sich nicht einmal nach Vorlage eines aus der Hamburger Staatsbibliothek besorgten Exemplars dieses Jahrbuchs (Sie wissen, Herr Wrobel: roter Einband) von seinen Fälschungsvorwürfen abbringen. Es sei ja für den Teufel ein Leichtes, Bücher zu manipulieren, um der Wachtturm-Gesellschaft zu schaden.
Gestatten Sie mir an dieser Stelle die Bemerkung, daß es nicht zuletzt der Geisteszustand vieler ihrer Anhänger ist, der gegen ein segensreiches Wirken Ihrer Religionsgemeinschaft spricht.
Jene Zeugen, deren geistiger Zustand es erlaubte, den vorgelegten Text der “Erklärung” für authentisch zu halten, reagierten zum großen Teil sehr bestürzt auf ihn, denn offenbar paßte er überhaupt nicht in das Bild, das ihnen stets über die Zeugen Jehovas im Dritten Reich vermittelt worden war. Zwar bemühten sie sich oft - und meist, da bar jeder Kenntnis, ziemlich hilflos - ihn irgendwie zu erklären. Über eines waren sich alle Ihrer nicht völlig verstockten Mitbrüder einig: Einen Protest gegen Hitler mochte keiner in dem Text sehen. Nicht einer Ihrer Mitbrüder, Herr Wrobel, fand es wahrheitsgemäß , ihn in irgendeiner Weise als Protest zu charakterisieren!
Welchen Eindruck von der Wilmersdorfer Veranstaltung aber hat Ihre Organisation den Lesern ihrer Publikationen vermittelt? Ist das Bemühen erkennbar, ein wahres, ungeschöntes Bild der Ereignisse zu zeichnen?
Daß die Antwort “nein” lautet, das wissen Sie, Herr Wrobel, da bin ich mir sicher!
Auf die Berliner Ereignisse wird einige Male in den Publikationen Ihrer Organisation eingegangen, stets wenig ausführlich. Das erste Mal nach dem Jahrbuch-Bericht von 1934 geschieht dies im “Wachtturm” 1955 auf den Seiten 589ff.. Im Teil 15 der Artikelserie “Neuzeitliche Geschichte der Zeugen Jehovas” heißt es einleitend, daß die Zeugen Jehovas damals durch die Ausbreitung des “katholischen Faschismus” in Bedrängnis geraten seien. Nebenbei gefragt: Was meint Ihre Organisation eigentlich mit solchen historischen Nonsens-Begriffen wie “katholischer Faschismus”? Unser Thema stellt man dann so dar:
“Inmitten dieser Unruhen beschloß Richter Rutherford, Deutschland zu besuchen, was er im Juni 1933 auch tat. Am 25. Juni 1933 besuchten 7000 Zeugen in Berlin eine besonders einberufene Versammlung und faßten einstimmig eine Resolution, betitelt ‘Erklärung’. Es war ein starker Protest gegen Hitler und seine Regierung wegen ihrer willkürlichen Eingriffe in das Zeugniswerk der Gesellschaft.” (ebd., S. 589 f.)
Herr Wrobel, wollen Sie im Ernst behaupten, in dieser Beschreibung drücke sich das aufrichtige Bemühen aus, bei den Lesern des Wachtturms - vor allem Ihren Mitbrüdern also - ein wahrheitsgemäßes Bild der Geschehnisse in Berlin entstehen zu lassen?! Mit Recht behaupten läßt sich das Gegenteil: Der Wilmersdorfer Kongreß soll als Protestveranstaltung gegen Hitler erscheinen und als nichts sonst. (Das Bild von der Protestveranstaltung soll offenbar noch dadurch verstärkt werden, daß in diesem Wachtturm-Artikel die zweite Besetzung des Zweigbüros am 28. Juni als “schnelle Vergeltungsmaßnahme” auf den Kongreß bezeichnet, also eine kausale Beziehung zwischen beiden Ereignissen hergestellt wird, die es so wohl gar nicht gegeben hat. Vgl. ebd., S. 590) Kein Wort darüber, daß dort - gerade auch nach den Maßstäben der Zeugen Jehovas - höchst Kritikwürdiges geschehen ist. Kein Wort darüber, daß Kongreß und “Erklärung” eben gerade nicht summarisch als Protest, schon gar nicht als starker, charakterisiert werden können, wie oben schon hinlänglich ausgeführt. Der Bericht in dieser Wachtturm-Ausgabe ist also nichts anderes als ein ziemlich dreister Versuch der Geschichtsfälschung. Ach ja, bevor ich es vergesse festzuhalten: Wie schon das Jahrbuch 1934, sagt er ausdrücklich, die “Erklärung” sei einstimmig angenommen worden - warum sollte ein “starker Protest gegen Hitler” auch zu Gegenstimmen Anlaß geben?
Die Verfälschung der historischen Wahrheit im Wachtturm 1955 war kein einmaliger “Fehltritt”, sondern nur das erste Glied einer Kette von Darstellungen, die den Wilmersdorfer Kongreß ausschließlich positiv beschreiben. Diese Kette reicht bis in die Gegenwart und wird nur einmal durch die konträren Ausführungen des Jahrbuchs 1974 unterbrochen.
Den Versuch, die Geschichte umzulügen, setzt Ihre Organisation fort in dem Buch “Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben”, in Deutschland 1960 erschienen. Dieses Buch ist übrigens auch sonst ein hervorragendes Beispiel für geschönte Geschichtsdarstellung. Zu unserem Thema sagt es folgendes:
Richter Rutherford hatte die Lage in Deutschland fortwährend genau beobachtet und war mit der Entwicklung, soweit sie das Zeugniswerk betraf, gut vertraut. Bei dieser ersten Wendung der Dinge (...) verlor er keine Zeit und begab sich in Begleitung von N. H. Knorr nach Deutschland, um zu sehen, was getan werden konnte. Am 25. Juni (...) wurde ein Kongreß in Berlin einberufen. Dort wurde den 7000 Anwesenden eine vorbereitete Erklärung der Tatsachen als Protest gegen die Hitler-Regierung wegen ihrer anmaßenden Einmischung in das Zeugniswerk der Gesellschaft vorgelegt, die einstimmig angenommen wurde.” (S. 130)
Wieder, Herr Wrobel, “Protest gegen die Hitler-Regierung”, nichts sonst, nicht die kleinste kritische Anmerkung, wieder aber die eindeutige Aussage, daß die “Erklärung” einstimmig angenommen worden sei. Und wieder erscheint Wilmersdorf in enger Beziehung zum Besuch der Herren Rutherford und Knorr in Deutschland, ja der vorstehende Text erweckt geradezu den Eindruck, jene seien, da ja vertraut mit der Situation in Deutschland, die Initiatoren des Kongresses in Berlin und der “Erklärung” gewesen. Mag ja sein - aber wer war noch mal Bruder Balzereit? Den hat man wohl vergessen zu erwähnen, wie dies zuvor schon die Autoren des “Wachtturms” taten, sicher ganz unabsichtlich, nicht wahr? Das Geschichtsbuch der Wachtturm-Gesellschaft vergißt allerdings nicht zu erwähnen, daß die “Protesterklärung” in 2,5 Millionen Exemplaren verbreitet worden sei, und es stellt auch wieder den Zusammenhang mit der zweiten Besetzung des Zweigbüros her, indem es diese als “schnelle Vergeltungsmaßnahme” wertet (ebd, S. 130f).
Und ich stelle wieder die Frage: Konnte bei den Lesern des Geschichtsberichts im “Vorhaben”-Buch ein wahres und vollständiges Bild der Geschehnisse um Wilmersdorf 1933 entstehen? Ist bei den Autoren der Watch Tower Society das Bestreben erkennbar, die Leser ehrlich und ungeschönt über alle wesentlichen Aspekte und Zusammenhänge des Themas zu informieren? Rhetorische Fragen, Herr Wrobel, denn die Antwort liegt für jeden Kundigen auf der Hand: Statt um die Wahrheit, geht es der Wachtturm-Gesellschaft hier darum, das Geschehen im Juni 1933 jenem von ihr selbst geprägten Erwartungsmuster anzugleichen, die Zeugen Jehovas hätten ohne Ausnahme entschieden, unzweideutig und kompromißlos gegen die Hitler-Regierung Stellung bezogen. Deshalb müssen Kongreß und “Erklärung” offenbar auf Teufel komm’ raus (Sie gestatten diese Redewendung, denn Jahwe steckt hinter solchem Treiben sicher nicht!) unter das Signum des Protests gestellt werden, so verkehrt das in diesem Fall auch ist.
Ich möchte jetzt einmal die Zeitzeugen ins Spiel bringen, jene also, die Ablauf und Umstände des Wilmersdorfer Kongresses persönlich miterlebt hatten. Viele von ihnen müssen zur Zeit der genannten Protest-Deutungen noch gelebt haben. Und eigentlich müßte es zumindest von einigen heftige kritische Reaktionen auf die Verfälschung der historischen Wahrheit in den oben zitierten Publikationen gegeben haben. Von Kongeßteilnehmern beispielsweise, die damals der “Erklärung” aus Gewissensgründen nicht zugestimmt hatten (oder gab es die gar nicht? - dann löge das Jahrbuch 1974) und die nun in diesen Schriften ihr Votum ins Gegenteil verkehrt sahen. Deshalb meine Frage an Sie, Herr Wrobel, mit der Bitte um eine Antwort: Gab es damals solche kritischen Stimmen von Zeitzeugen (zum Beispiel in Form von Leserbriefen), und wenn ja, warum wurden sie nie veröffentlicht?
Gewiß, die Wachtturm-Gesellschaft ließ zu diesem Thema Zeitzeugen zu Wort kommen. Keine “einfachen Verkündiger” allerdings, sondern zwei aus der Führungsetage: Erich Frost (Der Wachtturm, 1. Juli 1961, S. 409ff.) und Konrad Franke (Der Wachtturm, 1. Juni 1963, S. 340ff.); der erstgenannte Nachfolger Paul Balzereits als deutscher Zweigdiener, der andere von 1955 an rund zwei Jahrzehnte Leiter des deutschen Zweigbüros und Mitglied des erwählten Kreises der 144 000 an der Seite Christi, beide Verfolgte des Naziregimes.
Was brachte einen begabten Musiker wie Erich Frost dazu, statt ein ehrliches Spiel zu spielen, in das bekannte, unschöne Lied vom Protest einzustimmen, indem er zu unserem Thema folgendes zum Vortrage brachte:
Im Juni versammelten sich siebentausend Zeugen in Berlin und faßten eine Resolution, in der sie stark gegen die Gewaltmaßnahmen der Hitler-Regierung protestierten.” (Wachtturm 1961, S. 410)
“Sonst ist Ihnen an der Resolution nichts aufgefallen, Herr Frost”, möchte man fragen, “nicht die Töne gegen die ‘Geschäftsjuden’, nicht das Hohelied auf die ‘nationale Regierung’ wegen ihrer ‘hohen Ideale’, nicht ein falscher Ton? Falsch nachsingen ehrt nicht, Herr Frost!”
Erwärmen könnte man sich dagegen für den Augen- und Ohrenzeugen Konrad Franke, jedoch nur, wenn seine Ausführungen zum Thema so ironisch gemeint wären, wie sie klingen:
In demselben Jahr war es mein Vorrecht, an dem denkwürdigen Kongreß in Berlin teilzunehmen, wo einstimmig eine Erklärung angenommen und beschlossen wurde, sie an alle höheren Regierungsbeamten zu senden. Wieder nach Hause zurückgekehrt, sandte ich über 50 Briefe an Beamte unseres Gebietes.” (Wachtturm 1963, S. 341)
Mein Vorrecht ist es, auf das Denkwürdig-Bedenkliche solcher Lebenserinnerungen hinzuweisen: Die führenden Funktionäre der Wachtturm-Gesellschaft Frost und Franke geben nicht das wieder, was sie wirklich erlebt haben, sondern sie halten sich ganz offenkundig an die offizielle Linie der Wachtturm-Gesellschaft, die sie vielleicht selbst mit vorgezeichnet haben, egal wie weit diese von der Wahrheit entfernt verläuft. Deshalb hat der Kongreßteilnehmer Franke natürlich keine Gegenstimmen bei der Abstimmung über die “Erklärung” gesehen und berichtet überhaupt in begeistertem Ton von der Veranstaltung.
1976 erinnert sich Konrad Franke ganz anders an die Ereignisse in Berlin! Kein Wunder, denn zuvor war im Jahrbuch 1974 das Stück ganz neu inszeniert worden - dazu unten mehr. Franke äußert sich 1976 in einem Vortrag über die Geschichte der Zeugen Jehovas in Deutschland. Ich zitiere aus der englischen Übersetzung der Tonbandabschrift:
“...At the last moment, therefore, we were invited to a special assembly in Prussia, thus Berlin, [to be held] in the Tennis Hall, where a ‘Declaration’ was to be presented. Many were now unable to come [to the convention[, but I had the privilege of traveling with Brother Albert Wandres from Wiesbaden to Berlin on a motorcycle through torrential rain.That did not bother us too much, but we were shocked when we were arrived at the Tennis Hall the next morning and did not find the atmosphere which we ordinarily found at [Jehova’s Witnesses] conventions. When we entered, we find the hall with Swastika flags! But not only that: when the meeting started, it was preluded by a song which we had not sung for years, esspecially not in Germany, because of the melody. Thought the lyrics were fine, the melody - well, the musicians who are here will recognize that the notes were [taken from] the melody of ‘Deutschland, Deutschland über alles’!
Can you imagine how we felt? Many could not join in the singing, it was just it was just as though theit troats were throttled. What kind of leaders did we have who brought us [into] such dangers - and the danger of faltering under these circumstances - instead of helping and supporting us, so we could have a fearless stand. (...)
Now the Declaration, which Brother Rutherford had prepared, was approved, and every person was instructed to take 250 coupies home if he possibly could.” (zit. nach James Penton, A Story of Attemted Compromise: Jehova’s Witnesses, Anti-Semitism and the Third Reich, in: The Christian Quest 3 (1990) , N. 1, S. 33 - 45; genaue Seitenangabe des Zitats nicht möglich, da Text aus dem internet; vgl. auch Garbe, a.a.O., S. 99, bes. auch Anm. 66)
Frankes Wilmersdorfer Erzählungen 1963 und 1976 - man glaubt kaum, daß der Mann am 25. Juni 1933 in ein und derselben Tennishalle stand. Franke 1963 - da präsentiert sich ein freudiger Teilnehmer eines “denkwürdigen” (welche Doppeldeutigkeit Wörter manchmal annehmen können!) Kongresses, der ohne Zögern die “einstimmig” angenommene “Erklärung” in Umlauf bringt. Franke 1976 - da erinnert sich plötzlich einer an Hakenkreuzfahnen am Veranstaltungsort, an religiöse Liedtexte, die zur Melodie des “Deutschlandliedes” gesungen wurden, beschreibt seinen Gefühlszustand als “schockiert” und stellt das Handeln der damaligen Führung der Wachtturm-Gesellschaft (in Deutschland) in Frage. Und ich frage mich und Sie, Herr Wrobel: Wie ehrlich muß eigentlich einer sein, der sich an der Seite Jesu Christ im Himmel wähnt?!
Daß sich Konrad Franke 1976 so anders erinnert als 1963, erstaunt - ein taktisches Verhältnis zur Wahrheit unterstellt - nicht. Denn nach Garbe (a. a. O., S. 35f:) hat Franke selbst jener “Abteilung Geschichtsbericht” der Wachtturm-Gesellschaft vorgesessen, die die Darstellung der Ereignisse im Jahrbuch !974 (S. 110f:) erarbeitet hat. Und dort steht ja so ziemlich das Gegenteil von dem, was bis dahin zum Thema Berliner Kongreß von der Watch Tower Society veröffentlicht worden war. Das heißt schon rein logisch: Sagt das Jahrbuch 1974 die Wahrheit über den Kongreß, so sagen alle früheren Darstellungen des Themas die Unwahrheit und umgekehrt.
Kommen wir also zum Jahrbuch 1974. Brachte Ihre Glaubensgemeinschaft vor 1974 die Inszenierung “Wilmersdorf - ein starker Protest” zur (seltenen) Aufführung, so überrascht sie 1974 das Publikum mit einer Neudeutung des Stoffes, nennen wir sie “Böser Bruder Balzereit”. 41 Jahre nach dem Berliner Kongreß wird von Ihrer Organisation das erste und einzige(!) Mal eine kritische Sicht der Ereignisse publiziert.
War der Kongreß in den Publikationen der Wachtturm-Gesellschaft bis dahin stets als uneingeschränkt positive Protestveranstaltung verkauft worden, so kehren nun plötzlich im Jahrbuch 1974 “die Kongeßteilnehmer ... müde und zum Teil enttäuscht nach Hause zurück”. (S. 111; folgende Zitate ebenda) War die “Erklärung” nicht nur im Jahrbuch 1934, sondern auch in den Publikationen danach stets “einstimmig” angenommen worden, so entdeckt man im Jahrbuch 1974 plötzlich “viele Anwesende”, die “von der ‘Erklärung’ enttäuscht” gewesen seien und “eine große Anzahl Brüder”, die sich weigerte, “die Resolution anzunehmen”. Und die Autoren des Jahrbuchs entdecken plötzlich einen gewissen Bruder Balzereit und besetzen mit ihm die Rolle des Bösewichts. Zuvor war der Leiter des deutschen Zweigbüros am Anfang der Nazizeit niemals in Zusammenhang mit dem Berliner Kongreß auch nur genannt worden. Mit Balzereit taucht der Vorwurf auf, er habe “den ursprünglichen Text [der ‘Erklärung’] abgeschwächt” und “verwässert” - was immer “verwässern” angesichts des Gesamtcharakters der “Erklärung” auch bedeuten mag.
Bei der Neubewertung der Ereignisse im Jahrbuch 1974 verschweigt die Wachtturm-Gesellschaft allerdings völlig ihre früheren gegenteiligen Aussagen. Offenbar legen die selbsternannten Wahrheitshüter der Wachtturm-Gesellschaft wenig Wert darauf, den Lesern Anlaß zu der doch sehr naheliegenden Frage zu geben, warum - wenn das Jahrbuch 1974 Recht hat - der Berliner Kongreß dann in ihren früheren Publikationen stets in hellen Farben gemalt worden war. Herr Wrobel, mit welchem Recht verschweigt die Watch Tower Society ihren eigenen “Brüdern” ihre früheren gegenteiligen Aussagen über das Thema? Warum versucht sie nicht, ihr Zustandekommen zu erklären? Warum bittet sie nicht bei dieser Gelegenheit um Entschuldigung für ihre früheren Falschdarstellungen, und warum gibt es bis auf den heutigen Tag in der Öffentlichkeit kein klärendes Wort dazu?
Ich will jetzt die Glaubwürdigkeit der Aussagen im Jahrbuch 1974 bewerten. Der Text ist sicher insofern näher an der Wahrheit, als er den Wilmersdorfer Kongreß nicht mehr als “starken Protest gegen Hitler” feiert, sondern kritisch sieht. Dennoch bleiben begründete Zweifel, daß die Wachtturm-Gesellschaft im Jahrbuch 1974 die ganze Wahrheit sagt.
In Frage stellen muß man vor allem die Schuldzuweisung allein an Paul Balzereit. Als Beleg für den Vorwurf, Balzereit habe den ursprünglichen Text “abgeschwächt”, genügt es ja wohl nicht, 41 Jahre nach dem Ereignis ohne nähere Angaben einen “Bruder Mütze aus Dresden” zu zitieren.(Bei Bruder Mütze handelt es sich doch wohl um Dr. Alfred Mütze, Amtsgerichtsrat i.R. und seit März 1933 Schriftführer der “Norddeutschen Bibelforschervereinigung”, mithin mitverantwortlich für den Kurs der deutschen Zeugen im Jahre 1933; vgl. Garbe, a.a.O., S. 84f.) Sollte der ursprüngliche Text der “Erklärung” tatsächlich ein “starker Protest gegen Hitler” gewesen sein, dann müßte Balzereit ihn nicht nur “abgeschwächt”, sondern in seinem Grundcharakter verändert haben. Welchen Wortlaut, Herr Wrobel, hatte denn die mit Rutherford/Knorr abgesprochene Version im Unterschied zu der in Wilmersdorf verabschiedeten? Dokumentieren Sie, Herr Wrobel, da Ihre Organisation ja höchst ehrenrührige Vorwürfe gegen Balzereit erhebt, doch bitte die von ihm veranlassten Änderungen! Oder existiert vielleicht gar keine andere Fassung als die von Wilmersdorf?
Die nämlich zeigt gerade in einer ihrer peinlichsten Passagen nicht die Handschrift Balzereits, sondern klar die Rutherfords, bekannt für seine nicht gerade sehr feinfühlige Art. Sie kennen, Herr Wrobel, den Abschnitt über die “Handelsjuden” in Anglo-Amerika (Jahrbuch 1934, S. 92), die angeblich durch das “Großgeschäft” die Völker ausbeuten. Dieser Vorwurf wird durch ein “Sprichwort” illustriert, das in New York (!) kursieren soll. Ich brauche diese Sätze nicht zu wiederholen, bitte Sie jedoch um Ihre Zustimmung, wenn ich sage, daß durch ihre Aufnahme in den Text wohl kaum der ehemalige Kieler Werftarbeiter Paul Balzereit seine intime Kenntnis von antisemitischen Stimmungen in der Stadt des Hauptquartiers der Watch Tower Bible and Tract Society demonstrieren wollte. Diese Ressentiments kannte ja wohl eher der dort amtierende Präsident Rutherford, und es bedarf wenig Phantasie sich vorzustellen, wie er in der Vorbereitung der “Erklärung” gegen die New Yorker “Geschäftsjuden” vom Leder zog und dabei jenes Sprichwort von den reichen Juden und den armen zahlenden Amerikanern beisteuerte, das heute peinlich berührt.
Dennoch kann es natürlich so gewesen sein, daß die deutsche Führung der Zeugen Jehovas andere Passagen des ursprünglich mit Rutherford und Knorr vereinbarten Textes der “Erklärung” im Sinne eines regierungsfreundlicheren Tons verändert hat. Wie gesagt, Ihre Organisation ist dafür bisher jeden Beweis schuldig geblieben. Aber selbst wenn das so gewesen sein sollte, dann scheinen die Änderungen zumindest nicht schwerwiegend gewesen zu sein. Denn sonst wäre die “Erklärung” wohl kaum ohne jede kritische Anmerkung im Jahrbuch 1934 mit dem ausdrücklichen Hinweis auf ihre einstimmige Annahme veröffentlicht worden. Garbe schreibt kritisch zum Jahrbuch 1974, die Veröffentlichung “wäre wohl kaum geschehen (...), wenn Balzereit ihr tatsächlich einen anderen als den mit Rutherford abgestimmten Text zugrunde gelegt hätte. Diese Sicht der Geschichtsaufarbeitung ist geprägt von dem Interesse, die Verantwortung für den Kompromißkurs des Jahres 1933 allein Balzereit und anderen Mitgliedern der deutschen Leitung anzulasten.” (Garbe, a.a.O., S. 99, Anm. 67)
Ein Alleingang der deutschen Führung war der in der “Erklärung” so eindrucksvoll dokumentierte Kompromißkurs des Jahres 1933 ganz bestimmt nicht; sondern auch Rutherford und Co. marschierten mit. Vielleicht taten sie das zögerlicher als die direkt betroffene deutsche Leitung. Aber auch Brooklyn sprach im Jahre 1933 nicht jene “klare und unmißverständliche Sprache”, die das Jahrbuch 1974 (S. 111) aus durchsichtigen Gründen zu der “verwässerten” Balzereits in Kontrast setzt. (Vgl. zum folgenden auch Garbe, a.a.O., S. 102-130)
Nur ein Beispiel: Um die Verhandlungen mit den deutschen Behörden nicht zu gefährden, forderte Martin Christian Harbeck, der Leiter des Zentraleuropäischen Büros der Wachtturm-Gesellschaft, am 28. August 1933 im Namen der Watch Tower Bible and Tract Society “und speziell als Beauftragter des Präsidenten Richter Rutherford” die deutschen Ortsversammlungen auf, ihre Tätigkeit vorübergehend einzustellen und sich behördlichen Maßnahmen zu fügen: “Vor allen Dingen möchte ich Euch ersuchen, keine verbotenen Schriften zu verbreiten und ohne polizeiliche Bewilligung keinerlei Versammlungen oder Vorlesungen abzuhalten.” (Zit. nach Garbe, a. a. O., S. 107) Detlef Garbe kommentiert das so: “Dies bedeutete nicht weniger als die Anweisung der Leitung, die bisher als unabdingbar erklärte Missionsarbeit faktisch einzustellen.” (ebd.) Wohlgemerkt, diese für nicht wenige deutsche Zeugen befremdliche Anweisung kam nicht von Balzereit, sondern vom angeblich stets so kompromißlosen Rutherford!
Erst gegen Ende des Jahres 1933 gab die Brooklyner Führung der Zeugen Jehovas den Kurs der taktischen Zugeständnisse auf, weil er ihr offenbar erfolglos schien. Erst jetzt begann man in Brooklyn überhaupt erst jene “offene und unmißverständliche Sprache” zu sprechen, die laut Jahrbuch 1974 Balzereit bereits im Juni 1933 “verwässert” haben soll. Deutliches Zeichen dieses neuen, harten Kurses war das Schreiben Rutherfords an Hitler vom 9. Februar 1934 - dieses war in der Tat ein Protest gegen die Hitlerregierung. Erst jetzt entstand offenbar ein deutlicher Gegensatz zur deutschen Führung unter Balzereit, die den Verhandlungskurs weiterverfolgen wollte. (Vgl. Garbe, a.a.O., S. 116f.)
Allein steht das Jahrbuch 1974 auch mit seiner Behauptung da, “eine große Anzahl Brüder” habe sich geweigert, die Resolution anzunehmen. (S. 111) Zuvor war stets die Einstimmigkeit der Annahme betont worden, angefangen vom Jahrbuch 1934 bis zu Konrad Frankes Augenzeugenbericht im Wachtturm 1963. Sollte denn der Zeuge Franke die vielen Mitbrüder, die ihre Zustimmung angeblich verweigerten, tatsächlich in den Weiten der Wilmersdorfer Tennishallen übersehen haben? Mir ist keine einzige auf einem Kongreß vorgelegte Resolution der Zeugen Jehovas bekannt, die nicht einstimmig angenommen worden ist. Sollte dies bei der “Wilmersdorfer Erklärung” anders gewesen sein, so wäre dies ein höchst ungewöhnlicher Vorgang gewesen, der sehr großes Aufsehen erregt und sich nicht nur bei Franke nachhaltig eingeprägt hätte.
Warum also, Herr Wrobel, “entdeckt” die Wachtturm-Gesellschaft 41 Jahre nach dem Ereignis erstmals (und einmalig!) eine “große Anzahl” Verweigerer? Wenn das Jahrbuch 1974 recht haben sollte, warum hat Konrad Franke, warum hat Ihre Organisation insgesamt dann zuvor in der Frage der Einstimmigkeit mehrfach gelogen? Vielleicht deshalb, weil in diesen Berichten der Berliner Kongreß ausschließlich als Protestveranstaltung erscheinen sollte und in dieses Bild Gegenstimmen wohl kaum gepaßt hätten! Ich denke, so zieht die Hauptlüge andere Unwahrheiten nach sich.
Die Widersprüchlichkeit der Aussagen in der Frage der Einstimmigkeit läßt sich auch nicht dadurch auflösen, daß die Wachtturm-Gesellschaft im Jahrbuch 1974 - wie üblich ohne Belege - behauptet, Balzereit habe Rutherford in dieser Sache falsch unterrichtet. (S. 111) Angesichts der großen Wichtigkeit, die die Entwicklung in Deutschland hatte, angesichts der auch von Wachtturm-Gesellschaft stets betonten Aufmerksamkeit, mit der die amerikanische Zentrale die Vorgänge in Deutschland beobachtete, ist es nicht glaubhaft, daß sich die Führung unter Rutherford über die Vorgänge in Berlin allein auf einen Bericht Balzereits stützen mußte.
Aber selbst wenn es so gewesen sein sollte, daß die Behauptung der Einstimmigkeit durch Falschinformationen Balzereits ins Jahrbuch 1934 gelangte, dann hätten sich doch sicherlich gleich nach dessen Veröffentlichung zahlreiche Zustimmungs-Verweigerer bei der Brooklyner Zentrale melden und darauf dringen müssen, das falsche Bild rasch zu berichtigen. Dann wäre wohl kaum zu erklären, warum es weder im Jahrbuch 1935 noch später eine Korrektur gegeben hat, sondern erst im Jahrbuch 1974. Es müßte doch für die “große Anzahl Brüder”, die der “Erklärung” nicht zugestimmt haben sollen, schwer erträglich gewesen sein, daß sie in den Publikationen der Wachtturm-Gesellschaft immer wieder das Gegenteil lasen. Sie müßten doch ihren Widerspruch formuliert haben! Und wie konnte dann das Bild vom Protestkongreß überhaupt bis zum Jahrbuch 1974 bestehen bleiben? Die Falschdarstellungen davor hätten doch die angeblich zahlreichen “Verweigerer” geradezu seelisch plagen müssen, schließlich berührte das persönliche (Abstimmungs-)Verhalten beim Wilmersdorfer Kongreß die Frage ihrer Treue zu biblischen Grundsätzen, ihr Selbstverständnis als Zeugen Jehovas überhaupt. Noch mal deshalb die Frage: Hat die Wachtturm-Gesellschaft kritische Stellungnahmen ehemaliger Kongreßteilnehmer bewußt nicht publiziert, um die schöne Lügengeschichte vom Protestkongreß weiter erzählen zu können?
Was die Frage der Einstimmigkeit angeht, glaube ich, daß die “Erklärung” weder wirklich einstimmig angenommen wurde, noch daß eine “große Anzahl” Kongreßteilnehmer ihre Zustimmung verweigerte. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich in der Mitte. Zwar mögen viele Kongreßbesucher mit den Umständen und dem Ablauf des Kongresses unzufrieden gewesen sein, und besonders ist wohl der Rechtfertigungscharakter der “Erklärung” auf viel Widerwillen gestoßen - ich glaube aber nicht, daß mehr als einige wenige Teilnehmer daraus die Konsequenz zogen, die “Erklärung” öffentlich abzulehnen. (Vgl. dazu auch Garbe, a.a.O., S. 101) Zu groß war und ist bei Zeugen Jehovas die Akzeptanz gegenüber allem, was von “oben” kommt. Aber vielleicht wissen Sie ja, wie es wirklich war, Herr Wrobel. Sagen Sie es uns - auch einige Ihrer Mitbrüder aus Hamburger Versammlungen warten schon gespannt auf eine Antwort nicht nur auf diese Frage!
Eine wirklich ehrliche und ausführliche Darstellung der Ereignisse liefert also auch das Jahrbuch 1974 nicht. Vor allem ist es nicht gerade fein, einer einzelnen Person, die sich nicht mehr wehren kann, Paul Balzereit, die alleinige Schuld zuzuschieben, während die (Mit)Verantwortlichkeit der Führung in Amerika weder für den Inhalt der “Erklärung” noch für die späteren Falschdarstellungen des Kongresses angesprochen wird. Und schämen sollten sich die Verantwortlichen der Wachtturm-Gesellschaft auch dafür, daß der Text in diesem Jahrbuch bis heute der einzige kritische Blick auf 1933 geblieben und seither offenbar wieder bestrebt sind, zu vernebeln statt aufzuklären.
Nach dem Jahrbuch 1974 dauerte es fast zwanzig Jahre bis der Wilmerdorfer Kongreß in den Schriften der Wachtturm-Gesellschaft wieder erwähnt wurde, obwohl in der Zwischenzeit mehrfach das Thema Jehovas Zeugen und der Nationalsozialismus behandelt worden war. Sie selbst, Herr Wrobel, nennen in Ihrem Schreiben vom September 1995 das Buch “Jehovas Zeugen - Verkündiger des Königreiches Gottes” aus dem Jahre 1993, das dem “Vorhaben”-Buch von 1960 als offizielles “Geschichtsbuch” der Zeugen Jehovas nachfolgt. Mit diesem dickleibigen Werk kommen wir auch in jene Zeit, in der ich Sie persönlich für die Geschichtsdarstellung der Zeugen Jehovas in dieser Sache mitverantwortlich machen muß.
Das “Verkündiger”-Buch demonstriert vor allem die hochentwickelte Fähigkeit seiner Autoren, Wichtiges und Unwichtiges zu unterscheiden. Auf Seite 75 des über 700 Seiten starken Wälzers erfährt der Leser beispielsweise die unheimlich wichtige Geschichte von Mabel Haslett und ihren Krapfen. Anno 1919 buk Frau Haslett 100 solcher Teigteile - neueste Forschungen haben übrigens ergeben, daß es nur 98 waren, aber wir wollen ja nicht kleinlich sein - anläßlich der Entlassung von Rutherford und Co. aus dem Gefängnis. “Ich sehe noch vor mir, wie Bruder Rutherford zulangte”, läßt das “Verkündiger”-Buch später Mabel sagen. Nette Anekdote, sage ich, sorgt für den “human touch”, den das Bild vom herrischen Rutherford dringend nötig hat. Aber was sagt das detailreiche Buch zu Wilmersdorf?
Am 25.Juni 1933 nahmen Jehovas Zeugen auf einem Kongreß in Berlin eine Erklärung an, in der ihr Prediktdienst und ihre Ziele erläutert wurden. An alle Staatsmänner sandte man ein Exemplar, und Millionen weitere wurden öffentlich verteilt.” (S. 693)
Toll, Herr Wrobel, wirklich klasse die Eleganz, mit der der “treue und verständige Sklave” hier Aufklärungsarbeit leistet. Da wird nun wirklich nichts verschwiegen, was er nicht verschweigen will.
“Vereintes Handeln angesichts der NS-Unterdrückung” sind diese Sätze aus dem “Verkündiger”-Buch überschrieben und Sie, Herr Wrobel, nennen sie in Ihrem Schreiben “völlig korrekt”. Dazu fällt mir beim besten Willen nur noch wenig ein ... Denn so dumm sind Sie doch wohl nicht, daß ich Ihnen klarmachen müßte, daß man über ein historisches Ereignis auch dann die Unwahrheit sagen kann, wenn man an wichtiger Stelle nur zwei belanglose Sätze darüber verbreitet. Das nennt man dann “Geschichtsklitterung”. Und jetzt sagen Sie bitte nicht, daß eben nicht alles ausführlich behandelt werden kann, denn dann verweise ich nicht nur auf Mabels Gebäck, sondern auch darauf, daß das “Verkündiger”-Buch gleich auf der nächsten Seite Platz findet, “Eine mutige Erklärung an den nationalsozialistischen Staat” vom 7. Oktober 1934 im Wortlaut zu dokumentieren. Diese läßt sich in ihrer (etwas verspäteten) Entschlossenheit heute ja auch bequem vorzeigen.
Etwas weniger angenehm, dafür aber anständig wäre es gewesen, wenn sich Ihre Organisation dazu bequemt hätte, nach 60 Jahren des Zudeckens wenigstens Passagen auch der “Erklärung” wortwörtlich wieder ans Licht zu bringen. Zum Beispiel jene über die “Geschäftsjuden”. Das hätte zugleich den Zwang und die Chance hervorgebracht, dafür endlich um Entschuldigung zu bitten!
Und es hätte die Watch Tower Society wahrscheinlich vor jenem Höhepunkt im Verkehr mit der Unwahrheit bewahrt, den sie sich in “Erwachet!” vom 22. August 1995 auf Seite Sieben geleistet hat. In Zusammenhang mit dieser “Erwachet!”-Ausgabe muß ich auch nach Ihrer Rolle, Herr Wrobel, fragen. Denn im Vorwort (S. 2) wird gesagt, der Artikel gehe auf das zurück, was von Seiten Ihrer Organisation bei einer Veranstaltung im “Holocaust Memorial Museum” in Washington dargelegt worden sei. Ich erinnere mich an ein Telefongespräch mit Ihnen, in dem Sie mir sagten, Sie bereiteten einen Vortrag für jene Veranstaltung vor. Erinnere ich mich richtig, Herr Wrobel? Es täte mir leid für Sie, wenn der Schluß richtig wäre, daß das, was in dieser “Erwachet!”-Ausgabe zum Berliner Kongreß steht, auf Ihren Ausführungen fußt. Das mag ich nicht glauben.
“Der Holocaust - Wer erhob seine Stimme?” lautet das Titelthema. Unter “Holocaust” versteht man gemeinhin die systematische Vernichtung der europäischen Juden durch den nationalsozialistischen deutschen Staat. In den “Erwachet!”-Artikeln wird einmal mehr das entschiedene Eintreten der Zeugen Jehovas gegen die Nazi-Gewaltherrschaft beschrieben und auch ihr Bekanntmachen der nationalsozialistischen Verbrechen. Sieht man davon ab, daß damit eine in ihrer Einseitigkeit historisch falsche Abwertung der Kirchen einhergeht, trifft diese Bewertung im allgemeinen zu. Im Falle des Berliner Kongresses und der “Erklärung” (und mancher anderer Handlungen des Jahres 1933) stimmt sie allerdings nicht!
Das hindert die Watch Tower Society nicht daran, auch die Berliner Veranstaltung unter die Überschrift “Die Verbrechen der Nationalsozialisten aufgedeckt” zu stellen. Einen Kongreß, auf dem eine “Erklärung” verabschiedet wurde, die nicht mal Andeutungen über “Verbrechen” der Nationalsozialisten macht, sondern im Gegenteil mehrfach das positive Wirken der deutschen Regierung hervorhebt und ihr zu schmeicheln versucht. Eine “Erklärung”, die antisemitische Passagen enthält, erstrahlt ausgerechnet in einer “Erwachet!”-Ausgabe, in der es um den Holocaust geht, in ungetrübt hellem Licht! Besser läßt sich die eigene Schamlosigkeit kaum offenbaren. Natürlich zitiert “Erwachet!” nur einen einzigen unverfänglichen Satz der “Erklärung”:
Unsere Organisation ist keinesfalls politisch, wir bestehen nur darauf, das Wort Jehova Gottes dem Volke zu lehren und dies ohne Behinderung tun zu können.
Dieser Satz dient zwar dem heutigen Selbstdarstellungsinteresse Ihrer Organisation, Herr Wrobel, der Wahrheitsfindung dient er nicht. Seine Herkunft aus dem Text der millionenfach unters Volk gebrachten “Erklärung” verschweigt “Erwachet!” ihren Lesern völlig. Möchte man so vermeiden, daß bei diesem und jenem der Wunsch aufkommt, den ganzen Text nachzulesen? Verständlich wäre das, denn mit der Kenntnis des Gesamttextes würde selbst dem verschlafensten “Erwachet!”-Leser klar, daß das Zitat für ihn keinesfalls charakteristisch ist. Auch würde er erkennen, daß es nicht wahr ist, wenn “Erwachet!” in Zusammenhang mit dem Berliner Kongreß und der “Erklärung” von der “unverrückbar neutralen Haltung der Zeugen Jehovas” spricht und unter der Überschrift “Der Angriff beginnt” die zweite Beschlagnahme des Zweigbüros damit kausal zu verknüpfen versucht.
Um es ein letztes Mal zu sagen: Wahr ist, daß die Haltung der deutschen Zeugen im Jahr 1933 eben gerade nicht eindeutig neutral war, sondern daß in der auf dem Wilmersdorfer Kongeß zumindest mit großer Mehrheit angenommenen “Erklärung” ausdrücklich bestimmte Vorstellungen der nationalsozialistischen Regierung gutgeheißen wurden und daß mit dem Wirken der neuen Regierung unter Hitler die Erwartung einer Verbesserung der Lage in Deutschland verknüpft wurde, wenn dies auch nicht aus Überzeugung, sondern unter dem Druck der Verhältnisse geschehen sein mag. Die erneute Beschlagnahme des Zweigbüros am 28. Juni 1933 geschah also nicht wegen, sondern allenfalls trotz der “Erklärung” von Wilmersdorf.
Fazit: Nach dem kritischen Ansatz des Jahrbuchs 1974 fällt die Wachtturm-Gesellschaft in ihren jüngsten Äußerungen wieder in verlogene Schönfärberei zurück.
Herr Wrobel, ich bin am Ende der üblen Geschichte. Ich glaube, ich habe den Vorwurf belegt, den ich am Anfang dieses Textes gemacht habe. Klar geworden sollte sein, daß die Darstellungen der Wilmersdorfer Ereignisse durch Ihre Organisation die Attribute “selbstgerecht”, “geschönt”, “gelogen”, in keinem Fall aber “wahr” verdienen. Auch im Jahrbuch 1974 steht nicht die ganze Wahrheit, nicht nur weil die Schuld allein auf Paul Balzereit abgeladen wird. Klar geworden sollte auch sein, daß in dieser Sache nicht “einfach mal ein Fehler gemacht” worden sein kann, sondern daß hier über Jahrzehnte bewußt eine Strategie der Verschleierung betrieben worden sein muß. Anders sind gerade die jüngsten Äußerungen zum Thema nicht zu verstehen.
Und klar ist auch, daß der “treue und verständige Sklave” (nicht nur) dadurch seinen Anspruch verspielt hat, ein solcher zu sein. Wer so mit der Wahrheit umgeht, wie es die Wachtturm-Gesellschaft im Falle der “Erklärung” getan hat, dürfte sich eigentlich nicht “Zeuge Jehovas” nennen, wollte er sich nicht der Gotteslästerung schuldig machen. Denn Jahwe ist ja eigenen Angaben zufolge ein “Gott der Wahrheit” und nicht der Halbwahrheit oder noch kleinerer Teile vom Ganzen. Und er paßt die Wahrheit auch nicht opportunistisch den Erfordernissen der Zeit an.
In diesem Sinne zum Schluß noch ein “Schmankerl” aus dem Kuriositäten-Kabinett der Watch Tower Society. Als Fotokopie habe ich Ihnen einige Seiten aus zwei dritten Bänden von Russels “Schriftstudien” beigelegt. Es geht darin um das Datum der Wiederkehr Christi, das Russel aus verschiedenen Maßen der Cheops-Pyramide errechnete, was sicherlich in erheblichem Maße zu seinem Ruf als Theologe beigetragen hat.(Vgl. auch Verkündiger-Buch, S. 230; übrigens auch ein schönes Beispiel für halbwahre Darstellungen) Die eine Fotokopie stammt von einer “Schriftstudien”-Ausgabe aus dem Jahr 1913, die andere lichtet die entsprechende Passage aus einer Ausgabe des Jahres 1923 ab. Sie sollten, Herr Wrobel, die beiden Texte einmal aufmerksam vergleichen. Dann werden Sie feststellen, daß Ihre Organisation in ihrer unermüdlichen Suche nach der ihr gerade passenden Wahrheit sogar imstande ist, seit Jahrtausenden ruhende Steine zu versetzen. Man kann natürlich auch sagen, daß sie imstande ist, Texte des eigenen Gründers zu fälschen.
Was unser Thema angeht, Herr Wrobel, hoffe ich, Ihnen bei der “erschöpfenden Ausarbeitung” desselben ein wenig geholfen zu haben. Wahrscheinlich wissen Sie ja sehr viel mehr als Detlef Garbe oder ich darüber, denn Sie können ja ganz nah bei den Quellen schöpfen. Deshalb hoffen wir, daß Sie uns trotz der verständlichen Erschöpfung, die das Thema dank der Watch Tower Society verursacht, antworten mögen.
Ich sage deshalb “wir”, weil sich inzwischen ein kleiner Kreis geistig beweglicher Zeugen Jehovas (darunter ein “Ältester” einer Hamburger und einer Stuttgarter Versammlung) herausgebildet hat, der die Dringlichkeit einer Klärung erkannt und mich ermuntert hat, Ihnen zu schreiben. Gemeinsam meinen wir, daß es neben einer “privaten” Antwort Ihrerseits auch dringend einer öffentlichen Stellungnahme der Wachtturm-Gesellschaft zu diesem Thema bedarf. Hier wie dort sollte es darum gehen, nicht nur die Ereignisse des Jahres 1933 aufzuklären, sondern vor allem die Frage zu beantworten, warum der “treue und verständige Sklave” bis heute bestenfalls schönfärberische Darstellungen der Geschehnisse zustande gebracht hat.
Herr Wrobel, ich hoffe, daß Sie schneller antworten können, als ich es vermochte.
Zur Langsamkeit sollte Sie nicht verleiten, daß die Watch Tower Society es mittlerweile für angebracht gehalten hat (“Der Wachtturm”, 1. November 1995) “Harmagedon” etwas zu verschieben - Sie gestatten mir die saloppe, aber treffende Formulierung. Daß so etwas kommen würde, habe ich Ihren Mitbrüdern und -schwestern schon seit Jahren vorausgesagt. Dafür gibt es viele Zeugen. Jehovas angeblicher Zeitplan geriet ja schon seit Jahren immer ungemütlicher zwischen die Mühlsteine 1914 als Endzeitanfang, dem Ausbleiben von “Harmagedon” und der Generation, die angeblich zwischen beiden Großereignissen nicht vergehen durfte, jenem Vergangensein aber mit jedem Herzinfarkt eines ihrer Mitglieder näherkam. Daß die Führung der Wachtturm-Gesellschaft dieses Dilemma durch eine Neuauslegung des Begriffs “diese Generation” jetzt zu lösen versucht, hat mich allerdings überrascht. Ich hatte eher erwartet, daß das in haarsträubender Weise aus der Bibel abgeleitete Jahr 1914 als Bezugspunkt fällt. Aber dafür war es wohl zu attraktiv.
Da nun die Welt etwas länger währen wird, ist es auch nicht verwunderlich, daß der Sklave sein Verhältnis zu den Herrschern des Staates zu verbessern trachtet. Zivildienst zu leisten, ist seit dem “Wachtturm” vom 1. Mai 1996 erlaubt. Das freut Menschen wie mich, die schon vor gut 20 Jahren als Jugendlicher so weit waren, nicht zu verstehen, warum ein Zeuge Jehovas zwar Beamter werden und sich damit zu einem besonderen Treueverhältnis zum Staat und zum aktiven Eintreten für die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes per Eid verpflichten lassen durfte, den zivilen Ersatzdienst aber wie den Kriegsdienst verweigern mußte. Noch Ende der 60er Jahre gingen viele junge Zeugen deswegen ins Gefängnis. Sie um Entschuldigung zu bitten, hat der “Wachtturm” sicher wegen seiner exegetischen Bemühungen (S. 31) um Philipper 3:13 vergessen:
“Die Dinge vergessend, die dahinten sind, und mich nach den Dingen ausstreckend, die vor mir sind ...”
Vor Ihnen, Herr Wrobel, liegt nun die verantwortungsvolle Aufgabe, dieses Schreiben zu beantworten. Anders als Paulus sollten Sie dabei keinesfalls die Dinge vergessen, “die dahinten sind”. Und Sie wissen, daß nur eine ausführliche und ehrliche Antwort zählt.
Dafür schon heute mein und unser Dank.
Mit freundlichem Gruß
Dieter Obele
Dieses Schreiben wurde von der Wachtturm-Gesellschaft nie beantwortet.