Wer sich mit der Wachtturm-Gesellschaft einläßt, darf sich nicht wundern, wenn das, was heute als absolute Wahrheit verkündet wird, morgen plötzlich in einem völlig neuen Licht erscheint.

Und so kommt es, daß jungen Zeugen Jehovas, die sich im April 1996 zum Ersatzdienst entschlossen, dafür die Gemeinschaft entzogen wurde, während dieselbe Entscheidung seit dem 1. Mai 1996 plötzlich eine "persönliche Gewissensentscheidung" ist. Ein Artikel im Wachtturm vom 1. Januar 1996 ist ein typisches Beispiel dafür, wie den Zeugen Jehovas 180-Grad-Kehrtwendungen der Glaubenslehre als "neue Erkenntnis" untergejubelt werden.

Gott und der Staat, jedem das geben, was ihm gebührt

Das stand auf dem Titel des Wachtturms vom 1. Mai 1996. Im Inneren des Heftes fand der Leser eine WT -typisch langatmige Darstellung über volle 16 Seiten, bis man endlich zum eigentlichen Kern der Botschaft kam, die mit folgenden Worten eingeleitet wurde:

Es gibt auch Länder, wo der Staat... Einzelpersonen... die Möglichkeit einräumt, den Kriegs- und Militärdienst zu verweigern. Manche Länder verlangen von den Betreffenden, Zivildienst zu leisten, zum Beispiel eine nützliche Tätigkeit für das Allgemeinwohl zu verrichten.

Darauf wird ein kleiner Exkurs in biblische Zeiten eingeschoben, um zu dokumentieren, daß Frondienste für den Staat schon zu Jesu Zeit üblich waren. Gefolgt von einer - wieder recht allgemein gehaltenen - Beschreibung von zivilen Diensten aus heutiger Zeit, die mit der polemischen Bemerkung endet:

Auch Zeugen Jehovas leisten häufig einen solchen zivilen Dienst... Damit wird zumeist ein hervorragendes Zeugnis gegeben, und es bringt manchmal diejenigen zum Schweigen, die Jehovas Zeugen zu Unrecht der Ablehnung des Staates beschuldigen."

Erst dann kommt der eigentliche Punkt:

Doch was ist, wenn der Staat von einem Christen für einen begrenzten Zeitraum einen zivilen Dienst verlangt, der Bestandteil einer staatlichen Dienstpflicht ist, die unter der Verwaltung der Zivilbehörde steht?

Man achte auf die Formulierung: Das Reizwort Wehrersatzdienst wird sorgfältig vermieden, um niemand daran zu erinnern, daß dies bisher ein striktes Tabu für einen Christen (sprich: einen Zeugen Jehovas) war. Auch wird nicht vom Wehrersatzamt gesprochen, sondern irreführend von der "Zivilbehörde". Doch der entscheidende Satz kommt erst noch. Er wird wie beifällig in die wortreichen Darlegungen eingefügt, als ob es die selbstverständlichste Sache der Welt sei:

Auch in diesem Fall muß der Christ eine persönliche Gewissensentscheidung treffen, nachdem er sich informiert hat."

Auch hier wieder das in letzter Zeit übliche gewordene Synonym Christ = Zeuge Jehovas. Verbunden mit der völlig neuen Erkenntnis, daß die Entscheidung zum Wehrersatzdienst ab sofort eine "persönliche Gewissensentscheidung" sei. Um das ganze noch einmal zu unterstreichen folgt zwei Abschnitte später noch ein Hinweis an die Ältesten, sie sollen "... das Gewissen des Bruders voll und ganz respektieren und ihn weiterhin als Christen betrachten." Das klingt wie immer völlig harmlos, bedeutet aber in der Praxis nichts anderes, als daß die bisherige Wachtturm-Politik, nachdem die Anerkennung des Wehrersatzdienstes automatisch einen Ausschluß zur Folge hatte, ab sofort aufgehoben ist.

Die meisten werden die gut verpackte Änderung überhaupt nicht mitbekommen haben. Nicht umsonst wurde sie in die übliche dicke Wortwatte verpackt, um möglichst wenig aufzufallen. Andere werden wieder über das immer heller werdende Licht der Erkenntnis fabulieren und dabei gar nicht merken, daß sie in Wirklichkeit wieder einmal nur manipuliert wurden. Und wer noch zu einem Rest eigenem Denkens fähig ist, wird hoffentlich erkannt haben, daß auch dieser Schritt nichts anderes ist, als ein weiterer kleiner Baustein auf dem Weg in das ersehnte Steuerparadies einer Gesellschaft des öffentlichen Rechts.

Auf jeden Fall paßt die Zustimmung zum Wehrersatzdienst zur Pressemitteilung der WTG (verbreitet über ihren neuen "Informationsdienst der Zeugen Jehovas"), in der bereits am 18. März 1996 auf den Wachtturm vom 1. Mai hingewiesen wurde. Und das mit den Worten: "Jehovas Zeugen unterstützen den Staat und seine Vertreter...".

Die Ältesten, die bisher ausschließlich in vertraulichen Sitzungen vom Kreisdiener darüber unterrichtet wurden, wie sie sich in Sachen Wehrersatzdienst zu verhalten hätten, erhielten gewissermaßen als flankierende Maßnahme in einem internen Schreiben den Hinweis, daß die leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas "zu einer erweiterten Erkenntnis von Römer 13 gekommen ist" (eine interessante Formulierung für eine 180- Grad-Kehrtwende). Wie schon bei der Neu-Interpretation der Generation seit 1914 wurde auch hier zum Ausdruck gebracht, daß sich ja "grundsätzlich nichts geändert" habe. Eine Unverfrorenheit, wenn man an die unzähligen jungen Menschen denkt, die im treuen Gehorsam zu "Jehovas Organisation" ins Gefängnis gewandert, hohe Geldstrafen bezahlt oder Entscheidungen gegen ihr eigenes Interesse getroffen haben. Oder an diejenigen, die bis zum 1. Mai 1996 ausgeschlossen wurden, weil sie keine Probleme mit ihrem Gewissen hatten, den Militärdienst gegen eine sinnvollere Arbeit im Altersheim einzutauschen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß die WTG offensichtlich mehr an der öffentlichen Meinung interessiert ist, als an der "geistigen Speise" ihrer Mitglieder. Das wird deutlich, wenn man den Artikel im Wachtturm vom 1. Mai 1996 mit der Pressemeldung vergleicht, die bereits fünf Wochen früher veröffentlicht wurde.


Pressemitteilung vom 18. März 1996

Jehovas Zeugen erklären ihr Verhältnis zum Staat

Selters/Taunus: Die neuerdings von einigen Kirchenvertretern und Sektenbeauftragten aufgestellte Behauptung, Jehovas Zeugen seien staatsfeindlich, wird von ihnen entschieden zurückgewiesen. Jehovas Zeugen unterstützen den Staat und seine Vertreter und sind als gesetzestreue Bürger bekannt. Sie bleiben wie Jesus Christus in bezug auf politische und militärische Handlungen neutral, wobei sie wie er andere nicht davon abhalten, solche Dienste zu leisten. Diese Haltung hat ihnen Bewunderung, aber auch unmenschliche Verfolgung eingetragen. Besonders seit dem Zweiten Weltkrieg ist allgemein bekannt, daß sich Jehovas Zeugen weigern, in den Streitkräften den Dienst mit oder ohne Waffe zu leisten. Sie berufen sich auf Jesu Worte: "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist." Nach ihrem Verständnis zog Jesus eine Grenze zwischen dem, was ein Christ dem "Kaiser" zurückzahlen sollte, und der vollständigen, bedingungslosen Ergebenheit, die er Gott gegenüber versprochen hat. Die Zeugen haben ihre Haltung auch auf die Worte aus Jesaja 2:4 gestützt, die an der "Friedensmauer" vor den Vereinigten Nationen stehen: "Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden... und sie werden den Krieg nicht mehr lernen."

Gemäß W.L.Barry, dem Vorsitzenden der in New York tätigen leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas, "war es für die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas leicht, diese feste Haltung im Grundsatz und im täglichen Leben zu verteidigen, da es in der Bibel und in anderen Schriften so viele direkte und indirekte Aussagen dazu gibt, die sie unterstützen". Ob ein Zeuge Jehovas gemäß seinem Gewissen nichtmilitärische zivile Dienste leisten kann, hängt allerdings von den Umständen ab. "In Verbindung damit", sagt Barry, "zeigt die Bibel Grundsätze auf, aus denen sich ein angemessenes Vorgehen ableiten läßt." Darunter fallen oft Arbeiten im Krankenhaus, Altenheim oder für das Allgemeinwohl. Dieses Verständnis erläutern Jehovas Zeugen im Wachtturm vom 1. Mai 1996 mit dem Titel "Gott und der Staat". Barry zum Staatsverständnis der Zeugen weiter: "Es wurde eine gründliche Betrachtung der Anweisungen des Apostels Paulus gemäß Römer, Kapitel 13 und themengleicher Bibeltexte, wie zum Beispiel Titus, Kapitel 3, vorgenommen, wo Christen geboten wird, "Gewalten und Mächten untertan zu sein, Gehorsam zu leisten, zu jedem guten Werk bereit zu sein." Diese Haltung rückt biblische Grundsätze in den Mittelpunkt, die das Gewissen des Einzelnen beeinflussen. Vorausgesetzt, es besteht kein Widerspruch zu Gottes allem übergeordneten Gesetz, sollte ein Zeuge Jehovas seine eigene Entscheidung treffen, wenn der Staat von ihm verlangt, zivile Dienste auszuführen."

Informationsdienst der Zeugen Jehovas

Koordinator: Walter Köbe

Telefon +49 6483 / 41 22 13

Fax +49 6483 / 41 21 00


Kommentar:

Der Hinweis auf die in der Vergangenheit bewiesene neutrale Haltung der Zeugen Jehovas überzeugt nur diejenigen, die mit den Tatsachen nicht vertraut sind. Wie neutral die Zeugen Jehovas, bzw. die hinter ihnen stehende Wachtturm-Gesellschaft, wirklich sind, ist unter anderem aus dem Brief "an den sehr geehrten Herrn Reichskanzler" Adolf Hitler zu ersehen. Und wie ernst sie es mit ihrer Weigerung meinen, in den Streitkräften den Dienst mit oder ohne Waffe zu leisten, belegt eindrucksvoll die Schweizer Erklärung aus dem Jahre 1943. Beide Dokumente können bei www.sektenausstieg.net nachgelesen werden.

Irreführend ist der Umstand, daß man in der Pressemitteilung vom 18. März 1996 so tut, als wäre es schon immer eine Gewissensentscheidung des einzelnen Zeugen Jehovas gewesen, ob er Zivildienst leisten will oder nicht. Dabei wird als Beleg eine Wachtturm-Ausgabe angeführt, die erst am 1. Mai 1996 - also fünf Wochen nach dieser Presseerklärung - erschien. Das heißt, der Presse/Öffentlichkeit wird ein "Verhältnis zum Staat" verkauft, das die Zeugen Jehovas selbst erst Wochen später als "neue Erkenntnis" zu lesen bekamen. Die als selbstverständlich hingestellte Gewissensfreiheit wird jungen Zeugen Jehovas nämlich erst mit diesem Wachtturm vom 1. Mai 1996 zugebilligt. Zuvor wurde jeder, der sich diese Freiheit nahm, Wehrersatzdienst zu leisten, rigoros mit Gemeinschaftsentzug (Exkommunikation) bestraft.