Beobachter der Szene haben es schon lange vorhergesagt: spätestens nach der Niederlage vor dem Bundesverwaltungsgericht wird die WTG alles daran setzen, um gezielt die Gründe aus der Welt zu schaffen, die gegen die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts sprechen. Und da steht das Quasi-Verbot, sich an demokratischen Wahlen zu beteiligen, an allererster Stelle.

Die WTG weiß jedoch auch, daß man solche tiefgreifenden Veränderungen des Lehrgebäudes nicht von heute auf morgen vornehmen kann. Wie schon bei der 180-Grad-Wende zum Thema Zivildienst wird daher auch diese "neue Erkenntnis" in möglichst kleinen Schritten eingeführt. Schließlich soll den kleinen Verkündigern gar nicht so richtig bewußt werden, in welche Richtung sich "die Wahrheit" entwickelt. Die neue Denkrichtung in Sachen Demokratie wurde erstmals auf den "Königreichsdienstschulen für Versammlungsälteste" offenbart, die Selters alljährlich zum Jahreswechsel veranstaltet.

An zwei Tagen gab es nicht weniger als 21 kurze Vorträge, in denen so ziemlich alle Probleme abgedeckt wurden, die der WTG derzeit unter den Nägeln brennen. Dazu gehörte zum Beispiel der Versammlungsbesuch. Wie die allmonatlichen Berichte zeigen, bleiben nämlich in letzter Zeit immer mehr Stühle in den Königreichssälen leer. Besonders im Laufe des vergangenen Jahres scheint bei zahlreichen Zeugen Jehovas die Bereitschaft nachgelassen zu haben, jede Woche drei mal zu erscheinen, um dann immer wieder die selben Sprüche vorgesetzt zu bekommen.

Wer mit einzelnen Zeugen spricht, hört des öfteren die Aussage, daß der "treuen und verständigen Sklaven" wohl nicht mehr so richtig wisse, wie es weitergehen soll. Die Vorträge würden immer einsilbiger und im Versammlungsbuchstudium würden immer wieder die selben Bücher durchgekaut. Außerdem beschweren sich viele Zeugen mittlerweile offen über die immer aufdringlicheren Spenden-Aufforderungen der WTG. Die Stimmung ist also äußerst schlecht.

Ein weiteres Problem scheint der nachlassende Predigtdienst zu sein. Offensichtlich haben mittlerweile selbst die ganz Einfältigen begriffen, daß das mit der "Dringlichkeit der Zeit" nicht so ernst gemeint war, wie sie es jahrzehntelang gepredigt haben. Warum also bei Wind und Wetter von Haus zu Haus gehen, wenn das was man heute als die absolute "Wahrheit" verkündet, schon morgen wieder völlig überholt sein kann.

Auch im unteren Management scheint es nicht mehr so zu laufen, wie man das von der einzig wahren Christenversammlung erwarten würde. Die Ältesten kümmern sich offensichtlich immer weniger persönlich um die ihnen anvertrauten "Schafe" und beschränken sich stattdessen auf das Predigen von der Bühne. Außerdem sind viele Ältestenschaften aus den unterschiedlichsten Gründen zerstritten und die Zahl der Ältesten, die ihr Amt niederlegen, war noch nie so hoch.

Der große Hammer war aber eine weitere Kehrtwende der WTG:

Die "leitende Körperschaft" habe beschlossen, so hieß es, daß es künftig dem Gewissen des Einzelnen zu überlassen sei, ob er sich an demokratischen Wahlen beteiligen will oder nicht. Eine neue "Erkenntnis", die sich übrigens sowohl auf das aktive als auch auf das passive Wahlrecht bezieht. Allerdings wurde ausdrücklich von "nichtpolitischen" Wahlen gesprochen. Das heißt, ein Zeuge Jehovas darf sich ab sofort an der Wahl zum Klassensprecher, zum Elternvertreter oder zum Betriebsrat beteiligen und sich sogar selbst wählen lassen. Er darf aber weiterhin nicht seinen Stimmzettel bei einer Bürgermeister-, Gemeinderats-, Landtags- oder Bundestagswahl abgeben.

Warum die eine Wahl "politisch" ist und die andere nicht, blieb dabei ungeklärt. Es kann aber davon ausgegangen werden, daß diese Lockerung der bisherigen Haltung erst der Anfang ist. Denn mit dieser halbherzigen Lösung kann man vielleicht einzelne Zeugen Jehovas überzeugen, nicht aber die Richter am Bundesverfassungsgericht, die noch dieses Jahr über die Zulassung der Zeugen Jehovas als Gesellschaft des öffentlichen Rechts entscheiden müssen.

Wer weiß, vielleicht werden die 166.000 Zeugen Jehovas in Deutschland zum Zünglein an der Wage, wenn es im Herbst dieses Jahres um Schwarz, Rot oder Rot-Grün geht.

Helmut Lasarcyk und Stephan E. Wolf