Die Zeugen Jehovas halten ihre Religionsgemeinschaft für nichts Geringeres als „die Wahrheit". Doch es ist eine sehr wechselhafte Wahrheit, die immer wieder zum Umdenken zwingt.

Denn selbst fundamentale Lehren können schnell durch eine „neue Erkenntnis" ins Gegenteil verkehrt werden. Ein Artikel aus "Berliner Dialog" faßt die Entwicklungen der neueren Zeit zusammen.

Walter Köbe, Leiter des Informationsdienstes der Wachtturm-Gesellschaft in Deutschland machte schon 1997 deutlich, daß den Zeugen Jehovas grundlegende Änderungen ihrer Lehre bevorstehen. Anläßlich einer Veranstaltung in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme sprach er von der „Kirche der Zeugen Jehovas" und benutzte damit erstmals einen Begriff, den die Sektenmitglieder bisher ausschließlich mit der „falschen Religion" in Verbindung gebracht hatten.

Außerdem hatte Köbe eine völlig neue Auslegung von Johannes 12:31 parat. Nicht alle Politiker sind demnach Handlanger Satans, „sondern lediglich die korrupten und selbstsüchtigen unter ihnen". Zeugen Jehovas wären daher auch grundsätzlich positiv gegenüber den Regierungen eingestellt. Das sind völlig neue Töne für die Anhänger einer Sekte, in deren Augen bisher jedes politische System unter der Herrschaft Satans gestanden hatte.

Erste Schritte in die neue Richtung waren die „Ältestenschulungen", die Anfang dieses Jahres durchgeführt wurden. Dort erfuhren die Gemeindevorstände der einzelnen Versammlungen, daß es künftig dem Gewissen des Einzelnen zu überlassen sei, ob er sich an demokratischen Wahlen beteiligt oder nicht. Allerdings sprach man etwas nebulös von sogenannten "nicht-politischen" Wahlen. Ein Zeuge Jehovas darf sich also ab sofort zum Klassensprecher, Elternvertreter oder Betriebsrat wählen lassen. Er darf aber weiterhin nicht seinen Stimmzettel bei einer Bürgermeister-, Gemeinderats-, Landtags- oder Bundestagswahl abgeben.

Interessant dabei ist, daß diese „neue Erkenntnis" nur unter vorgehaltener Hand gilt. Das heißt, der gemeine Zeuge Jehovas weiß bisher nichts davon. Er muß aber künftig nicht mehr mit dem Ausschluß aus der Sekte rechnen, wenn er sich passiv oder aktiv an den genannten Wahlen beteiligt.

Ähnlich zwielichtig ging die Wachtturm-Gesellschaft in Sachen Bluttransfusion vor. In einer Vereinbarung mit der Bulgarischen Regierung machte sie folgende Zusage: „Jedes Mitglied hat das Recht, das [medizinische System] aus freiem Willen in Anspruch zu nehmen, und zwar ohne Kontrollen und Sanktionen..." Diese Aussage bezog sich ausdrücklich auf „die Haltung der Zeugen Jehovas zur Blutfrage". Außerdem verpflichtete man sich, sie in die offiziellen Statuten der Wachtturm-Gesellschaft aufzunehmen. Damit war eigentlich klar gesagt, daß künftig kein Zeuge Jehovas mehr einen Ausschluß befürchten mußte, wenn er sich zu einer Bluttransfusion entschloß.

Doch die Vereinbarung sollte offensichtlich geheim bleiben. Zumindest wurden die weltweit 5,4 Millionen Zeugen Jehovas bis jetzt nicht darüber informiert. Sie hätten vermutlich auch nie von dem Zugeständnis in Sachen Bluttransfusion erfahren, wenn die Nachricht nicht vom weltweiten Netzwerk ehemaliger Zeugen Jehovas verbreitet worden wäre. So jedenfalls erfuhren beispielsweise die erstaunten Sektenmitglieder in Skandinavien erst aus den Medien, welche Freiheiten man ihren Glaubensbrüdern in Bulgarien zugestanden hatte.

Bei InfoLink, dem Internet-Informationsdienst aktiver Zeugen-Jehovas-Aussteiger in Deutschland (http://www.sektenausstieg.de), konnten auch die hiesigen Zeugen Jehovas wortwörtlich nachlesen, was ihre Führer heimlich vereinbart hatten. Das Dokument war nämlich auf dem Internet-Server der Europäischen Kommission für Menschenrechte in Straßburg zu finden und in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. Ein Umstand, der für einiges Aufsehen sorgte. So gingen bei der Wachtturm-Zentrale in Selters zahlreiche Anfragen ein, was es denn mit dieser „neuen Erkenntnis" auf sich habe und ob es denn stimme, daß Bluttransfusionen jetzt erlaubt seien.

Die Wachtturm-Gesellschaft sah sich in die Ecke gedrängt. Auf der einen Seite ließ sich die eindeutig formulierte Bulgarien-Vereinbarung nicht mehr aus der Welt schaffen. Gleichzeitig aber traute man sich offensichtlich nicht, diese seit Jahrzehnten gepredigte „Wahrheit" völlig über den Haufen zu werfen. Zu viele Zeugen Jehovas hatten schon ihr Leben gelassen, weil sie selbst in Extremsituationen eine Bluttransfusion verweigert hatten. Zu viele Eltern hatten ihre Kinder dieser „biblischen Erkenntnis" geopfert. Zu tief war die Lehre im Bewußtsein der Anhänger verwurzelt. Eine radikale Kehrtwende hätte mit Sicherheit zu einer massiven Verunsicherung unter den Zeugen geführt, denen man in letzter Zeit sowieso schon einige tiefgreifende Lehränderungen zugemutet hatte. Außerdem war zu befürchten, daß ein solcher Bruch zu einem spürbaren Schwinden der besonders in Europa ohnehin schon stagnierenden Mitgliederzahlen führen würde.

Und so ließ die Reaktion der Wachtturm-Gesellschaft eher Hilflosigkeit denn Überzeugtheit erkennen. Im Bemühen, die Sache herunterzuspielen gab Wachtturm-Sprecher Michael Bjoerk in Schweden vor der Presse an, daß keinem Zeugen Jehovas je für eine Bluttransfusion die Gemeinschaft entzogen worden sei. An anderer Stelle hieß es, dies sei schon immer eine „persönliche Gewissensentscheidung" gewesen. In einem Schreiben des deutschen Zweigbüros war zu lesen, daß eine Bluttransfusion für einen Zeugen Jehovas nicht automatisch den Gemeinschaftsentzug mit sich bringen würde: „Ausschlaggebend sind vielmehr die Umstände und die Einstellung des Betroffenen."

Gerade diese „Einstellung" jedoch ist es jedoch, die schon so manchem Zeugen Jehovas den Rauswurf aus seiner Religionsgemeinschaft gekostet hat. Nicht nur in Sachen Bluttransfusion, sondern auch wenn er beispielsweise die von der Wachtturm-Gesellschaft gelehrte Chronologie angezweifelt hatte, nach der Jesus Christus exakt im Jahr 1914 seine himmlische Herrschaft angetreten hat. So ging es nämlich dem Schweden Carl Oloff Jonsson, der diese Zahlenakrobatik bereits in den 80er Jahren widerlegt hatte und kurz darauf gehen mußte.

Dabei war er nur seiner Zeit voraus. Im Wachtturm vom 15.09.98 findet der aufmerksame Leser nämlich einige Aussagen, die eindeutig die Abkehr von dieser Chronologie einläuten. Nachdem zuerst seitenlang darüber berichtet wurde, daß chronologische Angaben in der Bibel immer nur von zweitrangiger Bedeutung waren, steht dort nämlich zu lesen: "Unsere Überzeugung, daß wir in der Zeit des Endes leben..., beruht nicht allein auf Chronologie, sondern auf Ereignissen, die beweisen, daß sich biblische Prophezeihungen erfüllen."

Die Frage ist nur, wie es Tausende von Menschen schaffen, mit einer „Wahrheit" umzugehen, die immer genau dann von einer „neuen Erkenntnis" umgeworfen wird, wenn sich wieder einmal eine der scheinbar unumstößlichen Erkenntnisse als unhaltbar erwiesen hat.

Quelle: Berliner Dialog, Februar 1999