Welcher Schaden letztendlich durch Lügen angerichtet wird
Die Wachtturm-Lehre von der theokratischen Kriegsstrategie, dass es angemessen ist, die Wahrheit vor Personen zurückzuhalten, die sie benutzen könnten, der Wachtturm-Gesellschaft zu schaden, soll ihren Interessen dienlich sein (Bergman, 1994). Offensichtlich ist sie, mit zwei mir bekannten Ausnahmen, die einzige religiöse Gruppe, die als Teil ihrer offiziellen Doktrin lehrt, dass es angemessen ist, zu lügen (so wie ein Gericht Lügen definiert). Auf kurze Sicht mag diese Lehre vorteilhaft sein, auf lange Sicht wird sie den Wachtturm-Interessen aber weitaus mehr schaden als nützen.
Wahrscheinlich ist die Hauptwirkung der Lehre vom theokratischen Krieg der psychologische Schaden, der angerichtet wird, wenn den Zeugen bewusst wird, wie die Wachtturm-Gesellschaft schon in der Vergangenheit getäuscht hat (Bergman, 1996). Dies kam eindeutig in den Interviews mit den 92 Amerikanern und 39 Italienern zum Ausdruck, die für die eben zitierte Untersuchung geführt wurden. Wenn einem der Mangel an Ehrlichkeit bei der Wachtturm-Gesellschaft bewusst wird, ist das oft ernüchternd und führt dazu, dass die Mitglieder die Sekte verlassen. Für viele Menschen ist das Verlassen unglaublich traumatisch – besonders für die sehr frommen. Duron sagt dazu:
Ich war eine Zeugin Jehovas in der dritten Generation, ehe ich diese Religion im Jahre 1975 verließ. Ich bin verheiratet mit einem ehemaligen Zeugen in der zweiten Generation. Mein Mann und ich – wir waren zusammengerechnet fast 60 Jahre dem Glauben und der Tätigkeit der Zeugen Jehovas ausgesetzt und haben viele Stunden, allein und gemeinsam, damit verbracht, einen Sinn in unserem Leben zu erkennen. Im Mittelpunkt dieser Suche stand, vernünftig mit der Frage umzugehen: „Wer bekommt die Kinder?“ – neben dem Versuch, zu lernen, unser Leben neu aufzubauen, und den intensiven geistigen Aufruhr zu erleben, noch einmal über unsere moralischen, religiösen, sozialen und persönlichen Wertvorstellungen und Überzeugungen nachzudenken. Wir hatten zwei Kinder, an die wir denken mussten (Duron, 1991, Seiten 16-17).
Das Beispiel, das die Zeugen verwenden – von Abraham, der den Pharao anlog und sagte, Sarah sei seine Schwester und nicht seine Frau –, mag sich hier als prophetisch erweisen. Wachtturm-Kritiker führen diese Lehre oft als einen Punkt an, der Teil ihrer Entscheidung war, die Wachtturm-Gesellschaft zu verlassen, und Gegner gehen mit dieser Lehre gewöhnlich als teilweise Rechtfertigung ihrer Verurteilung der Wachtturm-Gesellschaft auf Menschenfang. Ihr Mangel an Ehrlichkeit wird von ihren Kritikern oft beachtet (siehe z.B. Branden, 1988, und Dahlin, 1988, und die meisten Quellenhinweise zu dieser Abhandlung).
Offen diese Lehre aufzuheben, ist unwahrscheinlich, weil eine Rücknahme die Schlussfolgerung unterstützt, dass sie gelehrt und allgemein angewandt wurde. Und am wichtigsten: Eine Rücknahme wäre auch das Eingeständnis, dass sie falsch war. Angesichts der Erwartung, dass Harmagedon unmittelbar vor der Tür steht, hofft die Wachtturm-Gesellschaft, dass diese vorhergesagte Schlacht sie davor bewahren wird, sich mit diesem Problem befassen zu müssen. In der neuen Welt wird die Lehre von der theokratischen Kriegsführung nicht mehr nötig sein, weil es dann keine Gegner der Wachtturm-Gesellschaft mehr geben wird – alle Nichtzeugen werden ja in Harmagedon vernichtet. Angesichts der wiederholten Fehlschläge bei der Vorhersage des „großen Tages Gottes des Allmächtigen“ durch die Wachtturm-Gesellschaft mag sie gezwungen sein, diese Lehre entweder still in der Versenkung verschwinden zu lassen (was nicht der Fall zu sein scheint – die Lehre ist in neuesten Wachtturm-Publikationen wiederholt worden) oder sich ihren exegetischen Fehlern zu stellen und ein neues Regelwerk, darunter eine funktionale Ethik, zu entwickeln.