Zeugen Jehovas dürfen in Zukunft Bluttransfusionen annehmen, nachdem die Führer der kontroversen Religionsgemeinschaft eine außergewöhnliche Kehrtwendung vollzogen haben.

Die Ältesten wurden angewiesen, dass Zeugen Jehovas, die sich in Situationen, bei denen es um Leben und Tod geht, Bluttransfusionen verabreichen lassen, weiterhin nicht mehr mit einer Exkommunikation aus ihrer Religion zu rechnen haben. Der Schritt stellt der größte Rückzug der Bewegung dar, seitdem das für 1975 vorhergesagte Harmagedon ausblieb. Durch die Veränderung der Wachtturm-Vorgehensweise werden Bluttransfusionen offiziell zu einem Ereignis heruntergestuft, das keinen Ausschlussgrund mehr darstellt. Die Entscheidung, die bei einer geheimen Zusammenkunft der zwölfköpfigen Leitenden Körperschaft im Welthauptquartier der Bewegung in New York gefällt worden war, wurde von den religiösen Führern als eine "geringfügige Anpassung" abgetan. Sie folgt Jahrzehnten abträglicher Publizität um Erwachsene und Kinder, die aufgrund ihres Glaubens gestorben sind oder beinahe zu Tode gekommen wären. Erst letzte Woche widerrief ein Zeuge Jehovas, Brent Bond aus Nottingham, der bei einer Angriff mit einem Messer 2.5 Liter Blut verloren hatte, nur Sekunden bevor er bewusstlos wurde, seinen Glauben, so dass er eine lebensrettende Transfusion erhalten konnte. Da ihm klar war, dass seine Mutter niemals in eine Transfusion einwilligen würde, gab er dem Personal Bescheid: „Ich bin kein Zeuge Jehovas mehr. Ich gebe meine Zustimmung zu einer Transfusion.“

Im Januar starb eine junge Mutter, Beverly Matthews, 33, aus Stockport, nachdem sie bei einem Notall eine Transfusion verweigert hatte. Im März letzten Jahres gab die Vereinigung der Anästhesisten (Association of Anaesthetists) neue Richtlinien heraus, die besagten, dass man Zeugen Jehovas sterben lassen darf, wenn sie Transfusionen verweigern.

Briefe sind bereits an Älteste in ganz Großbritannien, wo es etwa 130.000 Zeugen Jehovas gibt, versandt, in denen erklärt wird, dass sie Mitglieder, die Blut akzeptieren, nicht mehr ausschließen sollen; gleiches gilt für die Ältesten der sechs Millionen Anhänger weltweit. Die Ältesten werden dann wiederum ihre lokalen Mitglieder der Krankenhaus-Verbindungskomitees, die zwischen Zeugen Jehovas und dem medizinischen Personal vermitteln, anweisen.

Jehovas Zeugen betrachten das Leben als ein Geschenk Gottes, das durch das Blut dargestellt wird. Sie interpretieren gewisse Bibelstellen in dem Sinne, dass sie keinerlei Arten von Bluttransfusionen annehmen dürfen. Die Lehre in bezug auf Blut selbst hat sich nicht geändert, aber bis jetzt hatte jeder Zeuge Jehovas, der sich bewusst Blut verabreichen ließ oder bei einem seiner Kinder einer Bluttransfusion zustimmte, einen "Gemeinschaftsentzug" zu gewärtigen.

Paul Gillies, der Sprecher der Zeugen Jehovas, die ihr britisches Hauptquartier in Mill Hill, Nord-London, haben, sagte, die Verweigerung von Blut bliebe immer noch ein "Grundwert" der Religion. „Es ist durchaus möglich, dass jemand unter Druck auf dem Operationstisch einer Bluttransfusion zustimmt, da er nicht sterben will. Am nächsten Tag könnte er vielleicht sagen, dass ihm seine Entscheidung leid tue. Wir würden dann geistigen Trost und Hilfe verabreichen. Es würden gegen ihn keine Schritte unternommen werden. Wir würden es einfach als einen Moment der Schwäche ansehen.“ Er sagte, dass selbst wenn ein Zeuge Jehovas nicht bereuen würde, er nicht ausgeschlossen würde, sondern er würde nur als jemand angesehen, der von sich aus die "Gemeinschaft verlassen" hat.

Geoffrey Unwin, ein früherer Zeuge Jehovas, der jetzt zum Thema Religion unter dem Namen James King schreibt, sagte: „Jehovas Zeugen, die exkommuniziert sind, werden dann als Abtrünnige gebrandmarkt oder als Antichrist bezeichnet, und die Freunde und Verwandte innerhalb der Bewegung werden angewiesen, die Gemeinschaft mit ihnen zu meiden, ja selbst nicht mit ihnen zu sprechen, wenn sie sich zufällig auf der Straße begegnen.“ Er sagte eine weitverbreitete Verärgerung über die Veränderung voraus und gab an, er kenne zwei frühere Mitglieder, die sich überlegten, ob sie gesetzliche Schritte einleiten sollten. „Ich kenne jemanden, der nur deswegen ausgeschlossen wurde, weil er die Lehre in Frage stellte. Sie wurden von all ihren Freunden und Nachbarn gemieden und mussten umziehen.“

von RUTH GLEDHILL, Korrespondent für Religion

Leserbriefe

von Mr Paul Gillies

Sir,

ich wollte einen falschen Eindruck korrigieren, der durch die Schlagzeile "Kehrtwendung unter den Zeugen bei Bluttransfusionen" (14. Juni) hervorgerufen werden könnte.

Wenn ein getauftes Glied unseres Glaubens absichtlich eine Bluttransfusion annimmt und keine Reue bekundet, zeigt er durch sein eigenes Verhalten an, dass er kein Zeuge Jehovas mehr sein will. Das Individuum widerruft durch seine Handlungsweise seine Mitgliedschaft, statt dass dieser Schritt von der Versammlung eingeleitet wird.

Diese Vorgehensweise in einer im übrigen sehr selten auftretenden Situation stellt eine verfahrenstechnische Veränderung dar, insofern dass in solchen Fällen nicht mehr die Versammlung die Initiative ergreift, um die Mitgliedschaft zu widerrufen. Das Endergebnis ist jedoch dasselbe; das Individuum wird nicht mehr als Glied der christlichen Versammlung der Zeugen Jehovas angesehen, da er das biblische Verbot, sich des Blutes zu enthalten, nicht mehr akzeptiert und befolgt.

Wenn so jemand später seinen Sinn ändert, kann er wieder als ein Zeuge Jehovas aufgenommen werden.

Mit freundlichen Grüßen,
PAUL GILLIES
(Koordinator der Abt. für Öffentlichkeitsarbeit)
Jehovah's Witnesses in Britain
Watchtower House
The Ridgeway
NW7 1RN

von Dr Clive Lennox

Sir,

der Entscheidung der Leitung der Zeugen Jehovas, Bluttransfusionen ohne automatische Exkommunikation ("Ausschluss") zu erlauben, sollte man applaudieren. Die Veränderung ist jedoch aufgrund drohender Schadensersatzprozesse (besonders in de USA) zustande gekommen und aufgrund des Wunsches, den steuerbegünstigten Status einer Hauptreligion beizubehalten.

Vor Monaten experimentierte die Leitung der Zeugen Jehovas in Bulgarien mit einer Veränderung der Verfahrensweise bei Bluttransfusionen, um die Auswirkungen auf die Mitglieder abschätzen zu können.

Bei diesen Veränderung in der Verfahrensweise scheinen mir eher finanzielle und public relations-Überlegungen im Mittelpunkt zu stehen als das physische oder geistige Wohlergehen der Anhänger.

Hochachtungsvoll
CLIVE LENNOX
University of Bristol
8 Woodland Road
Bristol BS8 1TN.

von Mr Klaus Brunner

Sir,

wenn die Leitung der Wachtturm-Gesellschaft Bluttransfusionen annehmbar machen würde, oder sie wenigstens weniger streng bestrafen würde, dann würde es sich wirklich um eine bedeutende Nachricht handeln. Es hat sich jedoch nur herzlich wenig verändert.

In Wirklichkeit gibt es keinen Unterschied in der Behandlung "ausgeschlossener" und "ausgetretener" Mitglieder. Alle solche Personen werden als Abtrünnige und Antichristen angesehen, und müssen von den Mitgliedern gemieden werden.

Die Wachtturm-Gesellschaft spielt mit Worten, während Menschenleben auf dem Spiel stehen.

Hochachtungsvoll
KLAUS BRUNNER
Schluesselgasse 11/43
Wien 1040
Österreich