Die Juristische Fakultät der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt lud die Studierenden zu einem rechtspolitischen Colloquium ein.

Wie rechtstreu muss eine Organisation sein, um den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erhalten? Das ist die Frage, die es zu diskutieren galt. Die Professoren Link und Hermann Weber, der das Verfahren der Zeugen Jehovas vor dem Zweiten Senat des BVerfG vertritt, saßen als Kontrahenten auf dem Podium:

Wie rechtstreu müssen Kirchen sein? Juristen streiten über Körperschaftsstatus für Zeugen Jehovas

Das Bundesverfassungsgericht entscheidet im Dezember über die Frage, ob die Zeugen Jehovas den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts einfordern können. Eine Frage von großer Tragweite, wie Juristen meinen.

Während in der Öffentlichkeit weiter über die deutsche Leitkultur gestritten wird, steht das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vor der Verkündung eines brisanten Urteils. Es geht darin letztlich um die Frage, ob evangelische und katholische Kirche gemeinsam mit einigen kleineren Religionsgemeinschaften weiterhin als einzige Kirchensteuer erheben und die so genannten Kirchenprivilegien genießen können. Im aktuellen Verfahren beantragen die Zeugen Jehovas den Status der beiden großen deutschen Kirchen, bald könnte es jedoch auch um die Anerkennung islamischer Gemeinschaften oder der Scientology-Organisation als Körperschaft gehen.

"Da können Dämme brechen", fasste der Erlanger Professor Christoph Link die Dramatik des bevorstehenden Urteils zusammen, das voraussichtlich am 19. Dezember in Karlsruhe verkündet wird. Es war die Juristische Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, die die Studierenden dieser Tage zum rechtspolitischen Colloquium über dieses Thema einlud. Die Professoren Link und Hermann Weber, der das Verfahren der Zeugen Jehovas vor dem Zweiten Senat des BVerfG vertritt, saßen als Kontrahenten auf dem Podium.

"Das Grundgesetz schützt auch Fundmentalisten", darin waren sich Weber, vielen Juristen als Herausgeber der "Neuen Juristischen Wochenschrift" bekannt, und sein Erlangener Kollege Link einig. Völlig unterschiedlich beantworteten sie aber die Frage, wie weit dieser Schutz reicht. Genügt es, dem Einzelnen die Ausübung seiner religiösen Überzeugungen zu garantieren oder muss daraus auch eine Statusgleichheit der religiösen - möglicherweise fundamentalistischen - Organisationen folgen? Schlüsselbegriff der Debatte ist die Rechtstreue. Während Link die Rechtstreue einer Religionsgemeinschaft zum Prüfstein darüber machen will, ob eine Gemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt werden kann oder nicht, sieht Weber darin einen im Grundgesetz nicht vorgesehenen Selektionsmechanismus. Auch staatsabgewandte Religionen stehen für Weber eindeutig unter dem Schutz des Grundgesetzes.

Link sieht dagegen in dem von den Zeugen Jehovas ausgehenden Gruppendruck ein Hindernis, dieser Religionsgemeinschaft die Kirchenprivilegien zu gewähren. Link, der für den Berliner Senat ein Gutachten über die Zeugen Jehovas erstellte, nannte Beispiele. Mitglieder würden zur Züchtigung der Kinder gedrängt, jegliche Teilnahme an weltlichen Feiern sei untersagt, ebenso die Teilnahme an Wahlen und Mitgliedschaft in staatlichen Organisationen. Abweichendes Verhalten werde mit Gruppendruck und Isolierung geahndet. Das gehe aus Publikationen der Zeugen Jehovas und deren internen Schriften eindeutig hervor. Die Ausführungen Links veranlassten viele Studierende zu Gegenfragen. Werden in einigen Regionen des Allgäus Kinder nicht ebenfalls von Vergnügungsveranstaltungen fern gehalten? Weber erinnerte schließlich daran, dass vor nicht fernerZeit ein Kirchenaustritt zu der selben Isolierung führte, der bei den Zeugen Jehovas jetzt als unzulässiger Gruppendruck charakterisiert wird.

Allerdings ließen die Einwände offen, in welche Richtung Gleichheit herbeigeführt werden soll. Sollten auch die etablierten christlichen Kirchen stärker zur Anerkennung der bestehenden Rechtsordnung verpflichtet werden oder umfasst die Religionsfreiheit weitgehende Tolerierung rechtsfreier Räume? Es ist die Rechtsprechung des Karlsruher BVerfG selbst, die jetzt angesichts neu auftauchender - auch fundamentalistischer - Religionsgemeinschaften in Deutschland ihre Problematik offenbart. Die Richter billigen nämlich der katholischen Kirche bis heute zu, geschiedene Mathematiklehrerinnen aus ihren Schulen zu entlassen oder die Wahl von Betriebsräten in ihren Werkstätten zu verhindern. Wenn nun die Zeugen Jehovas - gemäß ihrer religiösen Überzeugung - Bedienstete nicht in den staatlichen Sozialsystemen versichern wollen, wird das als nicht hinnehmbare Abweichung von geltenden Rechtsgrundsätzen empfunden.

Wilfried Hassemer, selbst Juraprofessor an der Goethe-Universität, hörte der Diskussion schweigend, aber gespannt zu. Er ist Verfassungsrichter in Karlsruhe und wird als Mitglied des Zweiten Senats über die Anerkennung der Zeugen Jehovas als Körperschaft des öffentlichen Rechts mit zu entscheiden haben.

Quelle: Frankfurter Rundschau, 18.11.2000, Autor: Ursula Knapp (Karlsruhe)