Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts über die Zeugen Jehovas

Die "Zeugen Jehovas" können ihren Zorn kaum verbergen. Fraglich ist der Traum der Wachtturmgesellschaft auf eine Gleichstellung mit den großen Kirchen.

Von einer Wiedereinführung des Staatskirchentums in moderner Fassung ist in einer Erklärung der Organisation die Rede. Vor kurzem hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, daß die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas keinen Anspruch darauf hat, vom Staat als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannt zu werden. Während das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht die Klage der aus den Zeugen Jehovas in der DDR hervor gegangenen Klägerin für begründet gehalten hatten, wies das Bundesverwaltungsgericht die Klage ab (BVerwG 7 C - Urteil vom 26. Juni 1997), wogegen die Klägerin Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben haben.

Wäre die Klage vom Bundesverwaltungsgericht angenommen worden, hätten die Zeugen Jehovas Kirchensteuern einziehen können, wären sie von Körperschafts-, Vermögens- und Grundsteuern befreit worden, hätten das Recht bekommen, Religionsunterricht zu erteilen, in Rundfunkräten mitzuwirken und sich an der Seelsorge in Gefängnissen und Krankenhäusern zu beteiligen. Für die Anerkennung als öffentlich-rechtliche Körperschaft muß eine Religionsgemeinschaft "durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten". Dieses Kriterium erfüllen die ZJ, denn sie sind seit mehr als 100 Jahren in Deutschland tätig und haben hierzulande 180.000 Anhänger. Die Wachtturmgesellschaft ist ein Zweig der "Watch Tower and Tract Society of Pennsylvania" und wird von deren Sitz in Brooklyn zentralistisch geführt. Für die Anerkennung als Körperschaft öffentlichen Rechts spielen mangelnde demokratische Binnenstrukturen freilich keine Rolle.

Die Leitungsorgane der ZJ verstehen sich als "Kanal Gottes". Grundlage des Lehrgebäudes ist die Bibel, allerdings in einer inhaltlich und methodisch abweichenden Interpretation, die sich auch in der Frontstellung gegen die christlichen Kirchen als "Werkzeuge Satans" äußert. Der Rechtsstatus einer Körperschaft des öffentlichen Rechts bietet der Staat den Religionsgemeinschaften mit dem Ziel an, ihr Wirken zu fördern und mit ihnen zu ihrem Nutzen dauerhaft zusammenzuarbeiten. Doch mischt sich der Staat nicht etwa in die Angelegenheiten der jeweiligen Religionsgemeinschaft ein, erwartet aber, daß diese die Grundlagen der staatlichen Existenz nicht prinzipiell in Frage stellt.

Das Bundesverwaltungegericht begründet sein Urteil mit der mangelnden Loyalität der Wachtturmgesellschaft. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts seien die Zeugen Jehovas zwar dem Staat gegenüber nicht negativ, sondern grundsätzlich positiv eingestellt, lehnten aber prinzipiell die Teilnahme an den staatlichen Wahlen ab. Diese Ablehnung sei - ebenso wie die Ablehnung des Wehr- und Ersatzdienstes - Ausdruck eines strikt zu befolgenden Glaubensgebots, nämlich des der Bibel entnommenen Gebots der "christlichen Neutralität" in politischen Angelegenheiten. In der mündlichen Verhandlung haben die Zeugen Jehovas bestätigt, daß ein Mitglied, welches auf der Teilnahme an staatlichen Wahlen beharrt, nicht in ihrer Gemeinschaft verbleiben könne. Mit diesem religiös begründeten Verbot der Wahlteilnahme und dem entsprechenden Verhalten ihrer Mitglieder setze sich die Klägerin in einen verfassungsrechtlich nicht hinnehmbaren Widerspruch zu dem für die staatliche Ordnung im Bund in den Ländern konstitutiven Demokratieprinzip, das zum unantastbaren Kernbestand der Verfassung gehöre.

Die staatspolitische und verfassungsrechtlich zentrale Bedeutung der Parlamentswahlen werden von den Zeugen Jehovas mißachtet. Durch ihren Einfluß auf das Wahlverhalten der Bürger werde die Ligitimationsbasis geschwächt, auf die der Staat für die Ausübung der Staatsgewalt angewiesen sei. "Da sie die aus dem Demokratieprinzip folgenden legitimen Ansprüche des Staats an seine Bürger nicht anerkennt, kann sie nicht verlangen, von ihm als Körperschaft öffentlichen Rechts und damit als sein Kooperationspartner anerkannt zu werden", heißt es in der Urteilsbegründung.

Der Erlanger Staats- und Kirchenrechtler Link hatte in seinem Rechtsgutachten darauf verwiesen, daß Wahlbeeinflussung durch Religionsgemeinschaften als Grundrechtsausübung grundsätzlich mit der Wahlfreiheit in Einklang gebracht werden kann. Bei den Zeugen Jehovas jedoch wird die Ausübung des Wahlrechts nicht nur zur Sünde erklärt, sondern auch mit einer völligen sozialen Isolation bestraft. Die Wachtturmgesellschaft verhängt eine Kontaktsperre über ihre Anhänger, die bis in die Familien reicht. Kontakte mit Außenstenden werden nur mit der Absicht unterhalten, diese in ihrem Glauben zu bekehren und als Mitglied zu gewinnen. Die Wehrdienstverweigung entspringe bei den Zeugen Jehovas nicht einem prinzipiellen Pazifismus, sondern sei Bestandteil eines Identifizierungsverbots mit der staatlichen Organisation, der die Streitkräfte angehören. Anhänger der Zeugen Jehovas sind jedoch gehalten, auch den Ersatzdienst zu verweigern. Das Bundesverfassungsgericht habe mehrfach festgestellt, daß das Grundrecht der Gewissensfreiheit nicht zur Verweigerung des zivilen Ersatzdienstes berechtige.

Die Fremdbestimmung höchstpersönlicher Gewissensentscheidungen überschreite die von der Verfassung gezogenen Grenzen, wo diese als Individualentscheidungen von der Rechtsordnung respektiert würden. Dies gelte nicht nur für die Ablehnung einer medizinischen Behandlung mit Blut. Mit sozialen Sanktionen drohe die Organisation ihren Anhängern auch, damit sie diese zu anderen rechtswidrigen Handlungen bringe, etwa zur Ablehnung einer verpflichtenden Übernahme von Ehrenämtern (Schöffenamt), zur Verweigerung einer Blutbehandlung auch für Minderjährige, zum Bruch von Verschwiegenheitspflichten und zu einer Wahrnehmung des elterlichen Sorgerechts, die im Gegensatz zu der in Artikel 6 des Grundgesetzes festgeschriebenen Pflichtenbindung stehe, schreibt Link. Dabei handele es sich nicht um einzelne, getrennt zu bewertende Rechtsverstöße, sondern um eine weite Teile der Rechtsordnung und des sozialen Lebens betreffende Rechtsauffassung, die im Konfliktfall einen absoluten, alle Mitglieder verpflichenden Vorrang von Weisungen der "theokratischen Organisation" vor den Rechtgeboten der staatlichen Gemeinschaft zugrunde lege und von den Anhängern bedingungslosen Gehorsam fordere.

Der Wachtturmgesellschaft angehörende Kinder sollen sich nach dem Willen der Organisation weder am Singen von Weihnachtsliedern, am Basteln, an Geschenken, am Ostereiersuchen noch an schulischen Veranstaltungen außerhalb des Lehrplans beteiligen. Organisierter Sport, Schulbälle, Schulvereine oder Jugendverbände, auch Schulfahrten oder Landschulheimaufenthalte sind für diese Kinder tabu, weil sie vor "schlechter Gesellschaft" und "schlechter Moral" bewahrt werden sollen.

Nicht einmal die Teilnahme an einer Geburtstagsfeier im Kindergarten sei ihnen erlaubt, schildert Link in seinem Gutachten und erinnert an eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt, das von einer Stigmatisierung der Kinder sprach, die zunehmend in eine Außenseiterrolle gedrängt würden. Diese Ghettoisierung widerspreche dem Menschenbild des Grundgesetzes, welches das Leitbild der eigenverantwortlichen Persönlichkeit in ihrer Gemeinschaftsbezogenheit zum Bezugspunkt staatlicher Ordnung mache.

Statt dessen nimmt die Organisation die Eltern in die Pflicht und fordert sie sogar zur entsprechenden Züchtigung ihrer Kinder auf. Es verwundert daher nicht, daß auch Schulbildung und Ausbildung den Interessen der Organisation untergeordnet werden. Alle Bildungsgänge würden allein an der Verwertbarkeit im Zeugendienst gemessen, die Unterwürfigkeit gegenüber der theokratischen Herrschaft der Organisation gehe dem Kindeswohl vor, stellt Link fest. Hätte das Gericht die Zeugen Jehovas als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt, kämen auch sie als Träger der freien Jugendhilfe in Frage. Vorläufig hat das Bundesverwaltungsgericht dies ausgeschlossen. Da die Organisation beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde erhebt, ist der Bestand der bisherigen Entscheidung unklar. Der Kölner Jurist Thüsing hat bekräftigt, daß der Staat die verschiedenen Religionsgemeinschaften nur dann gleich behandeln kann wie die Kirchen, wenn sie nach den Wertungen der Verfassung wirklich gleich seien. Nur bei einer klaren Unterscheidung - von Kirchen und anderen - könne die gesellschaftliche Akzeptanz des Staatskirchenrechts auch für die Zukunft bewahrt werden.

Heike Schmoll
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.08.1997