Geräuschlos haben die Zeugen Jehovas die Prophezeihung aufgegeben, daß die Menschen, die 1914 erlebt haben, Gottes Reich auf Erden erleben werden, eine Hauptaussage, mit der bisher die Dringlichkeit der von der Sekte an den Haustüren ausgesprochenen Warnung vor dem nahen blutigen Ende der Welt begründet wurde.

Einige Ex-Zeugen sind sicher, daß die Änderung dieser Weltuntergangspredigt der 4,7 Millionen Mitglieder umfassenden Organisation schaden und langjährige Mitglieder beunruhigen wird, die persönliche und finanzielle Entscheidungen getroffen haben, die auf dem Versprechen basieren, wie würden bald in einem Paradies auf Erden leben.

Die fallgengelassene Glaubenslehre basierte auf der Interpretation biblischer Hinweise durch die Sekte, die sich auf eine "Generation” beziehen, die von den Zeugen mit dem Jahr 1914 in Verbindung gebracht wurde. Man erklärte, daß Gottes Reich auf Erden kommen werde, bevor diese Generation ausgestorben ist. Die jüngsten Menschen, die schon 1914 lebten, sind jedoch mittlerweile mindestens 80 Jahre alt. Hinzu kommt, daß sich ihre Reihen immer mehr lichten.

Ein ehemaliger Leiter der Zeugen Jehovas nannte das eine einschneidende Änderung, während ein ehemliger Zeuge als Milwaukee, der ein nationales Sorgentelefon betreibt, berichtete von Anrufen aus den Reihen von Mitgliedern, die diese Änderung beunruhigt hat. Die größte Aufregung gab es jedoch beim landesweiten Netzwerk der Ex-Zeugen, welche ständig die Sektenmagazine nach Änderungen in den Aussagen durchforsten.

Artikel in der aktuellen Ausgabe des Wachtturms, eines der Magazine der Zeugen Jehovasd, ließen die Lehrefallen, daß sich die biblischen Hinweise auf die 1914er Generation und auf die Lebensspanne dieser Generation beziehen würden. In der jüngsten Ausgabe des zweiten Magazins, "Erwachet”, wurde die langjährige Darstellung im Impressum durch eine Formulierung ersetzt, in der keine Frist für das Ende der Welt mehr genannt wurde.

"Ich habe mich immer gefragt, wie sie sich wohl aus 1914 herauswinden würden”, sagte George Weissmann, 62, der in Tujunga wohnt und die Organisation 1992 verlassen hat.

Robert Johnson, ein Wortführer der Zeugen-Weltzentrale in Brooklyn, sagte, die Änderung sei das Ergebnis einer überarbeiteten Interpretation der Heiligen Schrift. Johnson: "Es ändert nichts an unserer Überzeugung, daß wir in der Zeit des Endes leben.” Außerdem verneinte er, daß die Führung der Zeugen Jehovas ihre Lehre unter dem Druck einer mittlerweile betagten Generation korrigiert habe.

Jehovas zeugen sind "daran interessiert, warum und wie es zu dieser Entscheidung kam”, sagte Johnson, "aber es gebt meines Wissens keine Austritte und wir erwarten auch nicht, daß es dazu kommt.” Auch Harley Breneman aus Reseda, ein Kreisaufseher, dr für 21 Königreichssäle im westlichen San Fernando Valley und Thousand Oaks zuständig ist, sagte, daß er nicht mit irgendwelchen Problemen rechne. Brneman: "Bisher hat mir niemand irgendwelche Fragen gestellt.”

Johnson spielt edie Änderung mit dem Hinweis herunter, die Zeitangabe 1914 hätte nicht zu den Hauptlehren der Glaubensüberzeugung gehört. Dies bestreitet jedoch Ray Franz, ein ehemaliger Zeuge, der von 1971 bis 1980 zur Führungsspitze gehörte.

"Sie haben es mehr als 40 Jahre als unumstößliche Wahrheit hingestellt”, sagte Franz, der nach eigenen Angaben die Oerganisation 1980 in einer Situation des Gewissenskonfliktes verließ. "Das ist eine unbeheuer schwerwiegende Änderung nach all dieser Zeit”, sagte Franz. "Es begann damit, daß mit 'dieser Generation' ursprünglich nur die Menschen gemeint waren, die alt genug waren, um die Ereignisse von 1914 zu verstehen. Später wurden daraus dann alle, die in jenem Jahr geboren wurden.”

Jehovas Zeugen, die in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstanden, behaupteten während der meisten zeit ihrer früheren Geschichte, daß 1914 das Ende der alten Welt markiere und Jesus dann wiederkommen werde. Nachdem 1914 vorüber war, erklärte die Sekte, daß Jesus tatsächlich zurückgekommen wäre, jedoch im Himmel throne und die Zeugen Jehovas als seien Repräsentanten auf der Erde ansehe.

Seitdem gehen die Missionare der Gruppe von Tür zu Tür und erklären, es sei die ihnen von Christus auferlegte Aufgabe, alle diejenigen Schafe zu finden, die Glauben hatten und denen das ewige Leben verheißen sei, um sie von den Böcken zu trennen, für die es keine Rettung gebe.

Schließlich erklärte die Führung der Zeugen, die letzte große Drangsal von Harmageddon würde sich ereignen, bevor die Generation von 1914 vergangen sei. Als Beweis zitierten sie die Worte Jesu, sowie andere Bibelaussagen.

Doch die Rücknahme der Bedeutung dieses Jhres zeichnete sich schon in der Wachtturm-Ausgabe vom 15. Oktober ab. Darin wurde ein korrigiertes Verständnis der lange vertretenen Lehre von den Schafen und Böcken präsentiert. Stattdessen hieß es in der Zeitschrift, der himmlische Jesus werde irgendwann in der Zukunft die Guten und die Schlechten richten. "Jahrelang haben wir behauptet, daß wir diejenigen wären, die das tun”, sagte Weissman. "Wir haben es hier mit einer wirklich bedeutenden Änderung zu tun.”

In der gerade erschienen Ausgabe vom 1. November bezeichnete der "Wachtturm” die Doktrin von 1914 als etwas, was eher eine Spekulation als eine unumstößliche Lehre gewesen sei. Die Zeitschrift schrieb: "Jehovas Zeugen haben eine Zeitlang darüber spekuliert, wann die große Drangsal kommen würde. Dabei wurden auch Berechnungen über die Lebenserwartung der 1914er Generation angestellt.” Weiter hieß es: "Anstatt eine Vorschrift zur Festlegung der Zeit zu geben, wird der Begriff'Generation', so wie Jesus ihn verwendete, auf alle Zeitgenossen einer bestimmten geschichtlichen Epoche mit all ihren spezifischen Merkmalen angewandt.”

Dies wurde von einer Änderung des letzten Satzes im Impressum mit der Ausgabe vom 8. November des "Erwachet” begleitet. Jahrelang stand dort zu lesen: "Vor allem aber stärkt diese Zeitschrift das Vertrauen zum Schöpfer, cer verheißen hat, noch zu Lebzeiten der Generation, welche die Ereignisse des Jahres 1914 erlebt hat, eine neue Welt zu schaffen, in der Frieden und Sicherheit herrschen werden.” In der neueren Version ist jetzt die Rde von "einer friedlichen und sicheren neuen Welt, die das gegenwärtige gottlose und gestzlose System ersetzt.”

Jehovas Zeugen, von ihnen gab es 1994 allein in den USA 900.000, hatten auch schon ähnliche Harmageddon-Prophezeihungen bezüglich 1925 und 1975 aufgegeben. Darauf wies in diesem Zusammenhang James Penton, Theologieprofessor an der Universität Lethbridge in Alberta, Kanada, hin.

"Sie verloren zwischen 1925 und 1928 schätzungsweise drei Viertel ihrer Mitglieder und auch nach 1975 erlitten sie hohe Verluste, weil das Ende, von dem sie immer und immer wieder gesprochen hatten, wieder nicht gekommen war”, sagte Penton, ein ehemaliger Zeuge Jehovas, der Beiträge für amerikanische Lexiken über die Zeugen schreibt.

Die neue Lehre über 1914 mag sich für die Zeugen Jehovas nicht so verhängnisvoll auswirken, wie jene Ereignisse, aber nach Pentons Auffassung werden sie nicht mehr so viel Druck ausüben können, damit die Mitglieder von Haus zu Haus gehen: "Es wird sich negativ auf ihr Weltuntergangspredigen auswirken”.

Ex-Zeugen wiesen darauf hin, daß die Sekte Mitglieder davon abhielt, höhere Schulen zu besuchen und finanzielle Rücklagen zu bilden, da das Paradies unmittelbar vor der Tür stehe. Wer sich dagegen auflehnte, riskierte angeblich einen Gemeinschaftsentzug. Claire, die Frau von George Weissman, die die meiste Zeit ihres Lebens bei den Zeugen Jehovas verbracht hat, glaubt, daß die meisten die Änderung hinnehmen werden: "Sie werden genau das sagen, was ihnen der Wachtturm sagt.”

George Weissman fügte aus Erfahrung hinzu: "Immer wenn etwa, was sie sagen, bei dir ungute Gefühle hervorruft, dann sagen die Leiter, es handle sich um Dinge, die Jesus zur gegebenen Zeit korrigieren werde, wenn sie sich als falsch erweisen.” Weissman: "Als ich zu viel ungute Gefühle hatte, habe ich aufgegeben.”

Los Angeles Times vom 21.10.95
Übersetzung: Heinz-Peter Tjaden