Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
mit großer Freude nehmen wir die „Schöpfungswoche - Mensch und Natur“ zur Kenntnis, deren Schirmherr Sie sind. Zwischenmenschliche Toleranz und Abbau von Vorurteilen sind ein wichtiges gesellschaftliches Thema.

Mit Sorge allerdings erfüllt uns ein Blick auf die Teilnehmerliste dieser Woche, taucht hier doch eine Gruppe auf, die unter Sektenexperten schon lange als hochproblematisch gilt: Die Zeugen Jehovas. Die kürzlich erfolgte Zuerkennung der sog. „Körperschaft des Öffentlichen Rechts“ im Land Berlin hat an der zugrunde liegenden Problematik der Gruppe nichts geändert.

Die Unterzeichner sind persönlich in der Sektenaufklärung und Ausstiegshilfe aktiv. Nahezu täglich erzählen uns Menschen, die bei den Zeugen Jehovas aussteigen wollen, wie sie bereits als Kinder indoktriniert wurden. Viele von ihnen berichten, wie sie um eine höhere Schulbildung gebracht wurden.

Seit Jahren veranstalten wir gemeinsam mit Diplompsychologen Seminare für Sektenaussteiger. Dabei erfahren wir immer wieder aufs Neue, dass Zeugen Jehovas angehalten werden, ihren Freundeskreis nur innerhalb der Zeugen zu suchen. Im Falle des Austritts besteht für alle anderen Mitglieder ein Kontaktverbot. Soziale Isolation ist oft die Folge.

Kindererziehung, das Thema Bluttransfusion und viele weitere Themen runden das Bild einer gefährlichen Sekte ab.

Der Tenor der Präambel Ihrer Veranstaltung „Die im Forum vertretenen Glaubensgemeinschaften respektieren die bestehenden Unterschiede der Mitgliedsgemeinschaften“ erscheint vor diesem Hintergrund – zumindest für einige Ihrer Teilnehmer - mehr als Alibi denn ernst gemeint.

So stellten die Zeugen Jehovas erst 2006 auf ihrem „Sonderkongress“ fest: Wir lehnen es entschieden ab, uns an den ergebnislosen ökumenischen Bestrebungen oder an gesellschaftlichen Plänen und Programmen zu beteiligen.

Wir bitten Sie, bei künftigen, ähnlich gelagerten Veranstaltungen im Vorfeld durch eine kritische Überprüfung sicherzustellen, dass die Gelegenheit zur harmlosen Selbstdarstellung nicht durch Organisationen missbraucht wird, die ganz eigene Ziele verfolgen, welche nicht mit den allgemein akzeptierten Wertvorstellungen unserer Gesellschaft übereinstimmen.

Wir laden Sie herzlich ein, sich z.B. auf unseren Websites oder bei einem unserer vielen Aussteigertreffen bundesweit ein persönliches Bild von den Ängste und Sorgen eines „typischen“ Aussteigers der Zeugen Jehovas zu machen und so einen ungefähren Einblick in die inneren Strukturen der Sekte zu erhalten.

Selbstverständlich sind wir auch gern bereit, Ihnen für ein persönliches Gespräch zur Verfügung zu stehen.

Mit freundlichem Gruß
Michael M. Drebing
Netzwerk Sektenausstieg e.V.
Vorsitzender des Vorstands
Steinstr. 4, 15374 Müncheberg
www.sektenausstieg.net
Ursula Meschede
Vorsitzende des Vorstands
AUSSTIEG e.V.
Bienwaldstr. 16, 76187 Karlsruhe
www.ausstieg-info.de
Inge Marie Mamay
Vorsitzende des Vorstands
Odenwälder Wohnhof e.V.
Unterer Flachsberg 15, 74743 Seckach-Zimmern
www.wohnhof.de
Solveig Prass
Geschäftsführerin, Eltern- und Betroffenen-Initiative gegen psychische Abhängigkeit Sachsen e.V.
Lessingstr. 7, 04109 Leipzig
www.ebi-sachsen.de


Der Oberbürgermeister der Stadt Ingelheim am Rhein
21.05.2008
Schöpfungswoche 2008 Ingelheim
Ihr Schreiben vom 09.05.2008
Sehr geehrte Her Drebing,

ich bedanke mich recht herzlich für Ihr Schreiben, denn Ihre Kritik an den Jehovas Zeugen nehme ich sehr ernst.

Die Schöpfungswoche, dessen Schirmherr ich bin, basiert auf einem langjährigen Prozess im Rahmen der Lokalen Agenda 21 in Ingelheim.

Ich bin der festen Überzeugung, dass unsere Schöpfungswoche dazu beiträgt, sich mit den unterschiedlichsten Vorstellungen unseres daseins auseinanderzusetzen. Dazu gehören auch die Jehovas Zeugen, die einen Bestandteil unseres gemeinschaftlichen Lebens in Ingelheim darstellen.

Im Rahmen der Vorbereitung zur Schöpfungswoche haben sich nach meinem Kenntnisstand die Jehovas zeugen nie vor offen geführten Diskussionen versteckt.

Ein Indiz für ihre Offenheit ist, dass auch alle Veranstaltungen im Rahmen der Schöpfungswoche öffentlich zugänglich sind und Teilnehmer nicht ausgeschlossen werden. Auch für die Fahrt zur Deutschlandzentrale nach Selters/Taunus wedren die Anmeldungen über das Weiterbildungszentrum Ingelheim abgewickelt, so dass jeder Interessierte, sofern er sich rechtzeitig anmeldet, mitfahren kann.

Selbstverständlich haben auch Sie die Möglichkeit sich im Rahmen der Schöpfungswoche kritiswch mit den Inhalten der Veranstaltungen auseinanderzusetzen. Ich lade Sie hiermit herzlich zu den Vorträgen und Angeboten ein.

Gerne bin ich auch bereit darüber mit Ihnen ein persönliches Gespräch zu führen.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Joachim Gerhard
Oberbürgermeister


Kommentar:

Nicht jeder, der sich ein Mäntelchen der Harmlosigkeit umlegt, ist auch harmlos.

Oder sollte es in Ingelheim "Bestandteil des gemeinschaftlichen Lebens" sein, dass Menschen verbluten müssen, weil ihre Religion ihnen eine Bluttransfusion verbietet? Ist es in Ingelheim "Bestandteil des gemeinschaftlichen Lebens", dass man sich den gesellschaftlichen Plänen und Programmen verweigert? Oder ist es in Ingelheim "Bestandteil des gemeinschaftlichen Lebens", jungen Menschen von einer höheren Schulbildung abzuraten?

Dann sollte der Herr Oberbürgermeister dringend über das "gesellschaftliche Leben" in seiner Heimatstadt nachdenken...