In vielen seiner Artikel betont Dr. Introvigne, wie entscheidend für ihn die Notwendigkeit einer wissenschaftliche Herangehensweise, Aufarbeitung und Bewertung religions‐ bzw. menschenrechtlicher Probleme ist. Direkt oder indirekt bringt er damit zum Ausdruck, dass er dies im Gegensatz zu vielen anderen tut und gewissermaßen Fachmann für solche Aufgaben ist.
Im verlinkten Artikel "man gibt den Opfern die Schuld ‐ Schießerei in Hamburg und Jehovas Zeugen" vom 4. November 2023 beginnt er seine Ausführungen aber wenig sachlich und wissenschaftlich sondern mit einer klaren Verurteilung.
Man gibt den Opfern die Schuld: Schießerei in Hamburg und Jehovas Zeugen ‐ Wie leicht vorauszusehen war, nutzten Vertreter von Anti‐Sekten‐Vereinigungen sogar das Massaker vom 9. März in Deutschland schamlos aus, um Jehovas Zeugen anzugreifen.
Er argumentiert weiter:
Während Religionswissenschaftler seit langem wissen, dass Spekulationen über die psychische Gesundheit verstorbener Personen auf Grundlage religiöser Texte, die sie verfasst haben, zwecklos sind – wir haben keine Möglichkeit, im Nachhinein zu erfahren, warum sie ihre Werke verfasst haben, in welchem Kontext und für welches Publikum sie gedacht waren...
Dieses Argument klingt inhaltsvoll, ist aber leer. Über die psychische Gesundheit von Herrn Fusz zu spekulieren ist in Wirklichkeit überflüssig. Er hat sie durch seine Tat bewiesen. Seine Texte zu analysieren bringt nur ergänzend Einblick in seine Denkwelt. Und er hat sie als Buch veröffentlicht. Sein Publikum war demzufolge die Öffentlichkeit, respektive jeder, der sich dafür interessierte.
Mit diesem Argument belegen zu wollen, Kritiker würden sich für ihre Sache sozusagen in unwissenschaftliche Spekulationen versteigen, geht an der einfachen Tatsache vorbei, dass es gar keiner Spekulation bedarf. Verklausuliert verleiht dieses Argument aber Kritikern pauschal den Schein von schadenstiftenden Möchtegernwissenschaftlern. Aber nur weil jemand eine Religion kritisiert, sagt er noch lange nicht die Unwahrheit, ebenso wie jemand, der sie schützt, noch lange nicht die Wahrheit sagt.
Während die Waffengesetzgebung nach der Schießerei in Hamburg eindeutig die wichtigste politische Frage war, versuchten einige so genannte „Sektenexperten“, Jehovas Zeugen die Schuld zuzuschieben...
Dieses Argument vermittelt den Eindruck als würden Kritiker eine Nebenfrage zur Bühne für ihr Schlechtreden machen. Die Frage nach dem Tatmotiv hat aber nicht weniger Berechtigung als die nach dem Waffenbesitz. Politiker und Rechtsexperten hinterfragen naturgemäß eher den Waffenbesitz, Personen mit beruflichem oder persönlichem Kulthintergrund logischerweise eher das Motiv und den Kultzusammenhang. Das ist per se weder ehrenrührig noch böswillig. Auch ohne Akademiker zu sein hat ein „Sektenexperte“ einen Wissenshintergrund, zu dem u.a. persönliche Erfahrungen Betroffener gehören. Ihm unmotivierte Schuldzuweisung zu unterstellen, drückt eine feststehende eigene Meinung ohne die wissenschaftliche Distanz aus, die Herr Introvigne für sich beansprucht. Auf beiden Seiten sollte Argumenten und Belege und deren Belastbarkeit entscheidend sein.
Die von mir zitierten Artikel machen deutlich, dass die Vertreter der Anti‐Sekten‐Vereinigungen über keine täterbezogenen Informationen über das hinaus verfügten, was bereits von den Mainline‐Medien veröffentlicht worden war. Sie haben nur spekuliert und ihrem Pawlowschen Reflex gehorcht, der sie zu der Behauptung veranlasst, dass „Sektenanhänger“ in irgendeiner Weise selbst schuld seien, wenn sie geschlagen oder getötet würden.
Herr Introvigne besitzt sicher nicht mehr täterbezogene Informationen, als die, die er kritisiert. Wenn deren Fehlen allein genügt, den Kritikern die Kompetenz und damit das Recht zur Kritik abzusprechen, gilt das gleichermaßen auch für ihn als Verteidiger. Wenn Herr Introvigne auf dieser Basis Spekulation und reflexhaftes Verhalten unterstellt, muss er sein Urteil über Sektenexperten nicht weniger „spekulativ“ und „reflexhaft“ nennen lassen.
Abgesehen davon wird kein seriöser Kritiker behaupten, Sektenanhänger hätten es verdient, geschlagen oder getötet zu werden. Er würde sich damit moralisch disqualifieren. Und er würde sich auf dieselbe Stufe mit einer Religion stellen, die sagt: „Das Gesetz des Landes und das durch Christus kommende Gesetz Gottes verbieten es uns, Abtrünnige zu töten, selbst wenn es eigene Familienangehörige nach dem Fleische wären.“, was ja ausdrückt: Wenn es uns nicht verboten wäre, würden wir es tun. Unseriöse Kritiker hingegen als Argument zur Verurteilung seriöser Kritiker zu benutzen, wäre selbst unseriös.
Die Schießerei in Hamburg ereignete sich einen Tag nach dem 8. März, dem Internationalen Frauentag. Jedes Jahr wird man an diesem Gedenktag unter anderem aufgefordert, darüber nachzudenken, wie viele Frauen von ihrem Ex‐Partner getötet werden, nachdem sie ihn verlassen oder ihm gedroht hatten, ihn zu verlassen. Das betrifft weltweit mehr als 40.000 pro Jahr. Das „Verbrechen“, für das diese Frauen starben, besteht darin, dass sie ihre ehemaligen Partner aus ihrem Leben ausgeschlossen haben (was wir im religiösen Bereich mit „Gemeinschaftsentzug“ übersetzen können) und sich weigerten, weiter mit ihnen Umgang zu pflegen („Shunning“ oder „Ostrazismus“).
Wer behauptet, diese Frauen seien für ihr Schicksal selbst verantwortlich, weil sie ihren Ex‐Partner „destabilisiert“ hätten, indem sie ihn aus ihrem Leben ausgeschlossen hätten, würde zu Recht einer abscheulichen Form von Hassrede beschuldigt werden können. Diejenigen, die nach dem Hamburger Massaker den Opfern, d.h. Jehovas Zeugen, die Schuld geben, verdienen es nicht, milder behandelt zu werden.
So überzeugend dieses Beispiel klingt, in Wahrheit ist es eine rhetorische Falle. Das Ende einer Beziehung zwischen Mann und Frau ist selten problemlos, aber seit es Menschen gibt ein unvermeidbares Phänomen sozialer Interaktionen. Menschen kennen es und sind dafür ausgerüstet, es zu bewältigen. Verbleibende soziale Kontakte unterstützen sie als moderierende Elemente dabei. Auch wenn es Ausnahmen gibt, ist das Beispiel zur Veranschaulichung ungeeignet, weil eine ideologisch motivierte, umfassende soziale Abschneidung, sogar bis in die Familie (auch wenn das offiziell bestritten wird) und ohne Möglichkeit zur Gegenwehr eine ganz andere Herausforderung ist.
Sie belastet die meisten Menschen ungleich schwerer, überfordert sie teilweise. Außerdem wird kein vernünftiger Mensch behaupten, eine ermordete Frau oder die Opfer von Herrn Fusz seien an ihrem Tod selber schuld. Letztere waren nur zur falschen Zeit am falschen Ort, als sich die zweifellos gestörten Emotionen des Täters in der Tat entluden.
Ein solches Beispiel verdreht den Sachverhalt. Auf diese Weise jemanden der „abscheulichen Hassrede“ zu „überführen“, ist rabulistische Dialektik – eine rücksichtslose Rhethorik, die zur Durchsetzung der Sicht des Argumentierenden logische und moralische Grenzen überschreitet.
Ich würde jedoch vorschlagen, auch gegen diejenigen zu ermitteln, die durch die öffentliche Verleumdung von Jehovas Zeugen und deren Darstellung als ein Übel, das um jeden Preis ausgerottet werden müsse, langsam den Attentäter dazu gebracht haben mögen, seinen Finger an den Abzug der Waffe zu legen und abzudrücken.
Es muss erlaubt sein zu überlegen, warum der Täter den Königreichsaal bzw. die dort Anwesenden unterschiedslos angegriffen hat. Er hätte jeden anderen Ort wählen können, hat aber diesen gewählt. Und er hatte einen dazu passenden persönlichen Erlebnishintergrund. Ein Zusammenhang ist also mehr als nur naheliegend. Das zu thematisieren ist deshalb auch mehr als „Mutmaßung“ und „Spekulation“ sondern ein Richtungsansatz. Wer das äußert betreibt nicht „Anti‐Kultismus“ und erhebt schon gar keine „Hassrede“.
Hingegen vorzuschlagen, gegen solche Menschen „zu ermitteln“, sie „Verleumder“ und ihre Aussagen „ein Übel, das um jeden Preis ausgerottet werden müssen“ zu nennen, sie unmißverständlich der geistigen Brandstiftung hinter dem Finger am Abzug der Waffe zu beschuldigen, überschreitet jedes seriöse und vertretbare Maß. Nach dieser Definition wäre jeder Kriminalroman oder ‐film eine Inspiration und Ansporn, den Finger an den Abzug zu legen. Eine solche Wortwahl verlässt den Boden der Sachlichkeit und der Wissenschaftlichkeit und ist mehr als tendenziös.
Es ist auch weder sachlich noch angemessen, „die Zeugen Jehovas“ als Opfer darzustellen. Weder die Organisation der Zeugen Jehovas noch ihre Lehre und auch nicht alle Zeugen Jehovas sind „Opfer“. Opfer sind diejenigen, die das Ereignis direkt erlebt haben, verletzt oder getötet worden sind. Eine solche Interpretation ist ein Aufbauschen, eine Übertreibung, um eine Diskriminierung, Menschenrechtsverletzung und ähnliches zu argumentieren.
Der Artikel ist eine eloquente Herabwürdigung anderer Meinungen. Insgesamt spiegelt er nicht die wissenschaftliche Sachlichkeit, auf die Herr Introvigne seinen Worten nach größten Wert legt. Herr Introvigne mag großes Wissen über Religionen und Kulte besitzen, aber in seiner Leidenschaft jede Diskriminierung zu bekämpfen, überschreitet er rote Linien.
Bei allem Respekt für das Engagement und die Notwendigkeit zur Verteidigung der Glaubensfreiheit und der Menschenrechte fehlt mir vor allem die Berücksichtigung, wie sich die Lehren der Religionen und Kulte, die verteidigt werden, auf Menschen und Gesellschaft auswirken bzw. sie verändern. Um es überspitzt auszudrücken: Wie eine Welt unter dieser Idee aussehen würde.
Massimo Introvigne (geboren am 14. Juni 1955 in Rom), italienischer Religionssoziologe
Gründer und geschäftsführender Direktor des Zentrums für Studien über neue Religionen (CESNUR)
Autor von etwa 70 Büchern und mehr als 100 Artikeln auf dem Gebiet der Religionssoziologie
Hauptautor der Enzyklopädie der Religionen in Italien
Mitglied des Redaktionsausschusses der Interdisziplinären Zeitschrift für Religionsforschung
Mitglied des Vorstands von Nova Religio der University of California Press
Beauftragter für die Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung der OSZE (5. Januar bis 31. Dezember 2011)
Vorsitzender der vom ital. Außenministerium eingerichteten Beobachtungsstelle für Religionsfreiheit (2012 bis 2015)