Die in Turin/Italien ansässige Organisation CESNUR wird in Fachkreisen allgemein als das "Kartell der Sekten" bezeichnet. Hier trifft sich alles, was in der internationalen Sektenszene Rang und Namen hat.
Und dazu gehört auch die Wachtturm-Gesellschaft, die neben Scientology, den Mormonen und den Moonies im offiziellen Programm der CESNUR-Konferenz im September 1998 erschien.
Geplant war ein Vortrag mit dem Thema "Jehovas Zeugen: Soziologische und rechtliche Perspektiven". Rechtsanwalt Alain Garay aus Paris sollte über "Die Bulgarischen Zeugen Jehovas und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte" referieren. Außerdem stand Rechtsanwältin Carolyn R. Wah aus Patterson, New York, auf dem Programm. Ihr Vortrag trug den Titel "Jehovas Zeugen: Muster und Trends im Verhältnis zu den öffentlichen Autoritäten".
Doch aus all dem wurde nichts. Die WTG hatte nämlich sämtliche Redner in letzter Minute zurückgepfiffen, so daß die Zeugen Jehovas auf der CESNUR-Konferenz 1998 nicht vertreten waren.
Ein ehemaliger Zeuge Jehovas fragte CESNUR nach den Gründen für die Absage der WTG. In einem Schreiben teilte die Organisation mit, daß sich die Weltzentrale der Wachtturm-Gesellschaft in Brooklyn, New York, dazu entschlossen hätte, der Konferenz fernzubleiben, nachdem ihre Teilnahme öffentlich bekannt geworden sei.
Grund für die Entscheidung war ein Artikel in der amerikanischen Zeitschrift Comments from the Friends, die von Zeugen-Jehovas-Aussteiger David Reed herausgegeben wird und in den USA große Verbreitung findet.
Der Artikel, der auch auf der Website des Magazins nachgelesen werden kann, trug den Titel: "Jehovas Zeugen beteiligen sich an gemeinsamen Aktivitäten von Religionen in den USA und Europa". Er bezog sich auf die Aussage der WTG, die Zeugen Jehovas wären "kein Teil dieser Welt" und würden sich daher auch nicht mit der "falschen Relgion" auf eine Stufe stellen und fragte, wie sich wohl die Teilnahme von Wachtturm-Vertretern auf der CESNUR-Konferenz zusammen mit Scientology, den Moonies, der New-Age-Bewegung und okkulten Gruppierungen mit dieser Glaubensdoktrin in Einklang bringen lasse.
Auch Netzwerk Sektenausstieg e.V. hatte bereits im Vorfeld der Konferenz in einem Artikel auf die Teilnahme von WT-Vertretern hingewiesen.
Wer die Aktivitäten der WTG mit offenen Augen verfolgt, der weiß auch, daß man es in Brooklyn mit den eigenen Glaubensgrundsätzen noch nie so ernst genommen hat, wenn es um die Wahrung der eigenen Interessen ging. So hatte man offensichtlich keine Probleme damit, sich mit dem umstrittenen Fernsehprediger Jim Swaggart zusammenzuschließen, um die Besteuerung der eigenen Literatur zu verhindern. In Deutschland veranstaltete man Podiumsdiskussionen zur Rolle der Zeugen Jehovas im Dritten Reich und ließ dabei die Religionswissenschaftlerin Dr. Gabriele Yonan ein wohlwollendes Referat vortragen. Und das, obwohl man wußte, daß es sich dabei um eine Scientologin (zumindest aber um eine den Scientologen nahe stehende Person) handelte, die sich zudem widerrechtlich als Mitarbeiterin der Freien Universität Berlin bezeichnen ließ.
Daß den den Verantwortlichen in Brooklyn in letzter Stunde das Gewissen geschlagen hat, oder gar eine "erweiterte Erkenntnis" gekommen ist, kann man angesichts dieser Vergangenheit wohl getrost ausschließen. Wahrscheinlicher ist vielmehr, daß ihnen die Teilnahme an der CESNUR-Konferenz zu heiß geworden, nachdem die Sache eine derart unerwartete Publizität erhalten hat.
Wie es aussieht, will CESNUR die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Am 3. November 1998 erhielt nämlich David Reed ein Schreiben von einer Rechtsanwalts-Kanzlei in Salt Lake City, Utah, in dem es mit Bezug auf seinen Artikel in Comments from the Friends hieß:
Es ist offensichtlich, daß Sie versucht haben, mit Hilfe von Falschdarstellungen bestimmte Personen einzuschüchtern, um sie von der Teilnahme an der Konferenz abzuhalten. Als Folge dieser Falschdarstellungen ist CESNUR und seinen Direktoren und Verantwortlichen ein Schaden entstanden."
Dabei wurde weder gesagt, welche Aussagen des Artikels als "Falschaussagen" betrachtet wurden, noch um welche Art von Schaden es sich handelt. Der Brief endete in der Forderung nach einer Gegendarstellung:
Andernfalls wird CESNUR geeignete Maßnahmen in den USA und Europa ergreifen.
Der Fall erinnert an CAN, das ehemalige amerikanische Cult Awareness Network, das von Scientology so lange mit Klagen überzogen wurde, bis die Organisation finanziell ruiniert war und ihre Tätigkeit aufgeben mußte. Heute meldet sich unter der Hotline von CAN ein Büro von Scientology...