Umstrittene Sekte: Die Zeugen Jehovas waren Thema einer Buchlesung

MEININGEN - Fast jeder hat schon Bekanntschaft mit ihnen gemacht. Sie sind ausgesprochen nett und zuvorkommend. Und meistens zu zweit, wenn sie einem an der Haustür ihren Glauben wie einen Staubsauger aufschwatzen wollen.

Das war’s auch schon, was die meisten über die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas wissen. Ulrich Rausch ist einer, dem das nicht genügt hat. Seit 14 Jahren setzt sich der Theologe mit der umstrittenen Sekte kritisch auseinander. Auf Einladung des Baumbachhauses stellte er am Dienstag abend im "Sächsischen Hof" vor rund 100 Zuhörern sein Buch "Die Zeugen Jehovas – Ein Sektenreport" vor.

Die meisten Besucher waren längst gegangen, da lieferte sich der Autor noch hitzige Wortgefechte mit einem Vertreter der Zeugen Jehovas. Der Mann warf Rausch Intoleranz gegenüber Andersgläubigen vor. "Es geht nicht um die Verfolgung einer religiösen Minderheit", hatte Ulrich Rausch während seiner Lesung und der anschließenden Diskussion mehrfach betont. Es gehe um eine kritische Beschreibung. "Ich betrachte das als eine Art religiöser Verbraucherberatung. Und die meisten Sekten sind nun mal Mogelpackungen", so der katholische Gemeindebegleiter, der aus dem Raum Frankfurt kommt.

In sechs Lebensgeschichten erzählt Rausch in seinem Buch, wie es Männern und Frauen, Alten und Jungen bei den Zeugen Jehovas ergangen ist. Nicht alles, was er während seiner Recherchen herausfand, ist so harmlos wie die Theorie der Sekte vom Weltuntergang. Nach Auffassung der Zeugen Jehovas werden alle "Ungläubigen" während eines apokalyptischen Gemetzels – dem Harmagedon – elend zugrunde gehen. Nur die Zeugen werden gerettet.

Gefangensein im Glaslabyrinth – so wird im Buch das Leben der Sekte charakterisiert. Der Mensch wird manipuliert, sein Tun streng durch Verbote reglementiert. Die Sekte bestimmt, mit wem man Kontakt pflegen darf, fordert Opfer. Den Ausgang des Labyrinths zu finden ist alles andere als einfach.

Gefangen im Labyrinth

In Extremfällen kann der Glaube Menschen das Leben kosten, schilderte Rausch. Zum Beispiel lehnen die Zeugen Jehovas Bluttransfusionen strikt ab. Österreichische Eltern verweigerten ihrem kranken Baby in einer Linzer Kinderklinik die lebensnotwendige Maßnahme und ließen das Kind sterben. Eine andere Mutter mit Komplikationen bei der Geburt drohte ihrem Arzt, wenn er dem Kind eine Bluttransfusion gebe, werde sie es verstoßen. Der Arzt rettete dem Baby trotzdem das Leben. "Die Frau, die später aus der Sekte austrat, ist ihm bis heute dafür dankbar", erzählte der Theologe.

In seinem Buch weist er den Zeugen nach, daß sie ihre eigenen Lehren nach Belieben über den Haufen werfen, "um nicht von der Zeit überrollt zu werden." So sei der Weltuntergang, der eigentlich schon 1975 eintreten sollte, kurzerhand verschoben worden. "Hinterher wurde einfach abgestritten, daß dieses Datum je eine Rolle gespielt habe".

Außerdem würden sich die Zeugen in einem Netz aus Widersprüchen verstricken. "Kein Teil dieser Welt zu sein, ist für sie einerseits verständlich", führte der Theologe aus. Andererseits versuche die Sekte derzeit vor Gericht zu erstreiten, als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt zu werden. Schließlich bringt der damit verbundene Status einer Kirche viele – weltliche – Vorteile.

Am Ende des Buches steht die Erkenntnis, daß die Geschichte der Zeugen Jehovas wohl kaum mehr als eine "endlose Geschichte der Irrtümer, Manipulationen und Vertuschungen" ist.

Finanzieller Vorteil

Das sahen die anwesenden Mitglieder der Glaubensgemeinschaft anders. "Ich habe den Eindruck, daß derzeit in Deutschland eine Hetze auf religiöse Minderheiten stattfindet", reagierte Wolfgang Depta vom Informationsdienst der Zeugen Jehovas auf die Ausführungen. Im Zusammenhang mit den Vorwürfen, die Sekte habe wegen des Bluttransfusionsverbots Menschenleben auf dem Gewissen, erklärt er: "Ich kenne sehr viele Fälle, in denen das gut ausgegangen ist. Und jeder Mensch hat das Recht, selbst zu entscheiden, welche medizinische Versorgung er will."

"Natürlich ist die Wahl des Glaubens eine persönliche Entscheidung", so Ulrich Rausch. Für ihn steht jedoch fest: "Wer sagt: Wir sind kein Teil der Welt, wir hoffen, daß diese verdammte Welt untergeht – und dann um Anerkennung als Kirche kämpft, der sucht nicht den Schutz des Staates, sondern den eigenen finanziellen Vorteil."

Die Organisation, deren Zentrale sich in Brooklyn/New York befindet, hat in Deutschland gegenwärtig etwa 200.000 Mitglieder. Im Kreis Schmalkalden-Meiningen sollen es mehrere hundert sein, in Meiningen und Umland rund 60.

Christiane Carl
M T B vom 06.03.1997