Die Wachtturm-Gesellschaft schnippte mit dem Finger und über 100.000 Zeugen Jehovas in Frankreich strömten vom 29. bis 31. Januar 1999 ein ganzes Wochenende lang aus, um das Land mit einer beispiellosen Traktataktion zu überziehen.

Das Thema: "Franzosen, ihr werdet irregeführt". Der Inhalt: "Protest gegen die unehrliche Art, in der ihre christliche Religion seit 1995 mit gefährlichen Sekten in Zusammenhang gebracht wird."

Der Protest richtet sich gegen die angeblich "falschen und verleumderischen Erklärungen von einer Handvoll Parlamentsmitglieder am 15. Dezember 1998 während einer Debatte der Nationalversammlung über die überfällige Einrichtung einer neuen parlamentarischen Kommission zur Untersuchung von Finanzen, Vermögen und fiskalischem Verhalten von Sekten." Dabei kritisierte man als "unakzeptabel", daß in der Nationalversammlung gesagt wurde, daß "Die Finanzierung der Zeugen Jehovas auf Spenden beruht, die an das amerikanische Mutterhaus geschickt werden, sowie auf den Zugriff der Sekten auf die Bankkonten ihrer Mitglieder." Diese Aussage sei "Falsch und verleumderisch," fährt das Pamphlet fort und behauptet: "Nicht ein einziger Franc ist je in die Vereinigten Staaten geschickt worden. Alle Mittel werden in Frankreich oder für die Unterstützung von Menschen in Afrika ausgegeben."

Daß ausgerechnet die Zeugen Jehovas Geld "zur Unterstützung von Menschen in Afrika" aufwenden, dürfte wohl selbst den Hardlinern unter ihnen unglaubwürdig vorkommen. Schließlich lehrt man den Zeugen Jehovas, daß es wenig Sinn habe, diese satanische Welt zu unterstützen, da sie ja ohnehin bald in der "Schlacht von Harmagedon" vernichtet würde. Vermutlich verbirgt sich jedoch hinter dieser karitativ klingenden Floskel nur die simple Tatsache, daß man in Frankreich Zeitschriften produziere, die in Afrika vertrieben werden.

Daß nicht ein einziger Franc je in die USA geschickt wurde, dürfte wohl ebenfalls in die Welt der Fabel gehören. Vermutlich geht man in Frankreich ebenso vor, wie in den übrigen Ländern. Man verwandelt Spenden in Kosten, indem man sogenannte Lizenzgebühren an das amerikanische Mutterhaus zahlt - für das Recht, den Wachtturm drucken zu dürfen.

"Der Verkauf des Wachtturms bringt 14 Millionen Francs pro Monat und der des Erwachtet weitere 50 Millionen Francs" wird weiter aus der Debatte des französischen Parlaments zitiert. Gefolgt von einem erneuten "Falsch, verleumderisch und absurd. Unsere Publikationen werden kostenlos abgegeben."

Natürlich verkneift man sich den Hinweis darauf, daß man natürlich auch in Frankreich von den Mitgliedern erwartet, für die im Königreichssaal erhaltene Literatur eine Spende zu entrichten. Damit stimmt es zwar, daß die Literatur kostenlos abgegeben wird. Aber eben nur an der Tür.

Doch die Entrüstung geht weiter: "Die neuerliche Verurteilung von Zeugen Jehovas ist vor allem auf die Tatsache zurückzuführen, daß sie mehrere hundert unbezahlte Arbeiter ohne soziale Absicherung einsetzten und ihre Produkte daher mit erheblichem Gewinn verkaufen konnten." Auch an dieser Stelle folgt ein dickes "Falsch und verleumderisch. Alle Mitglieder unserer religiösen Gemeinschaft in Louviers sind an einer rein nichtkommerziellen Aktivität beteiligt und sind sozialversichert."

Ob das so ganz stimmt, mag man bezweifeln. In Deutschland zumindest sind die Mitarbeiter der Großdruckerei in Selters nicht sozialversichert. Sie werden lediglich - auf der Basis ihres lächerlichen Einkommens - nachversichert, falls sie ihre Tätigkeit aufgeben sollten. Auch in Frankreich richtete sich die Anschuldigungen der Steuerbehörden gegen diese Praxis, die letztendlich dazu führt, daß ehemalige Bethel-Mitarbeiter im Alter zum Sozialfall werden und folglich dem Staat auf der Tasche liegen.

Der zweite große Protest richtet sich gegen die angeblich "falschen Erklärungen von Jean-Pierre Brard, Parlamentsabgeordneter aus Seine-Saint-Denis, die man kürzlich über zahlreiche Radiostationen hören konnte." Dort hatte der Genannte nämlich gesagt: "Jehovas Zeugen bilden eine der gefährlichsten Sekten, die für zahllose Selbstmorde verantwortlich sind."

Klar, daß man das nicht so stehen lassen konnte. Und so bezieht man sich auf ein Versailler Berufungsgericht, nach dem diese Aussage "ohne Zweifel diffamierender Natur" sei. Verschwiegen wird dabei allerdings, daß diese Aussage nicht von dem genannten Parlamentsabgeordneten stammt, sondern dem französischen Sektenbericht entnommen wurde. Einem Bericht also, an dem mehrere unabhängige Fachleute gearbeitet haben und der eindeutig zu der Schlußfolgerung kommt, daß die Zeugen Jehovas als gefährlich einzustufen seien. Dieser Bericht wurde jedoch nie als diffamierend eingestuft. Wenn man die Zitatpraxis der WTG kennt, darf also daran gezweifelt werden, ob sich das Gericht wirklich in diesem Sinne ausgedrückt hat. In Anführungszeichen stand die Aussage zumindest nicht.

Auch das eigentliche Thema, das größte Problem, das die Zeugen Jehvoas zur Zeit in Frankreich haben, wurde natürlich nicht ausgespart: "Mit Steuern konfrontiert, schreien die Zeugen Jehovas wie Schweine, denen man den Hals durchgeschnitten hat," wird das Parlament zitiert. Und: "Betrug ist vermutlich das geringste Verbrechen, das Zeugen Jehovas begangen haben."

Interessanterweise bezieht man zu diesem Vorwurf überhaupt nicht Stellung. "Wir überlassen es Ihnen, diese Erklärungen zu beurteilen," heißt es lapidar. Klar, was will man dazu auch sagen. Die Zeugen Jehovas haben in Frankreich eine Rechtsform, nach der alle Schenkungen (also nicht das Kleingeld, das über die Spendenkästen in den Versammlungen eingenommen wird) einer Steuer von 60% unterworfen sind. Das ist nun mal in Frankreich Gesetz und die Zeugen Jehovas haben diese Streuern über viele Jahre hinweg hinterzogen - und damit den Staat betrogen.

Der nächste große Protest richtet sich gegen eben diese Besteuerung. Sie wird natürlich als "Verfolgung" bezeichnet. Außerdem heißt es: "Seit 1995 findet eine Steuerprüfung statt, die das Ziel hat, die religiösen Spenden von Mitgliedern mit 60 Prozent zu besteuern. So etwas hat man noch nie gehört bei einer christlichen Religion, die über ein Jahrhundert alt ist."

Dazu muß zunächst gesagt werden, daß dieses "Ziel" bereits erreicht ist. Die WTG in Louviers wurde rechtskräftig dazu verurteilt, für nicht entrichtete Steuern aus den Jahren 1995 bis 1998 eine Summe von 300 Millionen Franc nachzuzahlen. Ein Betrag, der an dieser Stelle wohlweislich nicht genannt wird. Sonst würde vielleicht der eine oder andere Leser auf den Gedanken kommen, nach dem Verbleib dieser Summe zu fragen. Eine Summe, die schließlich mit den Betriebskosten der WTG allein nicht zu erklären ist. Außerdem ist es schon bemerkenswert, daß rund 120.000 Zeugen Jehovas innerhalb von drei Jahren rund 500 Millionen Franc (rund 170 Mio. DM) gespendet haben.

Vermutlich aus diesen Gründen geht man lieber nicht näher auf die Zusammenhänge ein, sondern begnügt sich mit der rhetorischen Frage: "Wird Ihre Kirche die nächste sein?" Außerdem singt man das übliche Lied von der Religionsfreiheit und spricht von "Untersuchungen, die eine Einschränkung der Gewissensfreiheit von rund 250.000 französischen Bürgern darstellen."

Interessant ist die zweimal genannte Zahl von 250.000 Zeugen Jehovas in Frankreich. In einem Fall wird von "Zeugen Jehovas und mit ihnen Verbundenen" gesprochen, im anderen Fall von "französischen Bürgern". Daß die tatsächliche Zahl der Zeugen Jehovas in Frankreich noch nicht einmal die Hälfte beträgt, verschweigt man dezent.

Es folgt der Hinweis: "Alle diese Lügen stehen im Widerspruch zu den Fakten", gefolgt von dem Versuch, die Zeugen Jehovas als respektable Bürger darzustellen, die schön brav ihre Steuern zahlen. Dabei wird ein gewisser Alain Vivien zitiert, der die Zeugen Jehovas als "zweifellos respektabel" bezeichnet haben soll. Allerdings wird nicht erwähnt, in welchem Zusammenhang diese beiden Worte fielen, so daß auch hier größte Vorsicht geboten ist. Dazu kommt, daß es sich hier um ein Zitat aus Le Monde handelt, das schon über zehn Jahre alt ist und damit aus einer Zeit stammt, in der das Bewußtsein zum Thema Sekten noch recht wenig ausgebildet war.

Es folgen zwei Lobeslieder zum Thema Zeugen Jehovas und Drittes Reich. Das eine Zitat stammt von einem gewissen Léon Blum aus dem Jahre 1947, der sich lobend über die "Standhaftigkeit und loyale Überzeugung" der Zeugen Jehovas in deutscher Gefangenschaft sprach. Das andere wird Geneviève de Gaulle zugeschrieben, die über Zeugen Jehovas in Ravensbrück geschrieben hat: "Ich habe wirkliche Hochachtung vor ihnen..."

Was dieser Exkurs in die Vergangenheit mit dem Thema zu tun haben soll, ist allerdings schleierhaft. Schließlich hat niemand die religiöse Überzeugung der Zeugen Jehovas in Frage gestellt. Auch hindert niemand in Frankreich die Zeugen Jehvoas an der Ausübung ihrer Religion. Die Wachtturm-Gesellschaft wird lediglich dazu aufgefordert, dem Zäsar zu geben was des Zäsars ist - und damit das zu tun, was sie ihren eigenen Gläubigen predigt.

Bericht: Stephan E. Wolf, Basis: Englische Übersetzung des Traktates