Übersetzung des französischen Sektenberichtes von Herbert Raab auf Grundlage der englischen Fassung.

Aus der Einleitung:

19. April 1993: 88 Mitglieder der Davidianersekte starben entweder durch Selbstmord oder zum Ende einer Konfrontation mit der Polizei in Waco, Texas. 4. Oktober 1994: 53 Mitglieder der Sonnentemplersekte starben in der Schweiz und in Kanada, begingen Selbstmord oder wurden gemeuchelt. 5. März 1995: 11 Personen starben und 5.000 wurden bei einem Gasangriff der Aoum-Sekte in der U-Bahn von Tokio verletzt. Ohne zu älteren Fakten zurückzukehren -- so erinnert sich doch jeder noch an den kollektiven Selbstmord der 923 Mitglieder der Volkstempelsekte in Guyana im Jahre 1978 --, hier die Einschätzung der schwersten kriminellen Machenschaften, derer sich gewisse Sekten innerhalb weniger als drei Jahren schuldig gemacht haben. Wenn solche Dinge geschehen, beeilen sich die Medien, die Sektenphänomene zu untersuchen, die Meinungen sind -- zu recht -- erregt, und dann läßt die Aufmerksamkeit bis zur nächsten spektakulären Episode nach, bei der es sich genauso verhält. Doch während dieser Zeit vollbringt eine gewisse Anzahl von Sekten hinterhältig weiterhin ihre täglichen Missetaten in der quasi allgemeinen Interesselosigkeit.

Der Bericht, den Alain Vivien im Auftrag des Ministerpräsidenten verfaßte und 1985 unter dem Titel "Sekten in Frankreich: Ausdruck moralischer Freiheit oder Faktoren der Manipulation" veröffentlichte, und der ein Bild des Sektenphänomens vermittelte und seine grundlegenden Aspekte analysierte, ehe er eine gewisse Anzahl von Vorschlägen formulierte, hatte das große Verdienst, die erste gründliche und objektive Studie der Gefahren von Sekten darzustellen und die Behörden und die öffentliche Meinung auf eine Realität aufmerksam zu machen, deren Macht bis dahin kaum bekannt war. Nun sind seit der Veröffentlichung dieses Dokuments mehr als zehn Jahre vergangen, und wir sind gezwungen festzustellen, daß die meisten vorgeschlagenen Maßnahmen trotz ihres Interesses und ihrer Einfachheit tote Buchstaben bleiben und Sekten weiterhin gedeihen und zu ihrem vermehrten Vorteil die Notlage ausbeuten, in die die Entwicklung unserer Gesellschaft viele unserer Zeitgenossen stürzt; bereit, sich durch die anscheinende Spiritualität einer Sprache täuschen zu lassen, die ihnen die Illusion gibt, sie könne Antwort auf ihre Erwartungen geben.

Es war daher berechtigt, daß die Nationalversammlung sich dafür interessierte, sich ein Bild von einem Phänomen zu machen, dessen Entwicklung seit dem Bericht von Alain Vivien nur wenig bekannt ist, und die Gefahren einzuschätzen, die es für den einzelnen und die Gesellschaft darstellt, sowie einen Bericht über die notwendigen Maßnahmen, es zu bekämpfen, zu erstellen. Daher hat die Nationalversammlung in einstimmiger Annahme eines Antrags auf eine Resolution am letzten 29. Juni, den Jacques Guyard und die Fraktion der Sozialistischen Partei stellten, eine Untersuchungskommission geschaffen, "deren Auftrag es ist, das Sektenphänomen zu untersuchen und, falls nötig, die Überarbeitung der bestehenden Texte vorzuschlagen."

Die am 11. Juni konstituierte Kommission beschloß im Verlaufe ihrer Zusammenkunft, die sie am 18. Juli abhielt, um ihre Arbeit zu organisieren, alle Anhörungen unter Geheimhaltung zu stellen, damit die Personen, deren Aussage sie forderte, sich sehr freimütig äußern könnten. Entsprechend der mit den Zeugen eingegangenen Verpflichtung wird dieser Bericht daher im Anhang nicht die Anhörungen aufführen, die die Grundlage für die Überlegungen der Kommission waren; es werden nicht einmal die Personen, die die Kommission anhörte, aufgeführt. In demselben Geist wird in dem Bericht auch nicht der Ursprung der Bemerkungen erwähnt, die er anführt.

Unter diesen Bedingungen wurden zwanzig Anhörungen durchgeführt, die insgesamt einundzwanzig Stunden dauerten. Sie versetzten die Kommission in die Lage, Informationen zu sammeln, sich ein gründliches Wissen über das Sektenphänomen anzueignen, die Erfahrungen und die Analysen von Menschen sowie Personen verschiedener Berufe kennenzulernen, einige davon in der Verwaltung tätig, einige davon Ärzte oder Anwälte, einige Kirchenleute, einige Vertreter von Vereinigungen, die Opfern von Sekten beistehen, und natürlich einige ehemalige Anhänger von Sektenbewegungen und einige Führer von Sektengemeinschaften. Darüber hinaus forderte die Kommission Beiträge verschiedener Behörden an, um so gut wie möglich das Wissen über das Untersuchungsgebiet zu verfeinern. Man muß anmerken, daß die Aufforderung mit unterschiedlichem Eifer beantwortet wurde. Das Sozialministerium, das Außenministerium, die Pariser Polizeipräfektur und insbesondere das Innenministerium (Allgemeine Informationsabteilung) halfen der Kommission bei ihrer Suche und den Überlegungen sehr tatkräftig, während das Wirtschafts- und Finanzministerium (Steuerabteilung) und das Justizministerium (Verbrechensbekämpfung) mit ihren Informationen sehr langsam herüberkamen.

So, wie es in diesem Bericht dargestellt ist, wird das Ergebnis der Arbeit der Kommission diejenigen enttäuschen, die dort Offenbarungen oder neue Anekdoten erwartet hatten. Die Kommission hatte nicht die Mittel, und es war überdies auch nicht ihre Aufgabe, sich selbst auf die Suche zu begeben oder etwas in Frage zu stellen, das in die Zuständigkeit der Polizeidienste oder, wenn nötig, in die der Justiz fiel. Basierend auf dem sehr wichtigen Werk, das die Zentralverwaltung der Informationsabteilung durchführte, auf der Nachforschung und den Analysen von Spezialisten aus unterschiedlichen Arbeitsgebieten und schließlich auf den mündlichen oder schriftlichen Zeugenaussagen von Personen, die selbst einmal einer Sekte angehört haben oder die enge Angehörige mit solchen Erfahrungen haben, versuchte die Kommission, eine bewegte, komplexe und oftmals verhüllte Realität wie auch mögliche Scheingründe zu begreifen.

Wie noch zu sehen sein wird, stand die Kommission anfangs vor der Schwierigkeit, den Begriff "Sekte" zu definieren, um das Untersuchungsgebiet einzugrenzen. Dennoch wählte sie den Weg, sich nicht von etwas abzuschrecken lassen, das nur ein falsches Hindernis ist, sondern mit Beharrlichkeit einem empirischen Schritt zu folgen, den einige als nicht genügend ehrgeizig beurteilen könnten, dessen Zurückhaltung aber die Sorge um die Wirklichkeit und Wirksamkeit in sich birgt. So kommt es, daß die Kommission ohne einen Geist der Systematisierung, ohne ein vorgegebenes geistiges Bild irgendeiner Art und mit großer Vorsicht, nicht mit einer beleidigenden Mischung herauszukommen oder in Verfolgungswahn zu verfallen, ohne Weltfremdheit oder zumindest Naivität zu zeigen, versuchte, die Konturen eines Phänomens zu begreifen, das, obwohl schwer zu verstehen, sich zu entwickeln scheint, ehe sie bemerkte, daß es sich in verschiedenartigsten Formen zeigt und oft durch gefährliche Praktiken charakterisiert ist, und schließlich die Mittel für eine Antwort bereitzustellen, die dieser Gefahr angemessen ist.

Sekten in Frankreich