KARLSRUHE - Eigentlich sind die Zeugen Jehovas nach ihren eigenen Worten "kein Teil der Welt". Ihr Verständnis von christlicher Neutralität gebietet Abstinenz in politischen Dingen. Nun wollen sie aber doch stärker am staatlichen Leben teilnehmen.

Von Wolfgang Janisch

Vor dem Bundesverfassungsgericht streiten sie in einer Anhörung am 20.September um ihre Anerkennung als "Körperschaft des öffentlichen Rechts". Dann könnten sie von ihren Mitgliedern Kirchensteuer einziehen lassen - und zwar durch den Staat.

Seit zehn Jahren betreiben die Zeugen Jehovas ihre Aufnahme in den Kreis der öffentlich-rechtlichen Körperschaften. Zu diesen Körperschaften gehören neben den großen Kirchen auch zahlreiche andere Gemeinschaften, von den Baptisten über die Vereinigung der Mennoniten-Gemeinden und die Mormonen bis hin zur Heilsarmee. Den Zeugen Jehovas, die rund 190.000 Mitglieder in Deutschland haben, indes hat das Bundesverwaltungsgericht 1997 den privilegierten Status versagt. Die Verwaltungsrichter begründeten ihre Ablehnung damit, dass die Religionsgemeinschaft die Teilnahme an staatlichen Wahlen ablehne.

Weil sich die Zeugen Jehovas für "Gottes Königreich und die damit verbundene Regierung entschieden" haben, glauben sie, dass "diese himmlische Regierung die Lösung der heutigen Probleme bringen wird", heißt es in ihrer Verfassungsbeschwerde. Also gebe es "keinen Anlass, an politischen Wahlen teilzunehmen". Wer "auf die Teilnahme an staatlichen Wahlen beharrt, kann nicht Mitglied der Religionsgemeinschaft bleiben".

Die Zeugen Jehovas bekunden ansonsten Respekt vor der staatlichen Ordnung. Das Bundesverwaltungsgericht befand jedoch, die Religionsgemeinschaft bringe "dem demokratisch verfassten Staat nicht die für eine dauerhafte Zusammenarbeit unerlässliche Loyalität entgegen".

Wahlen seien in einer Demokratie von so zentraler Bedeutung, dass eine religiös bedingte Abstinenz im Widerspruch zur Verfassung stehe. Die Zeugen Jehovas sehen in dem Urteil eine "Qualitätsprüfung'' ihres Bekenntnisses, die nicht im Einklang mit der Religionsfreiheit stehe.

Mit seiner Forderung nach "Staatsloyalität" hat sich das höchste Verwaltungsgericht weit vom Text der Verfassung entfernt. Nach dem Grundgesetz können Religionsgemeinschaften ihre Anerkennung als Körperschaft beanspruchen, "wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten". Das dürfte bei den seit mehr als 100 Jahren in Deutschland aktiven Zeugen Jehovas außer Zweifel stehen. Selbst die "Rechtstreue" - eine weitere, von der Rechtsprechung eingeführte Voraussetzung - sprechen die Richter der Gemeinschaft nicht ab. So haben die Zeugen ihre frühere Komplettverweigerung von Wehr- und Zivildienst 1996 aufgegeben.

In dem frühestens Ende des Jahres erwarteten Urteil könnte das BVG die undeutliche Trennlinie zwischen Staat und Kirche neu ziehen. Denn Deutschland hat - anders als Frankreich oder die USA - die scharfe Trennung von Staat und Kirche nie ganz vollzogen. Andererseits sind die anerkannten Körperschaften durch viele Privilegien mit dem Staat verwoben.

Falls Karlsruhe der Religionsgemeinschaft die Pforte ins Reich der Privilegierten öffnet, könnte dies weitere Begehrlichkeiten nach sich ziehen: Zwar werden islamische Vereinigungen - wie etwa der Islamrat und der Zentralrat der Muslime in Deutschland - bisher mangels ausreichender Organisationsstruktur noch nicht als "körperschaftsfähig" angesehen. Mit einem ermutigenden Wort der Karlsruher Verfassungsrichter könnte dies anders werden.

Stuttgarter Nachrichten vom 16.09.2000