Bundesverfassungsgericht verhandelt über den Status der Zeugen Jehovas
KARLSRUHE, 20. September - Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat am Mittwoch darüber verhandelt, ob die Religionsgemeinschaft der "Zeugen Jehovas" als Körperschaft des öffentlichen Rechts anzuerkennen ist.
Mit dem Körperschaftsstatus verbinden sich rechtliche Privilegien und gesellschaftliche Einflußmöglichkeiten, die privatrechtlich organisierten Religionsgemeinschaften nicht zustehen, zum Beispiel das Recht, von den Mitgliedern Steuern zu erheben, steuerliche Vergünstigungen sowie die Anerkennung als freier Träger nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz. Verfassungsrichter und Berichterstatter Hassemer maß dem Verfahren grundsätzliche Bedeutung für das Verhältnis von Kirche und Staat zu. Es stelle sich die Frage, wie nahe eine Religionsgemeinschaft dem Staat sein müsse, um als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt zu werden, sagte Hassemer zu Beginn der Verhandlung.
Die Zeugen Jehovas, deren Anhänger, nach strengen Moralvorschriften zu leben und die sich von politisch-öffentlichen Aktivitäten fernzuhalten haben, kämpfen seit 1990 um die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Die Religionsgemeinschaft, die seit Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland aktiv ist, zählt hierzulande rund 160.000 Mitglieder, auf der ganzen Welt sind es etwa 4,4 Millionen. Auf Mißtrauen und Ablehnung stoßen die Zeugen Jehovas vor allem wegen Berichten, nach denen sie angeblich austrittwillige Mitglieder mit unlauteren Mitteln an sich binden und Kindern ihrer Anhänger keine Freizeitbeschäftigung mit anderen Gleichalterigen erlauben.
Nach den Vorschriften des Grundgesetzes in Verbindung mit denen der Weimarer Reichsverfassung sind Religionsgemeinschaften die Körperschaftsrechte zu verleihen, "wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten". Auch wird von Religionsgemeinschaften, welche den Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft beanspruchen, Rechtstreue verlangt. Das steht zwar nirgendwo geschrieben, ist aber bislang allgemein anerkannt worden. Streit gibt es dagegen über die Frage, ob Religionsgemeinschaften, die die Körperschaftsrechte beanspruchen, zusätzlich eine gewisse Loyalität zum Staat zeigen müssen. Dieser Ansicht war 1997 das Bundesverwaltungsgericht in Berlin gewesen. Die Richter hatten entschieden, daß das Land Berlin nicht verpflichtet sei, die Zeugen Jehovas als Körperschaft des öffentlichen Rechts anzuerkennen, weil die Religionsgemeinschaft die Teilnahme an Wahlen ablehne und sich damit in einen nicht hinnehmbaren Widerspruch zum Demokratieprinzip setze.
Gegen die Versagung des Körperschaftsstatus wehren sich die Zeugen Jehovas mit der Verfassungsbeschwerde. Das Bundesverfassungsgericht muß nunmehr klären, ob und inwieweit sich Religionsgemeinschaften gegenüber dem Staat loyal zeigen müssen, damit ihnen die Körperschaftsrechte zuerkannt wird.
Der Bevollmächtigte des Landes Berlin, Südhoff, verteidigte am Mittwoch vor dem Zweiten Senat des Verfassungsgerichts, die Entscheidung der Berliner Senatsverwaltung, die Zeugen Jehovas nicht als Körperschaft des öffentlichen Rechts anzuerkennen. Die Religionsgemeinschaft sanktioniere politisches Engagement ihrer Mitglieder und begäbe sich damit in einen Wertungswiderspruch zu den freiheitlich-demokratischen Verfassungsprinzipien. Auch setze sie sich in Widerspruch zu ihrer eigenen Lehre, daß der Staat "Werkzeug Satans" sei, wenn sie staatliche Privilegien verlange. Religionsgemeinschaften, die als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkannt werden wollten, müßten mehr tun, als nur die Gesetze befolgen, sagte Südhoff zu dem Einwand, daß es in Deutschland keine Rechtspflicht zur Beteiligung an Parlamentswahlen gebe. Wie die Staatsloyalität auszusehen habe, vermochte Südhoff freilich nicht präzise zu beschreiben. Er gab lediglich an, erforderlich sei "ein bißchen Engagement" für die freiheitlich-demokratische Grundordnung sowie die Bereitschaft zum Dialog mit anderen Kräften der Gesellschaft. Beides brachten die Zeugen Jehovas wegen ihrer Weltabgewandtheit nicht mit. Südhoff verwies auch auf die Folgen, welche die Anerkennung der Zeugen Jehovas als Körperschaft des öffentlichen Rechts habe. So privilegiere der Staat damit Wahlenthaltungen.
Der Bevollmächtigte der Zeugen Jehovas, Professor Weber aus Frankfurt, vermochte dagegen keinen Wertungswiderspruch zwischen der distanzierten Haltung der Religionsgemeinschaft zum Staat und deren Anspruch auf staatliche Privilegien zu erkennen. Der Körperschaftsstatus habe nicht den Zweck, ein Kooperationsverhältnis zwischen Kirche und Staat zu schaffen, vielmehr diene er der "Grundrechtsvorsorge" der Religionsgemeinschaften. Weber sagte, er habe keinen Anlaß daran zu zweifeln, daß die Zeugen Jehovas die wesentlichen Grundsätze der staatlichen Ordnung akzeptierten. Mehr dürfe von Religionsgemeinschaften nicht verlangt werden. Das verbiete das verfassungsrechtliche Neutralitätsgebot, das der Staat gegenüber Kirchen und Religionsgemeinschaften zu achten habe. Verlange man von den Religionsgemeinschaften für die Verleihung der Körperschaftsrechte nicht nur Rechtstreue, sondern darüber hinausgehende Staatsloyalität, dann bestehe die Gefahr, daß auf diesem Weg Staatskirchen geschaffen und damit Vorgaben des Grundgesetzes verletzt würden.
Auch Verfassungsrichter Hassemer maß dem Neutralitätsgebot erhebliche Bedeutung zu: Für Religionsgemeinschaften müßten die Hürden zur Anerkennung als öffentlich-rechtliche Körperschaft niedriger sein als für andere Vereinigungen, da der Staat Religionsgemeinschaften mehr in Ruhe lassen müsse als andere Vereinigungen.
Quelle: Frankfurter Allgemeine vom 21.09.2000