Die Zeugen Jehovas verlangen die Anerkennung als Religionsgemeinschaft und bekommen wohl Recht. Nächste Woche entscheidet das Bundesverfassungsgericht. Das Urteil wird auch für die Muslime weitreichende Folgen haben.

Kirche oder Verein? Das Verfassungsgericht muss eine Grenze ziehen.

Die Zeugen Jehovas lehnen den Staat als "Werkzeug des Satans" ab. Doch jetzt haben ausgerechnet sie ihn um Hilfe angerufen. Vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe streiten sie um den Aufstieg in die Bundesliga der Religionsgemeinschaften. Kurz: Die Sekte, die sich selbst nicht als "Teil der Welt" sieht, will vom Staat als eine "Körperschaft des öffentlichen Rechts" anerkannt werden.

Am 19. Dezember werden die Richter ihr Urteil verkünden, und viel spricht dafür, dass sie den Argumenten der Kläger folgen werden. Das hätte weitreichende Konsequenzen: Katholiken und Protestanten bekämen mehr Konkurrenz, das scheinbar so fest gefügte Verhältnis zwischen Staat und Kirchen geriete ins Wanken. Stößt Karlsruhe das Tor zum Reich der Privilegierten etwas weiter auf, werden andere nachdrängen. Die ersten islamischen Gemeinschaften haben ihre Anträge auf Anerkennung bereits gestellt.

Der Kreis der Körperschaften des öffentlichen Rechts ist schon jetzt ziemlich weit: Neben den beiden großen Kirchen gehören mehr als 30 kleinere Gruppierungen dazu, von der Vereinigung der Mennoniten-Gemeinden über die Heilsarmee bis zur dänischen Seemannskirche in Hamburg. Sie alle genießen ein ansehnliches Bündel von Vergünstigungen: zuallererst das Recht, Kirchensteuern einzuziehen, wovon die Zeugen Jehovas allerdings zunächst keinen Gebrauch machen wollen. Außerdem dürfen Körperschaften Kirchenbeamte einstellen und eigene Rechtsnormen setzen, sie erhalten Erleichterungen im Steuer-, Bau- und Grundstücksrecht, entsenden womöglich Vertreter in die Rundfunkräte und werden als freier Träger von Jugendhilfevereinigungen anerkannt.

Es geht um Privilegien und um eine Art staatliches Gütesiegel

Selbstverständlich können die Zeugen Jehovas ihren Glauben wie bisher auch als eingetragener Verein verbreiten, den höheren Segen des Staates brauchen sie dazu nicht. Doch die umstrittene Religionsgemeinschaft dürfte mit ihrem Begehren mehr im Sinn haben, als von den Vorteilen im Bau- und Steuerrecht zu profitieren. Die Anerkennung als Körperschaft brächte ihr einen beträchtlichen Prestigegewinn, eine Art staatliches Gütesiegel, mit dem sie das leicht anrüchige Sektenimage besser abschütteln könnte.

Doch gemach, auf ganzer Linie gewonnen haben die Zeugen Jehovas noch nicht. Die höchsten Richter werden ein Grundsatzurteil fällen, sie werden wahrscheinlich großzügigere, weichere Kriterien für die Anerkennung einer Religionsgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts aufstellen. Ob die Zeugen Jehovas dann in jedem Fall diese Kriterien erfüllen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Denn der Vorwurf, dass die Sekte "Abtrünnige" unter Druck setze und sozial isoliere, dass sie Bluttransfusionen ablehne und die Risiken vor allem für Kinder bewusst in Kauf nehme - all dies wurde in Karlsruhe gar nicht verhandelt. Das zu prüfen ist Aufgabe anderer Gerichte, die höchsten Richter klären zunächst nur das Prinzipielle. "Wir betreten hier verfassungsrechtliches Neuland", hatte Winfried Hassemer, Berichterstatter in diesem Verfahren, schon während der mündlichen Verhandlung gesagt.

In der Tat braucht die schillernde Religionslandschaft in Deutschland klare, neue Grundsätze. Denn die Staatskirchenartikel im Grundgesetz stammen aus der Weimarer Reichsverfassung (WRV), ihre Autoren hatten eine gesellschaftliche Wirklichkeit vor Augen, die längst brüchig geworden ist: die unangefochtene Spitzenstellung von Katholiken und Protestanten und ihr Definitionsmonopol über das Religiöse - mit dem Mitgliederschwund und der aufkommenden Konkurrenz etwa durch zugewanderte Muslime gilt die alte Ordnung nicht mehr. Das Recht muss die neue Pluralität ordnen.

Dabei ist das Grundgesetz, wenigstens im Prinzip, durchaus flexibel. Im aus der Weimarer Reichsverfassung übernommenen Artikel 137 heißt es: Körperschaft des öffentlichen Rechts können Religionsgemeinschaften werden, die "durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer biete". Diese Hürde nehmen die fast 200.000 Mitglieder zählenden Zeugen Jehovas, deren Ursprünge in den Lesezirkeln der "(Ernsten) Bibelforscher" im 19. Jahrhundert liegen, mit Leichtigkeit. Heikel könnte es freilich in einem anderen Punkt werden: beim ungeschriebenen Merkmal der Rechtstreue.

Eine Religionsgemeinschaft muss den Staat nicht mögen

Hierzu wird Karlsruhe wohl einige grundsätzliche Bemerkungen ins Urteil schreiben - ohne dabei im Detail dem Argument des Bundesverwaltungsgerichts zu folgen. Das hatte 1997 die Klage der Zeugen Jehovas auf Anerkennung mit dem Hinweis auf ihre fehlende "Staatsloyalität" abgewiesen - ein Kriterium, das im Staatskirchenrecht zuvor nicht gebräuchlich war. Das Gericht beschied kurz und knapp: Die Zeugen Jehovas würden staatliche Wahlen ablehnen - das sei zwar legal, aber doch irgendwie demokratiewidrig. Die Verleihung des Körperschaftsstatus, so die Richter damals, spiegele die "Wertschätzung" des Staates für eine Religionsgemeinschaft wider, also "die historisch gewachsene Eigenart des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche in Deutschland, die nicht durch strikte Trennung und staatliche Indifferenz, sondern durch wechselseitige Zugewandtheit und Kooperation gekennzeichnet ist".

Wertschätzung, Zugewandtheit, Kooperation - das sind wenig taugliche Kriterien, solange eine Religionsgemeinschaft dem Staat nicht feindselig gegenübersteht, sondern sich nur von ihm abwendet. Der Begriff der Rechtstreue hilft schon eher bei der Entscheidung, wer als Körperschaft anerkannt werden darf. Mit der Schärfung dieses Begriffs hätte das Bundesverfassungsgericht die Chance, das Staatskirchenrecht zu modernisieren und die Zukunft zu ordnen. Denn wo liegt die Trennlinie zwischen den zwar unbequemen, aber im Grunde doch harmlosen Gemeinschaften und jenen, die elementare Werte des Gemeinwesens wie etwa die Menschenwürde und die Freiheitsrechte missachten?

Schon jetzt herrscht Einigkeit, dass eine Religionsgemeinschaft nicht demokratisch organisiert sein muss - die katholische Kirche könnte sonst durchaus in Schwierigkeiten geraten. Die Einstellung zur Demokratie wird aber dann wichtig, wenn eine Gemeinschaft politisch agiert und agitiert. Die "Schlange, die ihn nachher beißt", werde der Staat nicht an seinem Busen nähren, sagt Hassemer.

Der Grundsatz der Rechtstreue hieße auf den Islam gemünzt: Fundamentalistische Organisationen, die gegen die Grundwerte der Verfassung verstoßen, haben im Kreis der Religionsgemeinschaften nichts verloren. Die anderen aber haben schon jetzt und nach dem Karlsruher Richterspruch erst recht die Chance, wenn sie sich denn wirklich überschaubar organisieren wollen, als Körperschaft anerkannt zu werden und sich damit vom weit verbreiteten Generalverdacht des Islamismus zu befreien. Im Sinne des Staates wäre es allemal, die rund drei Millionen Muslime in Deutschland aus dem gesellschaftlichen Halbdunkel zu holen.

Quelle: Die Zeit, 14.12.2000, Autor: Wolfgang Janisch