KARLSRUHE. Die Zeugen Jehovas haben einen Etappensieg im Kampf um ihre Gleichstellung mit den großen Kirchen erzielt. Das Verfassungsgericht gab der Beschwerde der Glaubensgemeinschaft statt, die als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt werden will.

In einem Grundsatzurteil hob der Zweite Senat den Spruch des Bundesverwaltungsgerichts auf, das den Zeugen Jehovas 1997 die Körperschaftsrechte verwehrt hatte. Karlsruhe verwies den Fall nach Berlin zurück, stellte aber erstmals Kriterien auf, die Religionsgemeinschaften erfüllen müssen, um den Körperschaftsstatus zu erhalten.

Das oberste Gericht fordert von den betreffenden Organisationen die grundsätzliche Bereitschaft, Gesetze zu beachten. Außerdem dürfe ihr Verhalten die fundamentalen Verfassungsprinzipien sowie die Grundrechte nicht gefährden. Besonders eine systematische Bedrohung des unveräußerlichen Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit sei nicht hinnehmbar. Die Binnenstruktur einer Religionsgemeinschaft oder ihre Lehren spielten aber keine Rolle, auch nicht ihr Verhältnis zu anderen Religionsgemeinschaften, so- lange es im Rahmen der Verfassungsordnung bleibe. Das Streben nach einer Theokratie sei allerdings nicht hinnehmbar.

Das Bundesverwaltungsgericht hatte 1997 geurteilt, die Zeugen Jehovas stellten den Staat prinzipiell in Frage, vor allem weil sie die Teilnahme an staatlichen Wahlen ablehnten. Karlsruhe stellt nun fest, dass die Gemeinschaft die Demokratie nicht gefährde. Ihr Verhalten sei vielmehr apolitisch. Nun sei zu prüfen, ob die Erziehungspraktiken der Zeugen das Wohl der Kinder beeinträchtigten oder ob austrittswillige Mitglieder so unter Druck gesetzt würden, dass dies dem Grundgesetz widerspreche. Die Gemeinschaft, die in Deutschland etwa 170.000 Mitglieder zählt, kämpft seit 1990 um den Körperschaftsstatus. Ihn besitzen die beiden großen Kirchen und viele Weltanschauungsvereinigungen wie die Neuapostolische Kirche oder die Mormonen. Der Status bringt eine Reihe von Privilegien mit sich. Die Zeugen könnten Kirchensteuern erheben, in Rundfunkräten mitwirken oder als Träger der freien Jugendarbeit arbeiten. Zudem winkt die Befreiung von Körperschaft- oder Vermögensteuer. 1990 wurde die Organisation von der DDR anerkannt. Dies sollte der Berliner Senat bestätigen. Der weigerte sich jedoch. (Aktenzeichen: 2 BvR 1500/97)

Teilerfolg der Zeugen Jehovas

Weises Urteil in liberalem Geiste

Auf den ersten Blick wirkt der Karlsruher Richterspruch enttäuschend. Zehn Jahre dauert der Rechtsstreit um die Anerkennung der Zeugen Jehovas als Körperschaft des öffentlichen Rechts nun schon. Und gestern wurde wieder nicht entschieden, ob die Religionsgemeinschaft ins Reich der Privilegien darf. Diese Frage soll nun das Bundesverwaltungsgericht erneut prüfen. Haben die Juristen in den roten Roben also nur den schwarzen Peter an die untere Instanz weitergereicht?

Diese Wertung wäre ungerecht. Denn die obersten Richter mussten verfassungsrechtliches Neuland betreten. Nie zuvor war von höchster Stelle geklärt worden, wie loyal eine Glaubensgemeinschaft dem Staat gegenüber sein muss, wenn sie hoheitliche Rechte erhalten will. Das jetzige Verhältnis von Staat und Kirche hat sich vielmehr wie selbstverständlich aus der Tradition des christlichen deutschen Reichs entwickelt. In der pluralistischen Gesellschaft aber ist diese Tradition brüchig geworden. Nun hat das Verfassungsgericht klare Kriterien genannt. Dass dabei der Glaubensfreiheit hohe Bedeutung eingeräumt wird, entspricht dem liberalen Geist der Verfassung und lässt den Kirchen den Spielraum, den sie brauchen. Gleichzeitig pocht das Gericht aber darauf, dass dieunveräußerlichen Menschenrechte durch eine Religionsgemeinschaft nicht gefährdet werden dürfen. Außerdem muss die Verfassungsordnung unangetastet bleiben. Das ist ein Dämpfer für islamische Gruppen, die den Gottesstaat fordern und auch den privilegierten Status begehren könnten. Karlsruhe hat somit den unteren Instanzen für künftige Herausforderungen einen klaren Weg gewiesen, ohne deren Aufgabe - die Entscheidung in der Sache - an sich zu reißen.

Der lange Weg ins Privilegienparadies

Mit Ausdauer, Professionalität und einer beispiellosen Imagewerbung kämpfen die Zeugen Jehovas um die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Ob sie das Ziel erreichen, ist unsicher.

Ein Abschnitt des gestern verkündeten Karlsruher Urteils wirkt unfreiwillig komisch. Die Religionsgemeinschaft, so heißt es da, biete die vom Grundgesetz geforderte Gewähr der Dauer. Das gelte, obwohl die Zeugen an den nahen Weltuntergang glaubten. Der Staat dürfe hier die Gemeinschaft nicht beim Wort nehmen. Im Übrigen hat bereits einige Male ein von den Zeugen "vorhergesagter Weltuntergang nicht stattgefunden, die Religionsgemeinschaft aber weiter Bestand''. Tatsächlich dürfte es den Staat, von dem man Privilegien verlangt, nach Prognosen der Zeugen nicht mehr geben. Das Weltende und die folgende Herrschaft Jehovas errechnete man erst für 1914, dann für 1925, schließlich für 1975. Jetzt heißt es nur noch vage: "Die neue Erde kommt binnen kurzem."

Die Aussicht auf die Apokalypse, in der nur die Anhänger Jehovas gerettet werden, ist für die Gemeinschaft kein Anlass, die Hände in den Schoß zu legen. Seit Jahren kämpft die in Deutschland 2000 Vereine starke Organisation um ihre Anerkennung. So rückte sie die Verfolgung der Zeugen während der NS-Zeit ins Blickfeld der Öffentlichkeit oder legte zum Rechtsstreit um den Körperschaftsstatus eine 1000-seitige Dokumentation vor. Die PR-Arbeit wirkt perfekt.

Zu solchen Anstrengungen ist die weltweit etwa 5,5 Millionen Anhänger zählende Gemeinschaft wegen ihrer straffen Organisation in der Lage. Sie wird vom Hauptsitz Brooklyn (USA) aus autoritär geführt. Zweigbüros lenken die Arbeit in etwa 230 Ländern. Die deutsche Zentrale für 170.000 Zeugen Jehovas hat ihren Sitz in Selters bei Frankfurt. Eine weitere Schaltstelle ist Berlin. Das Bekehrungssystem ist fast lückenlos aufgebaut. Der gewöhnliche Zeuge, den man in Fußgängerzonen strammstehen und die Blättchen der Gemeinschaft verteilen sieht, ist etwa zehn Stunden monatlich im Einsatz. Für diese Arbeit werden die Anhänger intensiv geschult. Manche, so Kritiker, müssten 40 Stunden in der Woche arbeiten und würden auf diese Weise ausgenutzt.

Als Gründer der Religionsgemeinschaft gilt der amerikanische Pfarrer Charles Taze Russel. Ende des 19. Jahrhunderts rief er die "Wachtturm-, Bibel- und Traktatgesellschaft" ins Leben. Erst seit 1931 nennen sich die Anhänger "Zeugen Jehovas" nach dem alttestamentlichen Namen Gottes (eigentlich: Jahwe). Von Beginn an wurde eine rigide Moral gepredigt. Zeugen sollen nicht trinken, rauchen oder Feste feiern. Auch die Teilnahme an staatlichen Wahlen ist verpönt, weil jedes irdische Reich als satanisch gilt. Dieses Verbot und die Ablehnung des Wehrdienstes hielt 1997 das Bundesverwaltungsgericht für ausreichend, um den Körperschaftsstatus zu verwehren. Es fehle an Staatstreue, hieß es damals in dem Urteil. So wurden zwei Richtersprüche, die den Zeugen in dem seit 1990 andauernden Rechtsstreit zugestimmt hatten, kassiert.

Damit hatten es sich die Berliner Richter, so das Verfassungsgericht jetzt, zu leicht gemacht. Das Gebot zur Wahlenthaltung sei nicht ausschlaggebend. Nun sollen die Verwaltungsrichter prüfen, ob die Gemeinschaft die unveräußerlichen Grundrechte ihrer Mitglieder einschränke. Zum einen könnte das Recht der Religionsfreiheit dadurch bedroht sein, dass Aussteiger von den Zeugen massiv unter Druck gesetzt würden. Zum Anderen muss geprüft werden, ob das Züchtigungsrecht, das die Zeugen wegen einer fundamentalistischen Bibelexegese vertreten, das Wohl der Kinder gefährdet. Auch die völlige Ablehnung von Bluttransfusionen könnte hierbei in den Blick geraten.

Sektenexperten rügen gerade diese Praktiken, sodass der Weg ins Reich der Privilegien versperrt sein könnte. Der Körperschaftsstatus beschert nämlich zahlreiche Vergünstigungen. Das reicht vom Recht, Kirchensteuern zu erheben, bis zum Anspruch, Kirchenbeamte einzustellen. Andererseits haben die Zeugen im Kampf um ihre Anerkennung schon mehrfach Positionen geräumt. Der Ausgang dieses Prozesses ist offen.

Quelle: Stuttgarter Zeitung, Autor: Michael Trauthig