Die Waiblinger Kreiszeitung berichtete in ihrer Ausgabe vom 31. Juli 2003 über den Ausstieg der Familie Reinhardt bei den Zeugen Jehovas und über eine erfolgreiche Zivilklage wegen Verleumdung gegen einen Ältesten der Versammlung Weinstadt.
Abschied von Armageddon - Die Geschichte eines Ausstiegs
Hurer und Schmäher [Ein Ächtungsprogramm]
Ein Freitagmorgen am Landgericht Stuttgart: Herr Reinhardt, ehemals Zeuge Jehovas, führt Zivilklage gegen Herrn Betzel, Zeuge Jehovas. Betzel (Name geändert) habe in einer öffentlichen Zusammenkunft der Glaubensgemeinschaft in Weinstadt den Aussteiger Reinhardt verglichen mit Massen dunkler Gestalten: Der erste Korintherbrief befehle, keinen Umgang zu pflegen mit „Hurern, Habgierigen, Götzendienern, Schmähern, Trunkenbolden und Erpressern“ – und keinen Umgang zu pflegen, das gelte auch für Reinhardt, getreu dem Motto: „Entfernt den bösen Menschen aus eurer Mitte.“
Die Verhandlung endet mit einer Einigung, die Reinhardt als kleinen Sieg empfinden darf: Betzel bestreitet zwar, dass er Reinhardts Namen in unmittelbaren Zusammenhang mit Hurenböcken und Säufern genannt habe, entschuldigt sich aber trotzdem, übernimmt zwei Drittel der Gerichtskosten und erklärt, künftig den Namen Reinhardt nicht mehr öffentlich zu nennen. Falls er es doch tut, muss er 2500 Euro Konventionalstrafe zahlen.
Ein kleiner Fall, eher Farce als Tragödie. Doch er bildet nur das leicht groteske Schlussbild einer langen, nicht im entferntesten komischen Geschichte…
Bei jener Zusammenkunft, so viel ist gesichert, las Herr Betzel aus einem Leitfaden für Zeugen Jehovas vor. Überschrift: „Christliche Loyalität bekunden, wenn ein Verwandter ausgeschlossen ist“.
„Loyale Christen“, so heißt es da wörtlich, sollten „keine religiöse Gemeinschaft mit jemandem haben, der aus der Versammlung ausgeschlossen wurde. Doch das ist nicht alles. Gottes Wort sagt, wir sollten nicht einmal mit einem solchen essen. Daher sollten wir auch keinen gesellschaftlichen Umgang mit einem Ausgeschlossenen haben. Das schließt aus, mit ihm zu picknicken, zu feiern, Sport zu treiben, einzukaufen, ins Theater zu gehen, sich mit ihm zum Essen zu treffen.“ Bereits „ein einfacher Gruß kann der erste Schritt zu einer Unterhaltung und vielleicht sogar zu einer Freundschaft sein.“ Also: nicht mal grüßen!
Dies ist – im Namen Christi des Barmherzigen, der die Nächstenliebe lebte – das verstörend unbarmherzige, an archaische Verstoßungsrituale erinnernde Programm einer totalen sozialen Ächtung.
Dieser Bannstrahl traf Reinhardt und seine Frau – und trieb manche ihrer engsten Blutsverwandten, die den Weinstädter Zeugen angehören, hinein in peinigende Ratlosigkeit und zerreißende Gewissensnöte: Der Gemeinde treu bleiben oder der Familie? (zur Frage, ob es hier auch einen „dritten Weg“ geben kann, siehe „Nicht richtig“).
Zwei Tanten und die Mutter von Reinhardt, 79, 81 und 84 Jahre alt, sollten nun also, wenn sie die Gesetze der „christlichen Loyalität“ leben wollten, jeden Kontakt abbrechen – dabei brauchen die alten Frauen dringend die Hilfe der Jüngeren, um den Alltag zu bewältigen.
Die letzten Tage [Aufwachsen bei den Zeugen]
Reinhardt wurde hineingeboren in die Welt der Zeugen Jehovas, er wuchs auf im Glauben seiner Familie, abgeschottet gegen die Irrwege der Verlorenen, die Welt der Verdammten, wuchs heran im Wissen: Wir leben in den letzten Tagen, Armageddon ist nah, das Weltende steht unmittelbar bevor, das Jüngste Gericht. Aus der Schule kommst du nicht mehr, sagte seine Mutter zu ihm. Das Ende deiner Lehre wirst du nicht mehr erleben, sagte sie später. Und dann: Heiraten wirst du nicht mehr.
Er heiratete doch, eine Zeugin auch sie, genauso tief geprägt seit früher Kindheit. „Ich bin von Haus zu Haus gegangen und habe den Leuten gepredigt“, erzählt Frau Reinhardt, „ich war extrem.“
Sie zweifelten nicht; auch nicht, als der Sohn der Reinhardts aus der Zeugen-Gemeinde ausgeschlossen wurde. Er war mehrmals beim Rauchen erwischt worden.
Der Junge, damals 18, verlor auf einen Schlag fast alle Freunde und Verwandten, all seine Bezugspersonen waren ja bei den Zeugen. Die Eltern sagten sich nicht los von ihrem Sohn. Doch sie trauerten und ängstigten sich um den Jungen, der bald, sehr bald verloren sein würde. Armageddon!
Blutige Zweifel [Ein Lösungsprozess]
Es war Ende der 90er Jahre, der Zeuge Jehova Reinhardt bekam eine von der Wachtturmgesellschaft selbst herausgegebene CD-Rom in die Finger. Darauf waren gesammelte Texte über die Weltsicht der Zeugen gespeichert, all die Schriften und internen Papiere, in denen die Zentrale von Brooklyn aus die Mitglieder mit Bibelsprüchen, Lehrmeinungen, unhinterfragbaren Wahrheiten und vorformulierten Antworten auf kritische Fragen entdeckt. Die CD ließ sich über eine Suchfunktion nach Schlüsselbegriffen durchforsten. Reinhardt gab das Wort „unmittelbar“ ein. Er fraß sich durch all die Texte aus verschiedensten Jahrzehnten, in denen wieder und wieder Armageddon „unmittelbar“ bevorstand … Moses, heißt es in der Bibel, klopfte auf den Stein. „Unmittelbar“ darauf floss Wasser hervor. „Unmittelbar“ und „unmittelbar“ sind offenbar sehr verschiedene Begriffe. Reinhardt kam ins Grübeln.
Der Sohn verunglückte mit dem Motorrad. Im Krankenhaus, bevor er ohnmächtig wurde, erklärte der junge Mann den Ärzten, er wolle keine Bluttransfusion. Noch der Ausgestoßene stand im Bann des so genannten „Blutverbots“…
„Ihr dürft von keinem Geschöpf das Blut genießen“, heißt es im dritten Buch Mose. Auf der Internet-Seite der Wachtturm-Gesellschaft (www.watchtower.org) steht dazu: Das „biblische Gesetz“ beziehe sich „nicht nur auf die Aufnahme von Blut durch den Mund, sondern auch über die Venen […] Wer das Leben als Gabe des Schöpfers respektiert, versucht nicht, es durch die Aufnahme von Blut zu erhalten.“
Dem Sohn der Reinhardts musste einBein abgenommen werden, er drohte den Ärzten unter den Händen zu verbluten. Die Eltern wagten nicht, sich ausdrücklich über das „Gesetz“ hinwegzusetzen, aber sie sagten zu den Ärzten: Unser Sohn ist volljährig und kein Zeuge Jehovas mehr, machen Sie, was Sie für richtig halten. Der Sohn wurde gerettet, dank fremdem Blut.
Reinhardt begann, sich für die historischkritische Lesart der Bibel zu interessieren, lernte, dass dieses Buch von Menschen verfasst wurde, Menschen mit eigenen, bisweilen allzu menschlichen Interessen; sie schrieben mit den Wissensgrenzen einer lange zurückliegenden Zeit. Reinhardt las Schriften der Theologin Uta-Ranke-Heinemann und des antiken Philosophen Epikur, erschloss sich mit eigenem Hirn und Herz neue Gedankenwelten. Horizonte taten sich auf jenseits des Frontalunterrichts, der Glaubensanweisungen, der einzig wahren Wachtturm-Wahrheiten. Hinter der Enge: erregende Weiten des Geistes … Die Reinhardts verließen die Zeugen Jehovas.
Grußlose Begegnungen [Momente der Heimatlosigkeit]
Nach dem Ausstieg standen die Reinhardts „auf einen Schlag so gut wie alleine da“. Ihnen half, dass sie einander hatten. Selbst wenn sie „allein“ waren – sie waren zu zweit. Dennoch, die Ächtung traf sie mit Wucht. Damit, sagt Frau Reinhardt, „werde ich noch heute fast tagtäglich konfrontiert.“: Menschen, die nicht nur ihre Glaubensgenossen, sondern zum Teil Geschäftspartner waren, gute Bekannte, Freunde – diese selben Menschen, mit denen sie in Urlaub fuhr, verweigern ihr heute den Gruß auf der Straße, strafen sie mit Schweigen und vermitteln ihr, „dass du einfach nichts mehr wert bist“.
„Ich komm fast nicht drüber weg.“ 40 Jahre ihres Lebens war sie Zeugin Jehovas. Noch heute, drei Jahre nach dem Ausstieg, wirke „die Gehirnwäsche so stark“ nach, „dass ich mich als Verräter fühle“. Vermutlich glauben die Zeugen in ihrer Gemeinde fest, Gott wolle es so – „das nehme ich denen ab. Ich gehe von mir aus: Ich hab’s ja auch geglaubt.“
Mit der sozialen Heimat verloren sie ihr spirituelles Zuhause, ihr religiöses Obdach.. In Frau Reinhardt wirkte der Glaube der Zeugen noch nach, als sie sich äußerlich längst gelöst hatte. Ein Leben lang hatte sie wieder und wieder eingetrichtert bekommen: Wenn Armageddon kommt, werden nur die Zeugen errettet. Sich von der Idee des Auserwähltseins zu verabschieden, das war, „wie wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird“.
Nie mehr Schaf sein [Der Weg der Freiheit]
Die Welt der Zeugen Jehovas bröckelt. Internationale Mediziner, Juristen und Theologen prangern das Blut-Transfusionsverbot so massiv an, dass die Wachtturmgesellschaft sich zu einer spitzfindigen Neuinterpretation durchrang, die das Gesetz unterläuft, ohne es auszuhebeln: „Blut“ als ganzes bleibt tabu. Die einzelnen Blutbestandteile vom Globulin bis zu Plasma-Proteinen aber sind vom Verbot ausgenommen. Und: Eine Blut-Transfusion gilt offiziell nicht mehr als Ausschlussgrund.
In seinem näheren Umkreis, beobachtet Reinhardt, gebe es „fast keine Familie, wo nicht Kinder aussteigen“. Viel leichter als früher finden die Jugendlichen Zugang zu kritischen Perspektiven, Info-Seiten und Aussteiger-Berichten im Internet.
Menschen, die bereits ein halbes Leben hinter sich haben und kaum je entschlossen über den Tellerrand der Zeugen-Welt zu blicken wagten, tun sich unendlich schwerer. Es erfordert große Stärke, den Gewissheiten von Armageddon, Verdammnis und Erlösung zu entsagen, sich den Unsicherheiten der Existenz auszusetzen und das eigene Leben auf den Prüfstand zu stellen.
Die Reinhardts haben es getan. Heute, mit 56 und 51 Jahren, fühlen sie sich, all den peinigenden Nachwirkungen zum Trotz, befreit. Sie haben sich gelöst aus einem System, in dem jedes Erdbeben, jeder Sturmwind, jede Krise Vorbote des nahen Weltendes und ein Zeichen des Herrn ist. „Als der Irakkrieg begann, sagten viele: Ah, das könnte Armageddon einleiten. Als SARS ausbrach, zitierten viele aus der Bibel: In den letzten Tagen werden Seuchen sein.“
„Ich glaube an einen Gott“, sagt Frau Reinhardt, „aber ich werde mich nie wieder mit einer organisierten Religion einlassen, wo Menschen Macht ausüben“. Und ihr Mann: „Egal, wie die Religion heißt, immer gibt es Hirten und Schafe. Und Schafe werden gemolken, geschoren, geschlachtet.“
In Timotheus heißt es, die Menschen mögen „Gutes tun, reich werden an guten Werken, gerne geben, behilflich sein, sich selbst einen Schatz sammeln als guten Grund für die Zukunft, damit sie das wahre Leben ergreifen.“ Die Reinhardts wollen „das wahre Leben ergreifen – und das ist jetzt.“
Die Reinhardts haben ihre Einsichten im Internet dokumentiert unter der Adresse http://www.gotteswort.info.
Nicht richtig [Eine Gegenrecherche]
Auf die Frage, ob er seine Sicht der Dinge schildern wolle, antwortet Herr Betzel: „Das ist nicht gewünscht.“ Er sei gehalten, Presse-Leute an seinen Anwalt zu verweisen.
Der Anwalt ist Armin Pikl aus Hadamar bei Limburg/Lahn und gilt in Insider-Kreisen als „Haus- und Hofanwalt“ der Glaubensgemeinschaft in Deutschland. Pikl hat im Auftrag der Zeugen wiederholt Unterlassungserklärungen von Kritikern erwirkt.
Den Fall Betzel/Reinhardt nennt Pikl „im Prinzip eine Lappalie“. Die Reinhardts „verkehren immer noch in den Kreisen“ der Zeugen Jehovas – und daraus ergebe sich ein „gewisses Konfliktpotential zu den Aktiven, die das nicht so gern sehen, dass noch so ein enger Umgang ist.“ Pikl räumt ein, dass Herr Betzel verbal „übers Ziel hinausgeschossen“ sei – aber die Reinhardtsche Behauptung, dass auch den Verwandten der Umgang mit den Aussteigern verboten sei, „ist nicht richtig. Da gibt es extra eine Anweisung der Religionsgemeinschaft.“
Und wer hat nun Recht? Die Frage lässt sich auch nach Lektüre einschlägiger Schriften der Wachtturm-Gesellschaft nicht klar beantworten – die Aussagen muten zum Teil so schillernd und mehrdeutig an, als solle hier gezielt den einzelnen Glaubensgruppen vor Ort Deutungsspielraum eingeräumt werden. Allein im Papier „Christliche Loyalität bekunden, wenn ein Verwandter ausgeschlossen ist“ finden sich drei solcher Passagen:
Die erste Stelle: „Fest steht“, dass ein Aussteiger „viel einbüßt: die Anerkennung Gottes, die liebliche Gemeinschaft der Brüder und einen Großteil der Gesellschaft seiner christlichen Verwandten.“
An einer anderen Stelle heißt es, es bleibe „den Familienmitgliedern überlassen, zu entscheiden, in welchem Umfang der Ausgeschlossene mit ihnen essen oder sich an sonstigen Familienaktivitäten beteiligen kann.“ Verwandte. Die den totalen Bruch scheuen, sollten aber gegenüber den ausgeschlossenen Verwandten „nicht den Eindruck erwecken, es sei alles so wie vor dem Gemeinschaftsentzug.“
Die dritte Stelle lautet: „Die früheren geistigen Bande“ des Aussteigers „sind völlig aufgelöst worden. Das trifft selbst auf seine Angehörigen zu, auch auf die im engsten Familienkreis.“