Ehemalige Sektenanhänger werden häufig gefragt, warum sie es nicht früher geschafft haben, aus ihrer Sekte auszutreten. Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, denn eine Reihe von Faktoren trägt dazu bei, dass Anhänger sich nicht von ihrer Sekte lösen können.
Die amerikanische Psychologin Margaret Thaler Singer von der University of California, Berkeley, hat sich mit mehr als 3000 ehemaligen Sektenanhängern beschäftigt. Sie beschreibt Faktoren, die den Austritt aus einer Sekte so schwer machen.
Glaube
Sekten kommen dem Wunsch vieler Menschen entgegen, an etwas glauben und entsprechend dieser Überzeugung leben zu können. Vielen Sektenanhängern gelingt der Schritt aus der Abhängigkeit nicht, weil sie ihren Glauben nicht aufgeben wollen. Sie glauben an ihre Gruppe und sind bereit, sich zu ändern, wenn diese es fordert.
Aufrichtigkeit und Loyalität
Die meisten Menschen sind aufrichtig und ehrlich. Sie möchten gerne etwas Gutes tun, in ihrem Leben etwas erreichen, und sie sind loyal: Wenn sie sich für eine Sache entschieden haben, stehen sie dazu. So sagen sich viele Anhänger, wenn ihnen Zweifel kommen: „Ich habe mich hierfür entschieden. Mir war von Anfang an klar, dass es schwer sein wird, dabei zu bleiben. Jetzt erscheint mir zwar einiges nicht ganz richtig, aber ich habe mich dafür entschieden und muss dazu stehen." Aber je länger sie weitermachen, desto schwerer wird es auszusteigen.
Autorität
Von Kind auf lernen wir Autoritätspersonen zu respektieren. Die Autorität des Führers innerhalb einer Sekte ist unangefochten: Wer Fragen stellt, greift ihn an. Zweifler und Kritiker werden vor der Gruppe bloßgestellt, werden als Abtrünnige, Verräter, Spione oder als Satan beschimpft.
Gruppendruck und mangelnde Information
Gruppendruck spielt eine entscheidende Rolle. Viele ehemalige Sektenmitglieder berichten, dass sie sich mit folgenden Überlegungen selbst beruhigten: „Die anderen geben ja auch nicht auf. Das sind doch intelligente Leute. Es muss an mir liegen, ich mache etwas falsch. Ich muss mich einfach mehr anstrengen." Oft erhalten sie auch falsche Informationen: Einige Aktivitäten der Sekte werden verschwiegen, über das Geschehen im Rest der Welt wird ihnen falsch oder einseitig berichtet.
Bruch mit der Vergangenheit - soziale Isolation
In vielen Sekten werden die Mitglieder dazu gebracht, mit Familie, Freunden, Bekannten (soweit sie nicht selbst der Sekte angehören) die Kontakte abzubrechen und möglichst wenig Kontakte (intensivere Freundschaften) außerhalb der eigenen Gemeinschaft zu pflegen. Geht ein Mitglied nach „draußen", so vorrangig, um zu missionieren. In einigen Sekten nehmen die Anhänger neue Namen an und kennen nicht einmal die wirklichen Namen der anderen. Somit bauen sie sich eine neue Identität auf, die ein Ausbrechen aus der Sekte beinahe unmöglich macht.
Wer in einer Umgebung lebt, in der alle gleich denken und handeln, dem fällt es schwer, mit Außenstehenden zu kommunizieren und sich mit deren Ansichten auseinanderzusetzen. Falls es doch einmal zu Begegnungen mit der Familie oder alten Freunden kommt, so fühlen sich Sektenanhänger oft entfremdet und nicht verstanden und sind froh, wieder in die kleine, überschaubare und sichere Welt ihrer Sekten-gemeinschaft zurückkehren zu können. Auch wenn das Leben in der Sekte oft hart und anstrengend ist, ist es eben vertraut. Der Gedanke, sich von der Sekte zu lösen, wird immer unvorstellbarer: Was würde sie schon, nachdem alle alten Kontakte abgebrochen wurden, im „normalen Leben" erwarten? Die Leute hätten Vorurteile, würden sie meiden, ihnen keine Arbeit geben. Durch ihre Abgeschlossenheit von der Außenwelt verfallen die Sektenanhänger immer mehr in eine emotionale und psychische Lähmung. Im Falle eines Austritts verweigern die noch verbliebenen Sektenmitglieder in der Regel jeden Kontakt. Der Aussteiger verliert damit auch seinen gesamten Freundeskreis und steht meist völlig allein da.
Angst
Nicht nur vor dem Leben außerhalb der Sekte haben die Sektenmitglieder Angst. Viele Sekten drohen ihren Anhängern, bestrafen sie oder verhängen Hausarrest, der oft geradezu einem Gefängnisaufenthalt gleichkommt. Begeht ein Mitglied den Fehler zu gestehen, dass es die Sekte verlassen will, wird es eine Zeitlang ausgeschlossen. Gleichzeitig wird es denunziert, und es werden Lügen über sein Befinden verbreitet.
Dies verstärkt die Angst der anderen, ihnen könnte Ähnliches widerfahren.
Schuldgefühle
Wer jahrelang Mitglied einer Sekte war, hat viel investiert und oft Dinge getan, von denen er weiß, dass er sie im normalen Leben nicht getan hätte. Scham und Schuldgefühle erschweren so den Ausstieg und die Rückkehr in ein Leben außerhalb der Sekte.
Julia Weidenbach: "Für immer gefangen? Warum es so schwer ist, sich aus einer Sekte zu lösen", in: "Psychologie heute", November 1997.
Grundlage des Artikels ist das Buch von Margaret Thaler Singer und Janja Lalich: "Sekten. Wie Menschen ihre Freiheit verlieren und wiedergewinnen können", Heidelberg, Carl Auer-Systeme