Erleuchtung jetzt: Heute beginnen im Braunschweiger Fußballstadion und der Bremer Stadthalle die Kongresse der Zeugen Jehovas. taz-Autor Hartmut El-Kurdi weiß genau, was man verpasst wenn man nicht hingeht. Und, was man verpasst bekommt, wenn doch.
Protokoll einer simulierten Heimkehr
von Hartmut El-Kurdi
Den letzten Jehovas Zeugen-Kongress hatte ich 1978 besucht. Mit dreizehn. Damals stand ich kurz davor, mich von Gottes auserwähltem Volk zu verabschieden, um fortan ein Leben in Sünde zu führen, d.h. Geburtstagspartys zu besuchen, Rockmusik zu hören, mich zu befummeln und - falls Vicky Horn es denn zuließe - gerne auch mal wild rumzuknutschen. Ich weiß noch, dass ich am Ende des mehrtägigen Sektenkirchentages tief durchatmete und nicht ohne pubertäres Pathos dachte: Das war’s! Nie wieder!
Zwar dauerte es noch ein auseinandersetzungsreiches dreiviertel Jahr, inklusive schwerster Schuldgefühlen und angstschweißgesättigter Alpträume meinerseits, bis sowohl meine Mutter als auch die "Ältesten" unserer Versammlung einsahen, dass sie mich endgültig an den Satan (oder an wen auch immer) verloren hatten. Aber dann war tatsächlich Ruhe im Karton. Nie wieder musste ich beschlipst und beanzugt einen "Königreichssaal" betreten, nie wieder musste ich predigend von Tür zu Tür gehen und dabei jedesmal befürchten, einer meiner Mitschüler könnte öffnen, mich auslachen und dann beim allmontäglichen „Wer hat am Wochenende die schärfste Geschichte erlebt“-Wettbewerb mit meinem peinlichen Auftritt als Jehova-Hausierer punkten. Und nie wieder nahm ich an einem Kongress teil. Bis zum Sommer des Jahres 2003.
In einer Mischung aus düsterer Sentimentalität und schriftstellerischer Abenteuerlust hatte ich in diesem Jahr beschlossen, den zufälligerweise an meinem Wohnort Braunschweig stattfindenden „Bezirkskongress“ (mit dem imperativen Tagungstitel „Verherrlicht Gott“) zu besuchen. Veranstaltungsort war ein Fußballstadion, in dem normalerweise der tragische Traditionsverein Eintracht Braunschweig Saison für Saison von beliebigen Gegnern gedemütigt, gekreuzigt und verscharrt wird - und doch immer wieder von den Toten aufersteht. Gelegentlich fährt die Eintracht dann sogar gen Himmel bzw. steigt in die 2. Liga auf, um sich dann aber in der folgenden Saison wieder auf die Höllenfahrt in die Regionalliga zu begeben. Das Stadion ist also mythischer Boden, ein Ort der tiefen Religiosität. Statt mit gegeißelten Eintracht-Gläubigen, waren die Ränge an diesem verlängerten Wochenende aber mit rund 10000 Jehovas Zeugen aus ganz Niedersachsen gefüllt, die entschlossen waren, drei Tage lang die Seele ordentlich strammstehen zu lassen.
Etwas mulmig war mir schon zumute, als ich am ersten Morgen das Stadion betrat. Ich wusste nicht, ob ich mich überhaupt noch zurechtfinden würde. Ich wollte ja undercover arbeiten und dabei nicht durch Uninformiertheit oder Verstöße gegen die Etikette auffallen. Ein Blick auf den am Infostand ausliegenden Ablauf-Zettel beruhigte mich schnell. Zumindest auf dem Papier schien sich seit 1978 nichts geändert zu haben. Die Struktur und die Inhalte der Kongresse schienen fast gleich geblieben zu sein. Als das Sektentreffen kurz darauf offiziell eröffnet wurde und seinen christlichen Gang ging, legte sich auch der letzte Rest Unsicherheit. Ich wusste, hier war alles wie immer, hier kannte ich mich aus.
Nach wie vor bestand das täglich sechsstündige Programm fast vollständig aus endlosen, mumientrockenen, mit Bibelzitaten gespickten Ansprachen, in denen u.a. vor „Hurerei“, Bluttransfusionen, Kontakt mit „Weltmenschen“, höherer Bildung und „spiritismusverherrlichenden“ Fernsehsendungen gewarnt wurde. Zwischen den Vorträgen wurden zur Entspannung semi-schmissige Lieder gesungen, und nach drei Stunden gingen alle in die Mittagspause, in der mitgebrachte, garantiert blutwurstfreie Klappstullen auf dem Menüplan standen. Dann folgten drei weitere Stunden Hochdruck-Unterweisung.
Betitelt waren die Vorträge entweder biblisch-bürokratisch „Ein Leben in unversehrter Lauterkeit führen“ oder ratgeberisch-handfest „Höre nicht auf die Stimmen von Fremden“. Mit den „Fremdstimmen“ waren in erster Linie Abtrünnige und Aussteiger wie ich gemeint, die - so der Redner - alles daran setzten, die Zeugen mit in den Abgrund zu ziehen. Deswegen solle man sofort „flüchten“, wenn ein Abtrünniger versuche, sein teuflisches Werk zu tun, sei es von Angesicht zu Angesicht, im Fernsehen oder – sehr gefährlich! - im Internet. Aber wie üblich, blieben auch diese Warnungen raunend unkonkret, um Zweifelnden nicht etwa noch häretische Surftipps zu geben.
So wurde auch nur sehr nebulös von verleumderischen Vorwürfen gesprochen, die in letzter Zeit gegen “Gottes Volk“ vorgebracht würden. Mir war sofort klar, hier ging es um einige öffentlich gewordene Fälle von Kindesmissbrauch und den Versuch der Wachtturm-Gesellschaft, diese zu vertuschen. Traditionell reagieren die Zeugen auf solche Angriffe mit Schweigen bzw. mit ablenkender Gegenpropaganda. Kindesmissbrauch? Papperlapapp – wir lieben unsere Kinder doch. Also bekamen alle Kongressteilnehmer am zweiten Tag kostenlos das neue Kinderbuch „Lerne von dem großen Lehrer“ überreicht, in dem die abergläubische und totalitäre Weltsicht der Wachtturm-Gesellschaft sehr schön in einer auch für die Kleinsten leicht verständlichen Sprache zusammengefasst wird. Im Zusammenhang mit den Missbrauchs-Vorwürfen fasziniert besonders die delikate Melange aus Lustfeindlichkeit und Sexbessenheit. So liest man auf Seite 60: „Zum Beispiel gefällt es den Dämonen, wenn Jungs und Mädchen gegenseitig mit ihrem Penis und ihrer Scheide spielen. Wir möchten den Dämonen aber keinen Gefallen tun, stimmt’s?“
Solch monströs abstoßender Schwachsinn aktivierte mein Gedächtnis, das nun begann, mir nicht nur längst vergessene, gruselige Bilder an die Schädelinnenwand zu werfen, sondern sich auch sorgsam wegarchivierte Gefühle aus dem Keller kommen zu lassen.
Ich erinnerte mich wieder an die Angst, die die Bibelforscher mir jahrelang gemacht hatten. Im Angstmachen waren sie wirklich erste Sahne. So erzählten sie auch mir siebenjährigem Knirps, dass überall um mich herum „Dämonen“ lauerten, die mich auf ihre Seite ziehen wollten. Nicht im metaphorischen Sinne, nein real: Alles voller Dämonen! Die ganze Welt! Nicht nur die direkte Umgebung meines Penises. Auch unterm Bett, im Schrank, in der Abstellkammer! Vor allem aber drohten sie mir mit „Harmagedon“, dem großen tabula rasa, dem „Ende des bösen Systems der Dinge“, wie es in ihrem Sektenbibeldeutsch hieß, bei dem Jehova alle Ungläubigen vernichten würde und allein seine Zeugen, aber nur die treuen und eifrigen unter ihnen, überleben ließe. Und dies sollte nicht etwa irgendwann geschehen, sondern quasi morgen: 1975! In diesem Jahr befand ich mich in einem Zustand der Dauerpanik, weil ich als Zehnjähriger natürlich ständig etwas biblisch Illegales tat.
Als sich die Prophezeiung nicht erfüllt hatte, also am 1. Januar 1976, war ich spontan erleichtert, im Gegensatz zu vielen verstörten Zeugen, denen es zunächst den Boden unter den Füßen wegzog. Die Sektenchefs in der Wachtturm-Zentrale in Brooklyn ließen allerdings eiskalt verlauten, die Gläubigen seien selbst Schuld, die Organisation hätte nie ein definitives Datum für den Weltuntergang genannt. Die offizielle Endzeitberechnung besage lediglich, dass ab 1975 jeden Tag mit dem großen Knall gerechnet werden müsse. Ätsche bätsche sozusagen. Und die Gemeinde schluckte die faule Ausrede. Ich auch. Der Kampf ging weiter. Und mein hysterisch-hosenvolles Leben auch, zumindest noch ein paar Jahre...
Die aufsteigenden Erinnerungen an diese forcierte Schissmacherei seitens der Zeugen erzeugte in mir kurzzeitig das dringende Bedürfnis, das Experiment abzubrechen, nach Hause zu gehen, Gott zu fluchen und eine Marilyn Manson-CD einzulegen. Aber ich widerstand dem eskapistischen Reflex. Er traf mich auch nicht völlig unvorbereitet. Schon an dem Tag, an dem ich mich entschlossen hatte, diesen persönlichen Time-Tunnel zu betreten, war mir klar gewesen, dass das Ganze kein Spaß werden würde. Womit ich jedoch überhaupt nicht gerechnet hatte, waren die spärlichen, aber immer wieder aufwallenden positiven Erinnerungen, die mir ein durchaus kuscheliges Heimkehrer-Gefühl vermittelten. Und mir grade deswegen umso gruseliger erschienenen.
Wahrscheinlich handelte es sich dabei um eine Art Religions-Ostalgie. Wie in der DDR war auch bei den Zeugen Jehovas „nicht immer alles nur schlecht gewesen“. Zumindest kam es mir auf einmal so vor. Ich erinnerte mich an Kinderfreundschaften, an gemeinsame Fußballspiele, an das gute Gefühl, wenn ich für das fehlerfreie Vorlesen einer Bibelstelle gelobt wurde, an meine grottenschlechten, aber mit freundlichem Kopftätscheln kommentierten Blockflötenauftritte im Versammlungsorchester. Und vor allem an das Gefühl, etwas Besonderes, etwas Besseres zu sein. Besser als all die verdorbenen „Weltmenschen“.
Dieses Elite-Empfinden ist ein ebenso sinnvolles wie raffiniertes Element der Wachtturm-Lehre. Nur damit können die Zeugen den Hohn und Hass von außen, aber auch die Überwachung und Gängelung von innen ertragen. Für das luxuriöse Gefühl auserwählt zu sein, hält man einiges aus, seien es nun die Demütigungen an den Haustüren, die Hänseleien von Mitschülern oder - wie an diesem Wochenende - einen Kongress, dessen dröges, uninspiriertes Programm nur mit der heiligen Geduld der Privilegierten zu ertragen ist. Und so sah ich denn auch, wann immer ich mich auf der Tribüne umschaute, Menschen, die vor allem aus- und durchhielten. Manche ließen ihren Blick durchs Stadion schweifen oder blätterten ziellos in ihrer Bibel, andere tuschelten mit dem Nachbar oder steckten sich unauffällig Süßigkeiten in den Mund. Neben mir kapitulierte eine Frau und nickte ein. Nur die heillos überforderten kleinen Kinder wehrten sich geräuschvoll, so dass ein permanentes Nörgeln, Weinen und Schreien über dem Stadion lag. Auch das nahm man hin. So war das eben. Zu meiner Zeit war man mit den nölenden Kindern mal schnell auf Toilette gegangen und hatte ihnen den Hintern versohlt. Das konnte ich während dieses Kongresses nicht beobachten, vielleicht hatte sich hier ausnahmsweise doch etwas geändert, vielleicht bekam ich es auch nur nicht mit...
Dass sich jedoch alle im tiefsten Innern nach etwas anderem als breiiger Langeweile sehnten, wurde schlagartig klar, als ein Redner seinen Vortrag ohne jede Vorwarnung mit einer winzigen Prise Leidenschaft und Witz würzte. Jeder seiner altbacken-betulichen Scherze wurde mit dankbarem Gelächter belohnt, der Applaus klang zur Abwechslung ehrlich begeistert, und hätte der Vortrag noch zehn Minuten länger gedauert, wäre mit Sicherheit „La Ola“ durchs Stadion gegangen. Doch schon beim nächsten, gewohnt roboterhaft klingenden Redner fielen die Zuhörer wieder in ihre übliche konzentrierte Lethargie.
Auch ich glitt mit zunehmender Kongressdauer immer öfter in diesen nichtekstatischen, anspruchsreduzierten Trancezustand ab. Nach zweieinhalb Tagen war ich so mürbe, dass ich mich sogar kurzzeitig auf das „Bibeldrama“ freute. Unter Zeugen gelten diese Laienspielaufführungen als actiongeladene Höhepunkte der Kongresse. In Wahrheit sind die grotesk schlichten Lehrstücke ebenso langweilig wie der Rest des Programms. Formal funktionieren sie wie das „Drei-Fragezeichen-Vollplayback-Theater“, nur ohne ironische Brechung: Zu einem vorproduzierten Bibelhörspiel öffnen und schließen Statisten in historisierenden Kostümen den Mund und versuchen durch flaggensignalartiges Gestikulieren auch noch in 150 Meter Entfernung sichtbar zu sein. Obwohl das Stück ohne jede Dynamik vor sich hin plätscherte, kam es gut an. Auch ich war begeistert. Vor allem weil mir während dieses durch und durch humorfreien und in ästhetischen Kategorien nicht mehr fassbaren Agitproptheaters klar wurde, dass ich mir den letzten Nachmittag doch würde schenken müssen. Ich konnte nicht mehr. Ich hatte genug. Mal wieder.
Heilfroh, mich vor 25 Jahren vom Glaubensacker gemacht zu haben, radelte ich nach Hause. Als ich bemerkte, dass mir dabei trotzdem ein wenig wehmütig ums Herz wurde, verstand ich, wie recht Wiglaf Droste doch hatte, als er sang: „Schon seltsam / wie leicht man vergisst / dass alles was man tut / für immer ist“. So oder so.
taz Nord Nr. 7716 vom 15.7.2005, Seite 23