Wenn es um ihre eigene Geschichte geht, hat es die WTG mit der Wahrheit noch nie allzu genau genommen. Das zeigt zum Beispiel ein Blick auf eine der Schlüsselfiguren der Bibelforscher-Vereinigung während der Nazizeit.

Gerhard Kaiser hat in den Archiven nach Informationen über den ehemaligen Zweigdiener Paul Balzereit gesucht und dabei ein Intrigenspiel aufgedeckt, das die WTG als notorischen Lügner bloßstellt.

Nach dem ersten Weltkrieg wurde es notwendig das Werk der WTG in Deutschland zu reorganisieren. Ein neuer Zweigdiener wurde gebraucht. Rutherford fand einen jungen, seinen Zielen hörigen WTG-Anhänger aus Kiel, Paul Balzereit. Balzereit war Nieter und Arbeiter auf der Germania-Werft in Kiel. Eine höhere Bildung besaß er nicht; aber er war ein brillanter Redner. Dabei war es von psychologischer Bedeutung, an die Spitze der WTG in Deutschland einen Mann zu stellen, der aus einfachsten Arbeiterkreisen kam. Damit war die Abhängigkeit von Rutherford gesichert. Er diente auch als Aushängeschild dafür, daß die WTG die einfachen und bedrückten Menschen vertrete, worauf es in Deutschland jetzt ganz besonders ankam.

Damals im November 1920 ging alles noch durch Wahlen vonstatten. Wie ging Rutherford vor, um seinen auserwählten 34jährigen Paul Balzereit an die Spitze der deutschen WTG zu bringen? W. J. Schnell enthüllte das in einem offenen Brief an Jehovas Zeugen:

... Er (Rutherford Anm. des Verfasssers) berief eine Zusammenkunft von sieben Pilgerbrüdern ein und beauftragte sie, einen neuen Zweigdiener zu nennen und zu wählen. Zwei Brüder, Balzereit und Buchholz, wurden nominiert. Das Ergebnis war, daß Bruder Balzereit gewählt wurde, und das Ergebnis wurde von den Brüdern als der Wille Gottes anerkannt. Einige Tage später jedoch traten fünf der Pilgerbrüder an Bruder Buchholz heran und unterrichteten ihn von der Tatsache, daß sie alle für ihn gestimmt hatten und daß sie nicht verstehen könnten wie Balzereit mit einem Stimmenverhältnis von 6 zu 1 gewählt werden konnte.

Zufällig kam mir das wieder in Erinnerung durch einen Brief vom 11. Januar 1957 (den ich in meinen Dokumenten habe), von einem Mann, der einst eine hohe Funktion in der Gesellschaft innehatte (W.F. Salter ehem. WTG-Zweigdiener in Kanada, Anm. des Verfassers). Unter anderem schrieb dieser Bruder: Du wirst weiter interessiert sein daran, daß Richter Rutherford mich 1924 informierte, wie die Berufung von Balzereit zustande kam. Er sagte, daß er (Rutherford) eine Wahl abgehalten habe, um zwischen Balzereit und einem anderen Bruder für das Amt wählen zu lassen, daß er die Auszählung der Wahlzettel vorgenommen habe und daß er selbst, der Vorsitzende, auszählte. Das Ergebnis war nicht zugunsten von Balzereit gewesen, der andere Bruder hatte die Mehrheit (ich kann mich nicht mehr an den Namen des Bruders erinnern). Jedoch Rutherford dachte, Bruder Balzereit wäre ein besserer Mann, und so erklärte er ihn als gewählt. Er fühlte sich dazu berechtigt um des Werkes willen. Ich denke nicht, daß viele diese Sache kennen, aber ich war eng mit dem Richter verbunden und reiste mit ihm in zahllosen Gelegenheiten viele Jahre zu Kongressen in den Staaten, in Kanada und Europa.

Zitat aus „Die Zeugen Jehovas", 1971, Manfred Gebhard, S. 126,127

Paul Balzereit war wohl nicht sehr beliebt. Die Wahrheitsfreunde 1922 (Franz Egle, Ewald Vorsteher und andere), erhoben Anklage, daß Balzereit sich jetzt in seidene Hemden und in herrliche Sportanzüge kleide, zweiter Klasse auf der Eisenbahn fahre, sich ein Automobil angeschafft habe, worauf man Kreuz und Krone malte, wie ein Fürst herumkutschiere, der Titelsucht, gotteslästerlicher Lehren, der Lüge, Frechheit und der finanziellen Ausbeutung der Anhänger verfallen sei. (Siehe Die Zeugen Jehovas S. 129)

Balzereit hätte wohl gerne eine Vergangenheit gehabt, die mehr darstellte. So schrieb er 1925 in der Broschüre „Kulturfragen" unter dem Pseudonym Paul Gehrhard von sich selbst:

... P. Bräunlich, welcher die unverantwortliche Unwahrheit verbreitet, der Leiter der Bibelforscherbewegung in Deutschland sei während des Krieges Hafenarbeiter in Kiel gewesen. Wahrheit ist, daß dieser überhaupt nie Hafenarbeiter war und bereits seit dem Jahre 1910 im Dienste der Wachtturm Bibel und Traktat-Gesellschaft stand.

Zitat aus „Kulturfragen", Paul Gehrhard, 1925, S. 10

Paul Balzereit benutzte gerne die Gelegenheit seinen Gönner, J. F. Rutherford zu schmeicheln. Am 29.11.1924 hielt er in Bern einen Vortrag, den er auch schon an vielen Orten Deutschlands gehalten hatte. Dieser Vortrag wurde auch als Broschüre verteilt und leitete folgendermaßen ein:

Die Geschwister in Deutschland entfalten einen großen Eifer im Hinblick auf das bald eintretende Ende unseres Wirkens (gemeint ist das für 1925 vorhergesagte Ende der Welt, Anm. des Verfassers). Ich habe viele verschiedene Versammlungen besucht, sie aufzumuntern im weiteren Kampf und für die kommenden Prüfungen. Ich bin dem himmlischen Vater sehr dankbar für das große Vorrecht, das mir zuteil wird, so viele geweihte liebe Kinder Gottes hier versammelt zu sehen. Da erinnere ich mich an das Wort des geliebten Bruders Rutherford anläßlich der Haupversammlung in Bern, als er sagte: Welch schöne Schlachtschafe!

Zitat aus der Broschüre zum Vortrag in Bern

Makabere Worte, besonders angesichts dessen, was am 7. Oktober 1934 auf Inszenierung Rutherfords hin in Deutschland geschah. Folgender Brief wurde in den Untergrundgruppen verlesen:

Ihr habt bereits einen Bund geschlossen, den Willen Gottes zu tun. Gott hat euch darauf bei Eurem Wort genommen. ... hat die Deutsche Regierung Euch verboten Euch zu versammeln, Jehova anzubeten und ihm zu dienen. Wem wollt ihr gehorchen, Gott oder Menschen? ...

Dann sollt ihr die Versammlung schließen und hinausgehen zu Euren Nachbarn und ihnen Zeugnis geben. ...

Zitat aus „Jahrbuch der Zeuge Jehovas 1935", S.82

Die Aktion zog viele Verhaftungen und Einweisungen in Gefängnisse und Konzentrationslager nach sich. Welch schöne Schlachtschafe!

Dieser Brief stellte eine Kehrtwendung Rutherfords in seiner Haltung gegenüber der deutschen Regierung dar. Ab diesem Zeitpunkt kann man eine Spaltung zwischen Rutherford und Balzereit feststellen. Für Rutherford war es leicht von den Vereinigten Staaten aus solche grausamen Anweisungen zu geben. Balzereit dagegen versuchte sich mit der deutschen Regierung zu arrangieren.

1924 erschien im Stern-Verlag, Leipzig ein Buch von P. B. Gotthilf mit dem Titel „Die größte Geheimmacht der Welt". P. B. steht für Paul Balzereit. Diese Wachtturm Schrift sollte nicht als solche erkannt werden, weshalb sie in einem weltlichen Verlag erschien und der Autor verdeckt agierte. Deshalb findet man darin auch Zitate, die in offiziellen Schriften nicht zu finden sind. Mit der größten Geheimmacht ist das Papsttum gemeint, das angeblich Pläne hege die gesamte Welt zu unterjochen. Das Buch spricht auch von einem von Rom gefürchteten Gegner, der den Menschen einen unschätzbaren Dienst leiste und bringt ihn mit den Bibelforschern in Verbindung.

Zu den ernstesten und auch von Rom am meisten gefürchteten Gegnern gehören neben einigen anderen, weniger positiv tätigen religiösen Kreisen, wohl die „Ernsten Bibelforscher

Zitat aus „Die größte Geheimmacht der Welt", P.B. Gotthilf, S.82

Balzereit bringt noch einen anderen Verbündeten ins Spiel. Wegen seines außergewöhnlichen Inhalts bringe ich das Zitat in voller Länge:

Roms Furcht vor den Freimaurern

In Mexiko ist tatsächlich aller Fortschritt, der im Laufe eines Jahrhunderts gemacht worden ist und aller Kampf für die Freiheit den Freimaurern zu verdanken, welche sich bemühen „freimaurerisches Licht" in das verdunkelte Land zu bringen. Das Land Mexiko ist Eigentum der Aristokratie und des Papsttums gewesen. Einige Verbesserungen wurden unter Diaz, einem Freimaurer, gemacht, und einiges wurde unter dem Freimaurer Madero, einem hochgesinnten Manne Mexikos erreicht. Jetzt ist das Land unter Obregon dem Volke gegeben worden, trotz des vereinten Protestes der Aristokratie und des Papstreiches. – Die Zeitschrift „Der amerikanische Freimaurer" schreibt:

„Zwischen der freimaurerischen Brüderlichkeit und der katholischen Kirche besteht eine Gegnerschaft, die aus der Natur der Organisationen hervorgeht. Die einen suchen die größte Gedankenfreiheit, und die anderen suche alles Erheben gegen eigenmächtige Autorität, die Verstand und Seele in Knechtschaft halten möchte, zu ersticken.

„Den Freimaurer des Kontinents", bemerkt der päpstliche „Sonntags-Besucher", trifft die Schuld für die Revolution in Portugal und die daraus folgende Verfolgung „unserer Kirche" in diesem Lande. In Frankreich, Spanien und Italien sind die Führer der anti-klerikalen Parteien Freimaurer. Der Jahrestag des Verfalls päpstlicher Macht ist der freimaurerische Feiertag in Italien. In den vergangenen zweihundert Jahren hat jeder organisierte Widerstand gegen die Kirche seinen Anfang oder die größte Unterstützung in den Freimaurer-Logen gefunden. Es würde schwer sein aus dieser Zeit einen einzigen nennenswerten Feind der (päpstlichen) Christenheit zu nennen, der nicht mit Freimaurerei identisch wäre. Nur wer für die Tatsachen der Geschichte blind ist, kann verfehlen, den (für das Papstreich) schädlichen Einfluß der Freimaurerei auf dem Grunde der mexikanischen Zustände zu sehen, sowie auch in anderen katholisch-amerikanischen Ländern."

Eine der regulären päpstlichen Sitten ist die, die Hauptaufmerksamkeit der Katholiken auf Gebet gegen die Freimaurerei zu lenken und mit gutem Recht, denn „die Flut ist nicht nur auf dem Wege, sondern sie ist schon da" – wie eine freimaurerische Zeitung sagt, und fährt dann fort:

„Wir haben das Vorrecht, nicht nur jeden erklärten Freimaurer, sondern auch jeden Protestanten der Religion nach, jeden wahren Patrioten der sein Vaterland liebt, zu uns zu zählen, ob es nun Untertanen einer Monarchie oder einer Republik sind, welche die geschriebenen oder ungeschriebenen Verfassungen und Gesetze ihres Landes obenan stellen und sie höher achten als die dogmatischen und manchmal grausam, blutigen Erlässe und Bullen des Papsttums, um zunächst einmal den verdächtigenden Angriffen der römisch katholischen Kirche zu widerstehen."

Die kürzliche Zusammenkunft der streitenden freimaurerischen Klubs Amerikas in Washington, ist kein gutes Zeichen für das Papstreich, noch die Tatsache, daß Warren G. Harding ein Freimaurer zweiunddreißigsten Grades ist. Bei dem Festzug der Versammlung wurde ihm eine feierliche Begrüßung dargebracht für das, was man von ihm erwartet, und ein ungeheurer Beifall stieg auf: „Wir lieben Sie, Mr. Harding, weil Sie einer der unsrigen sind!" Unser Glückwunsch jedem Lande, das sich freimacht vom Einfluß Rom."

Zitat aus „Die größte Geheimmacht der Welt", P.B. Gotthilf, S.76-78

Folgenden Satz möchte ich wegen seiner Ungeheuerlichkeit noch einmal zitieren:

Es würde schwer sein aus dieser Zeit einen einzigen nennenswerten Feind der (päpstlichen) Christenheit zu nennen, der nicht mit Freimaurerei identisch wäre.

Die Bedeutung dieses Satzes muß man sich einmal auf der Zunge zugehen lassen. Balzereit hätte ihn sicherlich nicht zitiert, wenn er nicht damit übereingestimmt hätte.

War Paul Balzereit ein Freimaurer? Wurde er vielleicht gerade deswegen an die Spitze der deutschen WTG gestellt?

Von C. T. Russell, dem ersten Präsident der WTG, behaupten manche, daß er Freimaurer war. Unter anderem wegen seiner Aussagen, die er in der sogenannten „Tempelansprache" machte.

Ich freue mich, die besondere Gelegenheit zu haben, einiges über Dinge zu sagen, in denen wir mit unseren freimaurerischen Freunden übereinstimmen, denn wir befinden uns hier in deinem Gebäude, das der Freimaurerei geweiht ist. Und auch wir sind Freimaurer. Ich bin ein freier und anerkannter Freimaurer, wenn ich das in voller Länge ausführen darf. Das ist es, was unsere freimaurerischen Brüder uns sagen wollen, daß auch sie freie und anerkannte Freimaurer sind. Das ist ihre Art, es so darzustellen.

Nun, ich bin ein freier und anerkannter Freimaurer. Ich glaube, wir alle sind es. Aber nicht gerade im Stil unserer freimaurerischen Brüder. Wir haben keinen Streit mit ihnen. Ich werde kein Wort gegen freie Freimaurer sagen. Tatsächlich sind einige meiner besten Freunde Freimaurer, und ich schätze es, daß es einige wertvolle Wahrheiten gibt, die unsere freimaurerischen Freunde besitzen.

Zitat aus „Convention Report" 1913 (deutsche Übersetzung aus 3 Systeme, Erich Brüning)

Besonders in den 20er und 30er Jahren hatten sich die Bibelforscher gegen den Vorwurf zu wehren, daß sie „im Solde der Freimaurerei" stehen würden. Balzereit schrieb dazu in „Kulturfragen":

... tauchte die besonders im ultramontanen Teil der deutschen Presse stark betonte Behauptung auf, Bibelforscher stünden im Solde der Freimaurerei. Bezug genommen wurde hierbei auf ein gefälschtes Dokument eines angeblichen Freimaurerbriefes, erstmalig veröffentlicht von der Schweizer Zeitung „Der Morgen".

Die Nähe zum Freimaurertum zeigen auch folgende Zitate:

Bis zum Jahre 1901 war die Gruppe in Glasgow, die zuerst in Schwester Ferries Wohnung zusammenkam, für die Räumlichkeiten zu groß geworden und verlegte ihre Zusammenkünfte in die Freimaurersäle.

Zitat aus „Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1973", S. 89

Unterdessen hielt Bruder Johnston in Durban regelmäßig jeden Sonntagabend biblische Vorträge im Freimaurersaal, Smith Steet.

Zitat aus „Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1976", S. 78

Noch weit interessanter als diese Zitate selbst, ist die Tatsache, daß diese Texte nicht mit dem Index der WTG oder Watch Tower Library zu finden sind. Unter dem Stichwort „Freimaurer" findet man zwar etliche Eintragungen, aber alle mit unverfänglichem Inhalt.

Sicher ist eine Zusammenarbeit der WTG mit den Freimaurern nicht von der Hand zu weisen, besonders angesichts dessen, daß die WTG auch heute mit Sientology und anderen zusammenarbeitet.

In der Zeit bis 1935 hatte Balzereit einen Kurs der Kompromißbereitschaft gegenüber dem NS-Staat eingeschlagen. In einer ihrer letzten Ausgaben des „Goldenen Zeitalters", für die Paul Balzereit als Verantwortlicher zeichnete, können wir folgende erstaunliche Mitteilung lesen:

Seit Jahren ist Rechtsbeistand der „Wachtturm Bibel und Traktat-Gesellschaft" das Mitglied der Deutschnationalen Partei, Herr Justizrat Karl Kohl, Rechtsanwalt in München, und seit ca. vier Jahren auch das Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter –Partei, Herr Rechtsanwalt Horst Kohl, München.

Zitat aus „Das Goldene Zeitalter", 15.05.1933, S.148

Demnach war seit etwa 1929 ein Mitglied der Nazipartei, Rechtsanwalt Horst Kohl, Sachverwalter der anfallenden Rechtsangelegenheiten der WTG in Deutschland. Noch interessanter ist, wer der andere Rechtsbeistand Balzereits war, nämlich Justizrat Karl Kohl, München, der schon seit Jahren, offensichtlich lange vor seinem Nazikollegen für die WTG tätig war. Justizrat Karl Kohl war kein Geringerer, als der Verteidiger Adolf Hitlers, nachdem dessen erster Putsch 1923 in München zusammengebrochen und Hitler anschließend vor Gericht gestellt worden war.

Diese Tatsachen werden belegt durch einen Brief vom 5. Januar 1935 „An den sehr geehrten Herrn Reichskanzler". In einer Auflistung mehrerer Personen finden wir an erster Stelle folgenden Namen:

1) Justizrat Karl Kohl, München (Hitlerverteidiger 1924)

Brief der WTG vom 05.01.1935, Blatt 5

Für den 25. Juni 1933 war in Berlin, Wilmersdorf eine Hauptversammlung der Internationalen Bibelforschervereinigung (IBV) vorgesehen. Dr. Detlef Garbe berichtet darüber folgendes:

Die IBV weiterhin auf Anpassungskurs

Für den 25. Juni 1933 hatte die Magdeburger Zentrale die IBV-Anhängerschaft zu einer Großveranstaltung nach Berlin geladen. Als sich an diesem Sonntag 5.000 bis 7.000 Zeugen Jehovas, die aus dem ganzen Reich angereist waren, in der Wilmerdorfer Sporthalle versammelten, war noch nicht bekannt, daß am Vortag das preußische IBV-Verbot erlassen worden war. An den Vorbereitungen des Kongresses hatte sich Watch Tower-Präsident Rutherford persönlich beteiligt, der einige Tage zuvor zusammen mit seinem späteren Nachfolger Nathan H. Knorr in Berlin eingetroffen war, um Verhandlungen über die Möglichkeiten der Fortführung des Verkündigungswerkes zu führen. Rutherford, der sich in einer Unterredung mit US-Konsul Geist sehr besorgt über die kritische Lage der Zeugen Jehovas in Deutschland gezeigt hatte, aber noch auf eine mögliche günstigere Entwicklung der Dinge vertraute, verfaßte zusammen mit Balzereit und einigen anderen Leitungsmitgliedern eine umfassende „Erklärung", von der man hoffte, daß sie die nationalsozialistischen Machthaber zu einer Sinnesänderung bewegen könne. Der in den zurückliegenden Monaten eingeschlagene Kurs der Loyalitätsbekundungen wurde nunmehr auch offensiv gegenüber der eigenen Anhängerschaft vertreten, die erschreckt zur Kenntnis nehmen mußte, daß der Veranstaltungsort mit Hakenkreuzfahnen versehen war, und daß der auf Außendarstellung bedachte Kongreß mit dem Deutschlandlied eingeleitet wurde.

Die – nach einer um Verständnis werbenden Ansprache Balzereits – den Teilnehmern des Kongresses zur Zustimmung vorgelegte „Erklärung" ersuchte die verantwortlichen staatlichen Stellen um eine erneute Prüfung des „wahren Sachverhalts", da die Bibelforschervereinigung auf Betreiben der – wie es jetzt unmißverständlich hieß – „politischen Geistlichen, Priester und Jesuiten" bei den Regierungsbehörden zu Unrecht angeschuldigt worden sei. Nur deren Interesse entspringe die Behauptung einer angeblichen Staatsfeindlichkeit der Zeugen Jehovas. Um zu beweisen, daß diese Anschuldigung vollkommen gegenstandslos sei, empfahl man sich als staatsbejahende Kraft: „Unsere Organisation gefährdet keineswegs die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Staates, sondern sie ist die Bewegung, die für die öffentliche Ordnung, Ruhe und Sicherheit des Landes eintritt." Der Respektierung der den Staat tragenden Kräfte wurde das Wort geredet, wobei Gemeinsamkeiten mit den neuen Machthabern herausgestrichen wurden:

„Eine sorgfältige Prüfung unserer Bücher und Schriften wird deutlich zeigen, daß die hohen Ideale, die sich die nationale Regierung zum Ziele gesetzt hat und die sie propagiert, auch in unseren Veröffentlichungen dargelegt, gutgeheißen und besonders hervorgehoben werden. ...

Anstatt daß unsere Schriften und unsere Tätigkeit die Grundsätze der nationalen Regierung gefährden, werden in ihnen diese hohen Ideale sehr unterstützt. Darum hat auch Satan, der Feind aller, die Gerechtigkeit lieben, versucht, diese Tätigkeit in Verruf zu bringen, und sie in diesem Lande zu verhindern."

Bei der Zurückweisung eines weiteren gegen die Zeugen Jehovas erhobenen Vorwurfes ging man auf deutliche Distanz zu einer anderen bedrängten Bevölkerungsgruppe:

„Es ist von unseren Feinden fälschlich behauptet worden, daß wir in unserer Tätigkeit von den Juden finanziell unterstützt werden. Dies ist absolut unwahr, denn bis zur gegenwärtigen Stunde ist auch nicht das geringste an Beiträgen oder finanzieller Unterstützung für unser Werk von Juden geleistet worden. Wir sind treue Nachfolger Jesu Christi und glauben an ihn als den Heiland der Welt. Die Juden dagegen verwerfen Christus völlig und leugnen absolut, daß er der Welt Heiland ist, der von Gott zum Nutzen der Menschheit gesandt wurde. Schon allein diese Tatsache sollte genügender Beweis dafür sein, daß wir von den Juden nicht unterstützt werden, und daß die Anschuldigungen gegen uns in böser Absicht vorgebracht wurden und falsch sind und nur von Satan, unserem großen Feinde, herrühren können."

War dieser Passus bis zu diesem Punkt noch von dem Bemühen um Richtigstellung geprägt, so zeigten die folgenden Sätze, wie weit man der herrschenden Sprachregelung Rechnung zu tragen bereit war:

„Das Anglo-Amerikanische Weltreich ist die größte und bedrückendste Herrschaft auf Erden. ... Es sind die Handelsjuden des Britisch-Amerikanischen Weltreiches, die das Großgeschäft aufgebaut und benutzt haben als ein Mittel der Ausbeutung und Bedrückung vieler Völker."

Nunmehr zeigte sich, daß der Anpassungskurs das bisherige religiöse Selbstverständnis nicht unbeschädigt ließ, es vielmehr in seiner Substanz berührte: Wer sich mit derartigen Einlassungen in ein besseres Licht bei den Mächtigen der „alten Welt" zu stellen beabsichtigte, hatte den selbst erklärten Standpunkt der „Neutralität" weit hinter sich gelassen.

Zitat aus „Zwischen Widerstand und Martyrium", Detlef Garbe, 2.Auflage 1994, S.98-100

Paul Balzereit und Hans Dollinger versuchten noch bis zu ihrer Festnahme im Mai 1935 zu einer friedlichen Einigung mit Hitler zu gelangen.

Zusammen mit anderen Führungsmitgliedern wurden sie schließlich verhaftet und vor das Sächsische Sondergericht in Halle gebracht. Balzereit wurde zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Während dieser Zeit wurde er von Rutherford persönlich exkommuniziert, ohne die Gelegenheit auf eine Verteidigung. Nach seiner Haftverbüßung wurde er dem KZ Sachsenhausen überstellt.

Neben Frost zählten mit Paul Balzereit und Fritz Winkler auch zwei weitere frühere Leiter des deutschen IBV-Zweiges zu den Bibelforscher-Häftlingen in Sachsenhausen. Die SS versuchte, die sich an diesen Führungspersonen festmachendend Gegensätze und Konflikte um den IBV-Kurs zu nutzen, um die Bibelforschergemeinde zu spalten. So führte die SS den seit Ende 1937 in Sachsenhausen inhaftierten ehemaligen Direktor der WTG, Paul Balzereit, als „Umfaller" vor und forderte die Bibelforscher auf es ihrem früheren „Oberhaupt" gleichzutun. Obgleich er „unterschrieben" hatte, wurde Balzereit erst über ein Jahr später aus Sachsenhausen entlassen. Von der Gemeinschaft der Bibelforscher wurde er weitgehend gemieden.

Zitat aus „Zwischen Widerstand und Martyrium", Detlef Garbe, S.437, Fußnote

Die Vorwürfe, die man Paul Balzereit unter anderem machte, werden im Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1974 wie folgt beschrieben:

Bruder Rutherford, der zusammen mit Bruder Knorr erst ein paar Tage zuvor in Deutschland eingetroffen war, um zu sehen, was getan werden könnte, um das Eigentum der Gesellschaft sicherzustellen, hatte mit Bruder Balzereit eine Erklärung vorbereitet, die den Kongreßdelegierten zur Annahme vorgelegt werden sollte. Es handelte sich dabei um einen Protest gegen die Einmischung der Hitlerregierung in das Predigtwerk. Alle hohe Regierungsbeamten, vom Reichspräsidenten abwärts, sollten ein Exemplar der Erklärung erhalten, und zwar möglichst per Einschreiben. Einige Tage vor dem Kongreß kehrte Bruder Rutherford nach Amerika zurück.

Viele Anwesende waren von der „Erklärung" enttäuscht, da sie in vielen Punkten nicht so offen war, die Brüder es erhofft hatten. Bruder Mütze aus Dresden, der bis dahin eng mit Bruder Balzereit zusammengearbeitet hatte, beschuldigte ihn später, den ursprünglichen Text abgeschwächt zu haben. Es war nicht das erstemal, daß Bruder Balzereit die offene und unmißverständliche Sprache, die in den Veröffentlichungen der Gesellschaft gesprochen wurde, verwässert hatte, um Schwierigkeiten mit den Regierungsorganen zu vermeiden.

Eine große Anzahl Brüder weigerte sich aus diesem Grund, die Resolution anzunehmen. Ja, ein früherer Pilgerbruder namens Kipper weigerte sich, sie zur Annahme vorzulegen, so daß ein anderer diese Aufgabe übernehmen mußte. Es konnte nicht mit Recht gesagt werden, die Erklärung sei einstimmig angenommen worden, obwohl Bruder Balzereit später Bruder Rutherford mitteilte, daß dies der Fall gewesen sei.

Die Kongreßteilnehmer kehrten müde und zum Teil enttäuscht nach Hause zurück. Sie nahmen jedoch 2.100.000 Exemplare der „Erklärung" mit nach Hause, die sehr schnell verteilt und auch an zahlreiche verantwortliche Persönlichkeiten versandt werden sollten. Das für Hitler vorgesehene Exemplar enthielt ein Begleitschreiben, indem es unter anderem hieß:

„Das Brooklyner Präsidium der Watch-Tower-Gesellschaft ist und war seit jeher in hervorragendem Maße deutschfreundlich. Aus diesem Grunde wurden im Jahre 1918 der Präsident der Gesellschaft und sieben Glieder des Direktoriums in Amerika zu 80 Jahren Zuchthaus verurteilt, weil der Präsident sich weigerte, zwei von ihm in Amerika geleitete Zeitschriften zur Kriegspropaganda gegen Deutschland zu gebrauchen."

Obwohl die Erklärung abgeschwächt worden war und viele Brüder ihre Annahme nicht ganzherzig unterstützen konnten, war die Regierung empört und leitete eine Welle der Verfolgung gegen diejenigen ein, die sie verbreitet hatten.

Zitat aus „Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1974", S.110,111

Angeblich auf die Aussage eines einzigen Mannes gestützt, Bruder Mütze, setzte man eine Verleumdungskampagne gegen Paul Balzereit in Gang. Dr. Alfred Mütze aus Dresden war auch nicht irgend jemand. Er war der Rechtsberater der WTG. Erst hat Bruder Mütze behauptet, daß Paul Balzereit den Text der „Erklärung" abgeändert (abgeschwächt) hat. Ein paar Absätze weiter ist es dann eine Tatsache: „Obwohl die Erklärung abgeschwächt worden war, und viele Brüder ihre Annahme nicht ganzherzig unterstützen konnten, ...". Dr. Detlef Garbe schreibt in seiner Dissertation zu diesem Thema wie folgt:

Die Erklärung, die nach Darstellung des 1974 erschienenen Geschichtsberichtes der Zeugen Jehovas von Balzereit anschließend eigenmächtig „verwässert" worden sei, wurde in ihrem vollen Wortlaut in dem von Rutherford verantworteten Jahrbuch 1934 (S.89-100) veröffentlicht, und auch auf diese Weise autorisiert, was wohl kaum geschehen wäre, wenn Balzereit ihr tatsächlich einen anderen als den mit Rutherford abgestimmten Text zugrunde gelegt hätte. Diese Sicht der Geschichtsaufarbeitung ist geprägt von dem Interesse, die Verantwortung für den Kompromißkurs des Jahres 1933 allein Balzereit und anderen Mitgliedern der deutschen Leitung anzulasten.

Zitat aus „Zwischen Widerstand und Martyrium", Detlef Garbe, S.99, Fußnote

Im Erwachet! vom 8.7.1998 erschien dann eine neue Darstellung:

Der Abhandlung im „Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1974" zufolge waren einige deutsche Zeugen Jehovas darüber enttäuscht, daß der Wortlaut der „Erklärung" nicht strenger war. Hatte Paul Balzereit, der Leiter des Zweigbüros, die Aussagen des Schriftstücks abgeschwächt? Nein, ein Vergleich des deutschen Textes mit dem englischen zeigt, daß dies nicht der Fall war. Ein gegenteiliger Eindruck war offensichtlich der subjektiven Darstellung einiger zuzuschreiben, die nichts mit der Ausarbeitung der „Erklärung" zu tun hatten. Ihre Schlußfolgerungen wurden eventuell auch dadurch beeinflußt, daß Balzereit nur zwei Jahre später seinem Glauben abschwor.

Zitat aus „Erwachet" 8.7.1998, S.14

Was bedeutet das? Die WTG hat an Paul Balzereit einen 25jährigen Rufmord begangen. Sie hat es nicht nötig, sich öffentlich zu entschuldigen. Paul Balzereit hatte sich nicht wehren können, er war 1974 nicht mehr am Leben gewesen. Viele Zeugen haben diese Lüge aus dem Jahrbuch 1974 genauso weitergegeben (Ich auch, Anm. des Verfassers), und wurden somit zu Mitlügnern gemacht.

Aber auch die neue Darstellung über Paul Balzereit ist eine Falschdarstellung. Balzereit betrachtete sich, so lange er lebte, als Christ. Er hat auch der WTG nicht abgeschworen. Rutherford hatte ihn exkommuniziert. Gleich nach dem Krieg stand er in Magdeburg bereit, das Werk wieder in Gang zu setzen. Dabei kam es zu harten Konflikten mit anderen WTG Funktionären. (Siehe „Zwischen Widerstand und Martyrium" Garbe, S.129)

Da es nicht möglich war, Balzereit aus dem Zweigbüro hinauszuwerfen, richteten Erich Frost und sechs andere in Magdeburg, Otto-von-Guericke-Str.50, vorübergehend ein Zweigbüro ein.

Der Präsident Nathan Homer Knorr* erließ die Anordnung „Balzereit unbedingt von dem Grundstück zu entfernen, weil ein weiteres Verbleiben daselbst mit der Reinheit des von der Gesellschaft betriebenen Evangelisationswerkes unvereinbar ist." Es kam zu keinem Prozeß gegen Balzereit. Er verließ vorher das Magdeburger Grundstück.

Paul Balzereit hat nie seinem Glauben abgeschworen. Er zeichnete bis mindestens 1959 als verantwortlicher Herausgeber der Zeitschrift „Nachdenkliches aus Leben und Christentum", Magdeburg.

* Nathan Homer Knorr wurde 1942 nach Rutherfords Tod Präsident der WTG. Knorr hatte besondere Verbindungen nach Deutschland. Er war verwandt mit der Familie C.H. Knorr aus Heilbronn. Noch heute sind Suppen und Gewürze von Knorr jedem ein Begriff.