Ein Dossier von Uta Andresen & Petra Lutz
Sie waren nie Hitlers willige Vollstrecker, wie es neben ihrem Gott Jahwe weder eine weltliche Instanz noch einen Führer geben kann. Selbst ein demokratischer Staat wie Deutschland ist den Zeugen Jehovas nur ein unzulängliches Gebilde von Menschenhand, von dem sie sich fernzuhalten haben.
Und doch sind die "Bibelforscher", wie sie sich bis 1931 nannten, jetzt vor das Bundesverfassungsgericht gezogen, um von eben diesem Staat Privilegien einzufordern. Die Zeugen Jehovas wollen Körperschaft des öffentlichen Rechts werden. Um Materielles wie Steuervergünstigungen geht es nicht allein - vor allem geht es ihnen darum, das Stigma einer Sekte abzustreifen.
Dabei hat Religiöses in wirtschaftliche unsicheren Zeiten Hochkonjunktur. Allein in Deutschland sollen ein bis zwei Millionen Menschen Sekten und Psychokulten angehören. Mit der gleichen Tendenz, mit der diese Gruppen Zulauf verzeichnen, wächst auch die Angst vor ihnen. Der Streit um die Gefährlichkeit der Scientologen beschäftigt die Öffentlichkeit seit Jahren. Psychologen und Historiker sprechen sogar von "Sektenhysterie".
Spinnert oder gar gefährlich seien die Zeugen Jehovas nicht, beteuert deren deutscher Sprecher, Wolfram Slupina. Ehemalige "Zeugen" sehen das anders. Für sie sind die Bibelforscher keineswegs Weltentrückte, die nur den Wortlaut der Bibel leben. Vielmehr würde sich der weltweit operierende Wirtschaftskonzern "das Wort Gottes" so zurechtlegen, wie es den eigenen Geschäften dienlich ist. Die einfachen Mitglieder seien nicht mehr als willfährige Arbeitskräfte. Und würden unter massiven psychischen Druck gesetzt, in jungen Jahren gar mit körperlichen Züchtigungen in die Sektendisziplin gezwungen. Der Jehovas- Aussteiger Stephan Erich Wolf erzählt der taz, wie er als Jugendlicher geschlagen wurde, weil er Jeans tragen wollte - doch dieses Textil war als "weltlich" verpönt. Wolf mußte bei Null anfangen, nachdem er sich von den Verkündigern des Weltuntergangs abwandte. Soziale Isolation als Strafe. Die Religionsgemeinschaft als Schutz vor sozialer Einsamkeit., Anonymität und Leistungsdruck? Die Zeugen Jehovas - eine Antwort für die "kleinen Leute" auf die Unbill der Moderne?
Erwacht beim Streit um Privilegien
Beharrlich stehen sie vor U-Bahn-Schächten und Kaufhäusern, stoisch halten sie ihre Posten in Fußgängerzonen: Zeugen Jehovas. Ihre Mienen verraten nie, was in ihnen vorgehen könnte. Sie stehen einfach da, stundenlang, auch bei Regen oder Kälte - und halten Zeitschriften vor der Brust: den Wachtturm oder Erwachet. Angesprochen werden Gottes eifrigste Kinder selten. dafür sprechen sie um so öfter "Weltmenschen" an, als alle, die keine "Zeugen" sind. Sie versuchen strikt, diese vom rechten, von ihrem Glauben zu überzeugen. Die gußeiserne Mentalität hatten vielen tausend Mitgliedern dieser 1881 in den USA gegründeten Glaubensgemeinschaft während des Nationalsozialismus Haft in Konzentrationslagern und Zuchthäusern eingebracht. denn sie halten sich rigide an den Wortlaut der Bibel. Und dort steht nichts von Kriegsdienst und Hitlergruß. Trotz schwerer Mißhandlungen durch die SS blieben sie ihrem Glauben ergeben. Anders als die evangelische oder katholische Kirche arrangierten sich die Zeugen Jehovas mit dem Dritten Reich nie.
Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Holocaust wollen die Zeugen Jehovas endlich den Staatskirchen gleichgestellt werden. Ihr Ziel: Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Dafür sind die "Bibelforscher", wie die Zeugen Jehovas sich bis 1931 nannten, jetzt vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. In der DDR war die Religionsgemeinschaft verboten. Allerdings wurde ihr 1990 im Einigungsvertrag der Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft zugebilligt. Und den wollen die Bibelforscher für ganz Deutschland festschreiben lassen. Deshalb beantragten sie ein Jahr nach der Wende beim Berliner Senat ihre öffentlich-rechtliche Anerkennung. Aber der lehnte ab: Für die Bibelforscher sei der Staat "ein Herrschaftsinstrument Satans", so ein Jurist der Berliner Kulturbehörde.
Daraufhin zogen die Zeugen Jehovas vor das Berliner Verwaltungsgericht, das ihrem Antrag stattgab. Die Richter befanden, daß die Religionsgemeinschaft auf Dauer angelegt sei. Das zeige schon allein ihr Bestehen in Deutschland sei 1897. Zudem seien keine staatsfeindlichen oder gesetzeswidrigen Ansätze zu erkennen. Eben dies wurde den Zeugen Jehovas auch von der nächsthöheren Instanz, dem Berliner Oberverwaltungsgericht, attestiert. "Eine faire Einschätzung", sagt Wolfram Slupina, Sprecher der Zeugen Jehovas, denn seine Gruppe lebe seit Jahrzehnten, selbst im Dritten Reich, biblische Grundsätze.
Erst als der Berliner Senat den Rechtsstreit vor das Bundesverwaltungsgericht brachte, unterlagen die Bibelforscher. Die Bundesrichter begründeten ihr Urteil damit, daß die Zeugen nicht an politischen Wahlen teilnahmen. Also fehle ihnen "die unerläßliche Loyalität zum demokratisch verfaßten Staat". Was die Zeugen Jehovas vor Gericht trieb, hat wohl mit dem Wunsch nach Gleichbehandlung mit größeren Glaubensgemeinschaften zu tun - doch hinter dem Rechtsstreit verbergen sich auch handfeste wirtschaftliche Interessen. Körperschaften des öffentlichen Rechts dürfen Kirchensteuern einfordern, Seelsorger in Gefängnisse schicken oder Rundfunkräte entsenden. Und sie zahlen keine Grunderwerbs- und Erbschaftssteuern.
Christoph Link, Verfassungsrechtler aus Erlangen und Berliner Senatsgutachter im Jehova-Rechtsstreit, rechnet damit, daß die Karlsruher Richter "die Entscheidung der Bundesverwaltungsrichter bestätigen werden". Die Religionsfreiheit wolle niemand antasten, aber Vorrechte, die der Staat vergebe, seien nun einmal an eine gewisse Rechtstreue gebunden: "Die ist bei den Zeugen Jehovas, die sich weigern zu wählen, nicht gegeben."
Das sehen die Kläger anders. "Totalitäre Systeme zeichnen sich besonders dadurch aus, daß sie angeblich freie Wahlen veranstalten, dann aber durch Druck den Bürgern das Recht verweigern, sich der Stimmabgabe zu enthalten", schreibt vorwurfsvoll der Informationsdienst der Bibelforscher. Die Zeugen Jehovas erinnern dabei an den Nationalsozialismus. Damals pochten sie auf "Neutralität" - die SA prügelte sie an die Wahlurnen, denn die Zeugen Jahwes (Gottes) verweigerten den Hitler- und den Fahnengruß. Sie traten nicht in NS-Organisationen ein. Obwohl schon 1933 verboten, setzten sie ihren "Predigtdienst" fort. Den Wehrdienst verweigerten sie stur. "Sie haben sich dem Regime konsequent verweigert", sagt Detlev Garbe, Leiter der Hamburger Gedenkstätte Neuengamme. Kein andere Glaubensgemeinschaft habe sich Volk, Führer und Vaterland gegenüber so unbeugsam gezeigt. Sie verloren ihren Arbeitsplatz, weil sie nicht in die Deutsche Arbeitsfront eintreten wollten. Ihre Kinder wurden in Heime gesteckt. Heinrich Himmler zeigt sich beeindruckt: "Es sind unerhört fanatische, opferbereite und willige Menschen", schrieb der Reichsführer SS in einem Brief., "könnte man ihren Fanatismus für Deutschland einspannen, so wären wir noch stärker als wir heute sind."
Respekt erwarben sich die zeugen auch bei ihren Mitgefangenen. Die Bibelforscher "bewiesen unerschütterlichen Oppositionsgeist", ja "Märtyrergesinnung wie keine anderer Gruppe im Lager", steht in einem Bericht zu lesen, der 1937 aus dem KZ Sachsenburg nahe Chemnitz geschmuggelt wurde. Ihr Glaube dagegen stieß meist auf Unverständnis, zumal sie auch in den Lagern versuchten, Mithäftlinge und sogar SS-Schergen zu missionieren - teilweise mit Erfolg.
Zusammen mit Juden und Homosexuellen waren die Bibelforscher bis 1942 dem besonderen Terror der SS ausgesetzt. In der Lagerhierarchie standen diese drei Gruppen für die SS ganz unten. Doch die kompromißlose Haltung der Bibelforscher "frappierte" die NS-Funktionäre "oftmals bis zur Ratlosigkeit", schreibt der Historiker Detlef Garbe. So sollte an dem Bergmann Johann Rachuba ein Exempel statuiert werden. Er galt als "Seele des Widerstands" der Bibelforscher im KZ Sachsenhausen. "10 Tage Arrest und 25 Stockhiebe, weil er Reklame für Jehova im Lager machte", "30 Tage verschärften Arrest und 25 Stockhiebe, weil er den ersten Schutzhaftführer bei einer Belehrung auslachte", stand in seiner "Strafkarte". Rachuba verweigerte bis in den Tod den Fahnengruß: "Das ist Götzendienst’, sagte er, womit er ja recht hat!’ berichtete ein evangelischer Mithäftling, ‘immer wieder wird er über den Bock gespannt und in Dunkelhaft gesperrt. aber er beugt sich nicht’ Als der Zeuge Jehovas 1940 ins KZ Wewelsburg bei Paderborn überstellt wurde, war sein "Körper voller Narben", schrieb ein Glaubensbruder des Familienvaters. "Beide Beine zog er steif nach, denn die Muskeln waren zerschlagen. Aber immer war er glücklich." 1942, nach sieben Jahren Konzentrationslagerhaft in Esterwegen, Sachsenhausen und Wewelsburg, starb Rachuba an den Folgen der Mißhandlungen.
Von 1942 an verbesserte sich die Lage der Bibelforscher in den Konzentrationslagern. Häftlinge wurden wertvoll, weil in der Kriegszeit Arbeitskräfte gebraucht wurden. Gerade die Zeugen Jehovas, von denen viele Handwerker waren. Wichtiger für die SS war allerdings: Die Zeugen Jehovas bewiesen sich als zuverlässige Arbeiter. Sabotage kam nicht in Frage. Wo es nicht gegen Jehovas Willen verstieß, befolgten sie das Lagerreglement. Flucht war undenkbar. Sie wurden daher oft für Außenkommandos oder als Hausgehilfinnen von SS-Führern eingesetzt. Arbeit für die Rüstungsindustrie verweigerten sie jedoch -aus religiösen Motiven. Das Ziel der Bibelforscher war nicht die "Untergrabung des Regimes, sondern der Erweis der Glaubenstreue", so NS-Forscher Garbe in seiner Dissertation über die Zeugen Jehovas im Dritten Reich. Erlaubt war das Übertreten von SS-Befehlen nur dann, wenn sie religiöse Vorschriften betrafen. Findig schmuggelten die Gottesfürchtigen Traktate ("Geistige Speise") in die Lager, hielten Versammlungen ab und führten heimlich Taufen durch - nötigenfalls auch in Regentonnen.
Nach der Kapitulation des NS-Regimes hatten die Zeugen Jehovas Anspruch auf "Wiedergutmachung" nach dem Bundesentschädigungsgesetz. Die gab es für KZ-Haft, unter Umständen auch für Arbeitsplatzverlust und Zuchthausstrafen. Urteile wegen Kriegsdienstverweigerung allerdings, von denen in erster Linie Bibelforscher betroffen waren, fielen nicht unter diese Bestimmung.
Wie viele Bibelforscher Anträge auf Wiedergutmachung gestellt haben, ist nicht bekannt. Der deutsche Jehovas-Sprecher Wolfram Slupina nimmt an, daß einige seiner Glaubensgeschwister auf Anträge verzichtet haben, "weil sie sich ihren Glauben und ihre Standhaftigkeit nicht bezahlen lassen wollten".
In der DDR wurden die Bibelforscher 1950 erneut verboten - was sie von Entschädigungen für erlittenes NS-Unrecht ausschloß. Viele Zeugen Jehovas kamen zum zweiten Mal in Gefangenschaft. Otto Hamann, mehr als fünf Jahre in Konzentrationslagern inhaftiert, wurde 1952 im Namen des Volkes der Arbeiter- und Bauernrepublik zu 15 Jahren Haft verurteilt.
Laute Klagen über die Repressionen kamen von den Zeugen Jehovas indes nicht. Sie interpretierten ihre Verfolgung als Vorzeichen "Harmagedons" - der Endzeitschlacht. So prophezeien es die Bibelforscher seit Ende des vorigen Jahrhunderts, als sich die Gruppe in den USA unter Führung des Laienpredigers Charles Taze Russell von einer adventistischen Gruppe abspaltete. Mit dem Geld des wohlhabenden Kaufmannssprosses wurden die Zeitschrift Zion' s Watchtower and Herald o Christ’s Presence und die Dachorganisation "Watch Tower Society" gegründet. Im Jahre 1900 gründete der Glaubenszirkel seine erste europäische Filiale und fand in der Folgezeit wie in den USA auch in Europa seine Anhänger vor allem bei den gesellschaftlichen Verlierern.
Die Verheißung des Paradieses auf Erden tröstete die Zeugen Jehovas über die Wirren der Welt - Entwertung ihrer handwerklichen Qualifikationen durch die technischen Entwicklungen beispielsweise - hinweg. In innere Krisen geriet die Religionsgemeinschaft so immer dann, wenn das avisierte Weltende ausblieb. Das war 1914,1925 und zuletzt 1975 der Fall. Inzwischen hält man sich mit Vorhersagen zurück. Trotzdem sind nach Angaben der Wachtturmgesellschaft weltweit 5,2 Millionen (Deutschland: 170.000) Menschen Zeugen Jehovas.
Ins Visier des Familienministeriums sind die Zeugen Jehovas noch nicht geraten. Aus dem Haus Claudia Noltes wird lediglich vor "sogenannten Jugendsekten und Psychogruppen" wie der neosatanischen Geheimloge Fraternitas Saturni", der "Neuoffenbarungsgruppe Fiat Lux" oder den Scientologen gewarnt. Ehemalige Zeugen Jehovas protestieren dagegen.
Die Zeugen Jehovas sind eindeutig eine Sekte", sagt der Bibelaussteiger Stephan Wolf im taz-Interview. Und "hierarchisch" wie eine Kaderorganisation. Als Machtzentrum der Gemeinschaft gilt die "Leitende Körperschaft" der Wachtturmgesellschaft im New Yorker Stadtteil Brooklyn. "Die nennen das Theokratie", warnt Wolf, "für mich ist das aber Diktatur." Das Zehnmanngremium gibt die Regeln vor, nach denen die Mitglieder zu leben haben, segnet die Zeitschriftentexte ab - und lenkt die Geschicke der Aktiengesellschaft "Watchtower Bible and Tract Society, New York, Inc.". Deren Jahresumsatz schätzte die amerikanische Auskunftei Dun & Bradsreet auf knapp 1,25 Milliarden Dollar. Ihr Geld macht die Religionsgemeinschaft mit Computersoftware und Investmentgeschäften. Die Firma "Zeugen Jehovas" sei schlicht ein weltweit operierender Finanzkonzern, glaubt Aussteiger Wolf, seine Brüder und Schwestern nichts anderes billige und willige Arbeitskräfte.
Auch Verfassungsrechtler Christoph Link sieht in der Glaubensgemeinschaft mehr als nur weltfremde Spinnerei: "Die ist totalitär." Was Link den Zeugen Jehovas vor allem vorwirft, ist der psychologische Druck, den ihre Funktionäre auf ihre Mitglieder ausüben: "Die disziplinieren mit rigorosen Methoden." Ärzte oder Anwälte würden angewiesen, ihre Schweigepflicht gegenüber den Gemeindeältesten zu brechen. Kinder würden mit Schlägen malträtiert, und ständig hätten die Mitglieder "das Damoklesschwert des Ausschlusses" vor Augen. Einem Abtrünnigen drohe zunächst "die totale soziale Isolation", so der Jehova-Gutachter. Die meisten reagierten darauf mit schweren Depressionen. Link plädiert eindeutig: Die Zeugen Jehovas dürften nicht vom Staat privilegiert werden. Deshalb hofft er, daß die Beschwerde der Zeugen Jehovas vor dem Bundesverfassungsgericht abgelehnt wird.
Gelassener sieht der Psychologe Werner Gross die Debatte um die Zeugen Jehovas. Der Gutachter der Enquetekommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" warnt davor, sich bei der Beurteilung des Ordens nur auf ehemalige Zeugen Jehovas zu stützen: "Die Literatur der Aussteiger ist nicht die endgültige Wahrheit über die Zeugen Jehovas."
Kleine Religionsgemeinschaften leiden unter der allgemeinen Sektenhysterie seit der Debatte um die Scientologen. Vor diesem Hintergrund bekommt auch der Streit um die Anerkennung der Zeugen Jehovas als öffentlich-rechtliche Körperschaft eine neue Dimension. Historiker Detlef Garbe meint, daß es den Bibelforschern vor dem Bundesverfassungsgericht um mehr als materielle Vorteile geht: "Die wollen das Stigma einer Sekte loswerden."
Sybil Milton, die am Holocaust Memorial Museum in der US-Hauptstadt Washington zum NS-Schicksal der Bibelforscher arbeitete, weigert sich, das Wort "Sekte" zu benutzen: "Sektenbekämpfung - diesen Begriff kenne ich nur aus dem Vokabular der Gestapo."
Wachturm: Anlageberater für geistige Kleinsparer
Ein bißchen Angst vor dem Ende muß schon sein. Sonst wird der Mensch ja faul. Seuchen, Perversionen, Verbrechen: Wie schützen wir uns davor? Ganz einfach: Wir verherrlichen nachdrücklich Jehova, "denn souveränen Herrn des Universums". So steht's im Wachturm, der seinen Gott allerdings weniger als Universumschef betrachtet denn als Leiter der örtlichen Bankfiliale. Dort kann man gute Taten eintragen lassen und sich fairer Zinsen erfreuen. Die Seele ist ein Sparbuch, so ist das Leben leichter.
Der Wachturm dient als Anlageberater für geistige Kleinsparer. Das Seelenhaushaltsblättchen informiert über "lohnende Aufgaben", über die "gebührende Vergütung" beispielsweise, die den Sparer erwartet, wenn er die alten Eltern pflegt und nicht ins Heim steckt. "Reicher Lohn für heiligen Dienst" lehrt der Lebensbericht des getreuen Gläubigen Harry Bloor: Ohne die Aussicht auf angemessene Belohnung läuft jedenfalls nichts Gutes, nirgends.
Im Wachturm wird geschachert und gehandelt, daß es jeder Krämerseele eine wahre Freude ist. Auch wer sich dabei übernommen haben sollte, muß keine Furcht haben. Er darf, wenn er demütig genug vorspricht, auf Schuldenerlaß hoffen. Da ist Jehova großzügiger als die Deutsche Bank. Die Prozentfrage "Wie vollständig vergibt Jehova?" beantwortet der "Wachturm" eindeutig: Gott nimmt "den Schwamm" und wischt die Schulden weg wie von einer Schiefertafel. Noch Sünden? Vergiß es! Das Bankhaus Jehovas Zeugen rät dennoch allen Jugendlichen, jetzt schon "eine sichere Grundlage für die Zukunft zu legen". Ein Foto zeigt dazu zwei junge Männer, vielleicht Herr Kaiser von der Hamburg-Mannheimer und sein gescheiteltes Brüderchen.
Was sie dem sauberen, aufmerksamen jungen Mann an seiner Haustür hinhalten, könnte eine Lebensversicherung oder ein Bausparvertrag sein. Es ist aber die "heilige Schrift", und es geht um Werbung für das nächste Treffen der Jehova-Jugend. Denn dort lernt man "echte Christen" kennen, die "reich sind an vortrefflichen Werken" - und die bestimmt alle gut versichert sind. Wenn Sie weitere Informationen benötigen oder von jemandem zu Hause besucht werden wollen, der mit Ihnen "kostenlos die Bibel studiert", dann rufen Sie doch einfach an. Oder lesen Sie die Rubrik mit dem schönen Titel "Königreichsverkünder berichten". Das tröstet auch.
Jörg Magenau
"Unannehmlichkeiten schrecken uns nicht"
Interview mit Wolfram Slupina, Pressesprecher der Wachtturm-Gesellschaft
Uta Andresen: Woher nehmen Sie die Kraft für Ihre Missionsarbeit?
Wolfram Slupina: Die ist biblisch begründet. Wir wollen eben über Gottes liebevolle Vorkehrung für die Menschheit sprechen. Die Verheißung, der wir entgegensehen, ist das ewige Leben auf der Erde.
A.: Und dann wird Ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen.
S.: Auch Jesus Christus wurde von vielen angefeindet. wenn man zu einer gewissen Überzeugung steht, weiß man, daß damit auch gewisse Unannehmlichkeiten verbunden sind. Die schrecken uns nicht.
A.: Wie ist Ihr Verhältnis zu den Ungläubigen? Bin ich schon verloren?
S.: Die Bibel warnt davor zu richten. Aber natürlich befinden Sie sich in einer bedauerlichen Situation.
A.: Aber was muß ich tun, um aus ihr herauszufinden?
S.: Sie müssen nach den Regeln Gottes leben, die in der Bibel stehen.
A.: Die Bibel ist über tausend Jahre alt. wer sagt mir, ob ich ein Tamagotchi kaufen darf?
S.: Die Entscheidung muß jeder aufgrund seines Bibelstudiums treffen. aber die Zeugen gehen ja durchaus mit der Zeit.
A.: Zivildienst haben Sie abgelehnt
S.: Weil er dem Verteidigungsministerium zugeordnet war. Jetzt untersteht er dem Familienministerium. Und ist dadurch kein Tabu mehr. Jeder Zeuge muß also selbst entscheiden.
A.: Bei welchen Fragen bleiben Sie hart?
S.: Bei Dingen, die nicht mit der Bibel übereinstimmen, wie Abtreibung, vorehelicher Geschlechtsverkehr, Homosexualität, Sodomie. Das lehnen wir ab.
A.: Warum?
S.: Weil es unmoralisch ist. Im Korinther-Brief steht: Weder Huren noch Ehebrecher, noch Männer, die bei männlichen Personen liegen, werden Gottes Königreich erben. denken Sie dabei nur an Aids; Diese schreckliche Krankheit paßt in unsere Endzeitvorstellung.
A.: Seit 1914 sagen sie "Harmagedon", den Weltuntergang, voraus. Bisher ist davon nichts zu spüren.
S.: Das stimmt so nicht. Wir sagen, seit 1914 leben wir in der Zeit des Endes.
A.: Also geht die Erde doch unter.
S.: "Harmagedon" bedeutet nicht die Vernichtung der Erde, sondern die Lösung aller menschlichen Probleme. Ein genaues Datum für Harmagedon können wir jedoch nicht angeben. Gewiß ist: Dann wird Gott herrschen auf Erden. Paradiesische Zustände: kein Krieg, kein Hunger, soziale Gleichheit, intakte Umwelt...
A.: ...an denen nur Auserwählte teilhaben. Was passiert mit dem Rest, die nicht da Paradies auf Erden erleben?
S.: Die werden vernichtet, physisch vernichtet. Aber ohne Höllenqual.
A.: Wie muß ich mir die Vernichtung vorstellen?
S.: Wissen wir nicht. Sicher ist, daß Menschen keinen aktiven Anteil daran haben werden. denken Sie an die Sintflut oder an Sodom und Gomorrha.
A.: Ihre Hoffnungen richten sich also auf das Jenseits. Welche Vorteile hat ein Zeuge im Hier und Jetzt?
S.: Die Bibel liefert aktuelle Lebenshilfe, sei es für ein harmonisches Familienleben oder die Geborgenheit in der Gemeinde. Egal, wohin Sie gehen, werden Sie in die Gemeinschaft der Zeugen aufgenommen. Es ist immer jemand für einen da.
Interview: Uta Andresen
Zwischenbemerkung:
Zu den Aussagen von Wolfram Slupina muß bemerkt werden, daß die Behauptung, der Zivildienst dem BMV zugeordnet gewesen sei, eine glatte Lüge ist.
Das Bundesamt für den Zivildienst wurde 1973 als Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung mit Sitz in Köln geschaffen. Seit dem 01.10.1981 gehörte das Bundesamt für den Zivildienst in den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, seit 1990 durch neue Aufteilung zum Bundesministerium für Frauen und Jugend und seit 1994 zum Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Wer sich selber informieren möchte:
http://www.bmfsfj.de/Politikbereiche/zivildienst,did=3434.html
Nach dem Ausstieg fing ich bei Null an"
Interview mit Zeugen-Jehovas-Aussteiger Stephan E. Wolf
Uta Andresen: Ängstigt Sie"Harmagedon"?
Stephan E. Wolf: Nicht mehr. Aber als ich noch Zeuge war, hat das mein ganzes Leben bestimmt.
A.: Inwiefern?
W.: Ich machte in den Siebzigern eine Lehre als Industriekaufmann, weil ja 1975 dieses System am Ende sein würde. Eine bessere Ausbildung hatte also gar keinen Wert.
A.: Wie haben Sie sich den Weltuntergang vorgestellt?
W.: Mit Bildern von einstürzenden Hochhäusern und panischen Menschen.
A.: Warum stiegen Sie vor fünf Jahren bei den "Zeugen" aus?
W.: Ich hatte angefangen, Bücher über Sekten zu lesen. Da fielen mir die Parallelen zu den Zeugen Jehovas auf, der Mechanismus, die Mitglieder völlig zu isolieren. Alle, die nicht in der "Wahrheit" leben, sind nur Weltmenschen. Und die missioniert man, oder man hat sich von ihnen fernzuhalten.
A.: Wann sind Sie "Zeuge" geworden?
W.: Ich war 14, als meine Eltern Zeugen wurden, und 16 als ich mich taufen ließ.
A.: Warum meinen Sie, haben sich Ihre Eltern auf die Zeugen eingelassen?
W.: Sie hatten wenig Freunde. Und wenn Außenstehende zum ersten Mal in eineu Königreichssaal kommen, dann sind alle unglaublich freundlich, Von dem Druck, der später ausgeübt wird, ist zu dein Zeitpunkt noch nichts zu spüren.
A.: Was veränderte sich, nachdem Ihre Eltern konvertiert waren?
W.: Das ganze Leben war der Religion gewidmet. Wer am Wochenende wegfuhr, statt Treffen zu besuchen, galt als "geistig schwach". Und plötzlich gab's auch Schläge. Es gibt da eine Bibelstelle ,Gott züchtigt seine Söhne" oder so.
A.: Durften Sie wenigstens in die Disco?
W.: Das war verpönt. Ebenso Geburtstags- und Weihnachtsfeiern. Und natürlich Freundschaften mit weltlichen Kindern. So wurde ich zum Außenseiter.
A.: Was geht einem da durch den Kopf?
W.: Eine Mischung aus Frust und Stolz. Das Leben ist irgendwie ärmer, aber ich gehörte zu den 'Auserwählten'.
A.: Wie haben Sie sich dem Druck der Zeugen letztlich entzogen?
W.: Ich fing an, zweifelnde Briefe an die Zentralen in Selters oder Brooklyn zu schicken. Antwort bekam ich nie.
A.: Statt dessen hat Sie ein Gemeindeältester zur Rede gestellt.
W.: Ja, und ich kam nicht mehr auf die Rednerliste, weil ich als kritisch galt. So blieb ich einfach weg, füllte den Felddienstbericht nicht mehr aus und ließ mir einen Bart stehen
A.: ... was bei den" Zeugen" verboten ist?
W.: Nein, aber als unschicklich gilt.
A.: Wurden Sie dann exkommuniziert?
W.: Nein, ich war ja auch nie offizielles Mitglied wie fast alle "Zeugen".
A.: Wie hat Ihre Familie reagiert?
W.: Mit meiner Frau, damals noch eine eifrige "Zeugin", konnte ich nicht mehr reden. Vor allem, als ich Literatur von ehemaligen Zeugen gelesen hab, was verboten ist. Wir sind dann mehrmals an der Scheidung entlanggeschrammt.
A.: Sind Sie heute einsam?
W.: Nach meinem Ausstieg mußte ich bei Null anfangen. Inzwischen kenne ich viele Leute, die mit den "Zeugen" nie etwas am Hut hatten. Und dann ist da der Kontakt zu den ehemaligen "Zeugen". Ich betreue eine Kontaktadresse im Internet für Aussteiger. Das ist meine Art der Vergangenheitsbewältigung.
Interview: Uta Andresen