Zur seelischen Gesundheit bei Jehovas Zeugen

Von JOHN SPENCER
Übersetzt von Herbert Raab


Die Rolle der Religion innerhalb der menschlichen Gesellschaft ist komplex. Der Stellenwert, den die Religion bei psychiatrischen Krankheiten hat, ist noch unklarer. Bisherige Literatur sowie Theorien lassen sich in zwei Gruppen einteilen: die eine Richtung glaubt, daß eine intensive Religiosität einen Symptomenkomplex darstellt, der für eine psychiatrische Krankheit spricht. Die gegenteilige Ansicht ist, daß religiöser Glaube gewissermaßen als Verteidigungsmechanismus wirkt, der das Individuum und seine Psyche schützt oder abschirmt.


Die vorliegende Studie an 50 Zeugen Jehovas, die in den Einrichtungen des Mental Health Service von Westaustralien untersucht wurden, legt den Schluß nahe, daß die diesem Bevölkerungsteil Zugehörigen mit größerer Wahrscheinlichkeit in eine psychiatrische Klinik aufgenommen werden als die übrige Bevölkerung. Überdies wird bei den Anhängern dieser Sekte dreimal so häufig eine Schizophrenie und fast viermal so häufig eine Form der Paranoia diagnostiziert wie bei der übrigen Risikogruppe.

Diese Befunde legen den Schluß nahe, daß die Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas möglicherweise ein Risikofaktor ist, der zum Ausbruch einer schizophrenen Erkrankung disponiert. Weitere Studien wären von Interesse, um zu untersuchen, ob Präpsychotiker sich mit größerer Wahrscheinlichkeit der Sekte anschließen als gesunde Personen und welche Rolle (wenn überhaupt) die Zugehörigkeit an einer solchen Dekompensation hat.

Viele von uns waren schon einmal über sich selbst überrascht, wie impulsiv und unhöflich wir gegenüber der penetranten Beharrlichkeit der Angehörigen der Sekte der Zeugen Jehovas waren. Die feste Überzeugung, mit der sie nicht nur ihren Glaubensansichten anhängen, sondern auch uns, die ungefragten Zuhörer, belasten, ist ziemlich beunruhigend. Jeder Versuch, sie mit Vernunftgründen von ihrem Vorhaben abzubringen, wird häufig mit einem weiteren Monolog aus ihrem unbeweglichen Glaubensgebäude beantwortet.

Viele Soziologen haben ihre Aufmerksamkeit den Phänomenen zugewandt, die mit Religion und religiösen Faktoren zusammenhängen, aber es hat auffallend wenig Untersuchungen zu der Frage gegeben, wie die Wahl der religiösen Überzeugung mit Ichstörungen oder seelischen Krankheiten zusammenhängt.

Sargant (1957-70) stellt fest, daß plötzliche dramatische Bekehrungen sich am wahrscheinlichsten bei einfachen stabilen Extrovertierten ereignen, während Clark (1929) herausfand, daß 55 % der Personen, die eine plötzliche Bekehrung erlebten, von Schuldgefühlen geplagt wurden - gegenüber 8 % aller Probanden in seiner Untersuchung.

Roberts (1965) fand in einer weiteren Untersuchung heraus, daß diejenigen, dies sich plötzlich und zum Glauben ihrer Eltern bekehrten, hohe Werte auf der EPI-Skala für neurotisches Verhalten aufwiesen.

Graff und Ladd (1970), die den Personal Orientation Inventory und Dimensions of Religious Commitment [zwei psychologische Tests] auf 163 männliche Studenten anwandten, fanden eine umgekehrte Beziehung zwischen "Selbstrealisation" und Religiosität.

Freud (1913) sah die Religion als einen Versuch an, durch die Welt der Wünsche die Kontrolle über die Welt der Sinne zu erlangen und auf Gott die Abhängigkeit zu übertragen, die ursprünglich dem eigenen Vater galt. Religion war für ihn also ein neurotisches Symptom. Doch andere Analytiker haben diesen Ansatz ausgeweitet, um auch psychotische Krankheiten mit einzuschließen. Fenichel (1946) sagt, religiöse Wahnvorstellungen wurzelten regelmäßig in dem Verlangen nach Erlösung zusammen mit Versuchen, das überwältigende, nicht beeinflußbare schizophrene Erleben durch Verbalisieren zu bewältigen. Fromm (1960) unterstützt diese Theorie und postuliert, daß religiöse Vorstellungen wenigstens vier Funktionen im psychischen Haushalt erfüllen:

  1. Als symbolisches Mittel der Kommunikation;
  2. Zur Selbsterhaltung;
  3. Um die Angst des Individuums zum Schweigen zu bringen;
  4. Als eine positive kreative Funktion.

Als Ergebnis seiner Untersuchungen glaubte Jung (1933), daß der Mensch eine natürliche Religiosität besitze und seine psychische Gesundheit und Stabilität davon abhänge, daß diese das richtige Ventil finde, so wie es auch bei Instinktreaktionen sei. Es sei ein wesentliches Merkmal der Religion, Archetypen ins Bewußtsein zu heben und ihnen dort einen Ausdruck zu geben. Folglich zeigt die Art und Weise, wie jemand seine Religiosität ausdrückt, welche Störungen im Unbewußten des Individuums vorherrschten. Jung unterschied sich vom Analytiker im klassischen Sinne somit durch seinen Hinweis, daß man über die Religiosität keine allgemeinen Aussagen machen könne, da sie in sich selbst ein sehr vielgestaltiges Phänomen sei. Von empirischer Seite ist die analytische Theorie in Zweifel gezogen worden. So versuchte Lane (1968) in einer Untersuchung an ambulanten Patienten, den Grad an religiösem Interesse zu erfassen und mit dem EPP [einem psychologischen Test] zu korrelieren. Er kam zu dem Schluß: "Es sieht inzwischen so aus, als sei die Vorstellung vielversprechender, religiöses Interesse oder Beteiligtsein als mit verschiedenen funktionalen psychologischen Bedürfnissen verbunden zu betrachten, als es als psychopathologisches Symptom oder schlechtes prognostisches Zeichen für eine Gesundung abzutun." Boison (1952) führt das überzeugende Argument an, daß die Religion eine in hohem Maße personalisierte Angelegenheit sei, und liefert klinische Befunde, daß selbst bizarre Arten von Religiosität in konstruktive Bahnen geleitet werden können, wenn eine solche intensive religiöse Erfahrung mit Erfolg auf unbefriedigte psychologische Bedürfnisse trifft.

Lloyd (1973) stellt kategorisch fest, daß Religion ein Mechanismus der Lebensbewältigung ist und entweder als normal oder als symptomatisch angesehen werden kann. Im zweiten Falle versagen die normalen Bewältigungsmechanismen des Individuums oder ihre Integration ist bedroht und die Personen neigen gewöhnlich zu den enthusiastischeren, irrationalen, fundamentalen und gefühlsbetonten Sekten, in denen psychotische Patienten möglicherweise gut gestützt, geschützt und von der Gesellschaft abgeschirmt werden. Allerdings erklärt er nicht, wie er zu dieser Schlußfolgerung gekommen ist.

Das grundlegende Problem ist wohl, zu entscheiden, ob eine extreme Religiosität, wie sie an den sogenannten "neurotischen Sekten" (Northridge, 1968) zu sehen ist, ein Symptom einer manifesten psychiatrischen Erkrankung ist oder eher ein komplexer Abwehrmechanismus gegen eine latente Störung. Die Sekte der Zeugen Jehovas wurde im Jahre 1872 von Charles Taze Russell gegründet. Er erwies sich als ein Mann von zweifelhafter Integrität, doch die Bewegung hat sich über die ganze Welt verbreitet. Für den Zweck dieses Aufsatzes braucht ihr Organisationsaufbau nicht näher beschrieben zu werden, doch die Mitglieder glauben inständig, daß die Welt, wie wir sie kennen, bald vergehen wird und nur die wenigen ewige Rettung durch Jehova erlangen, die ihrem Glaubensbekenntnis rigoros gefolgt sind. Jeder Zeuge hält es für seine persönliche Pflicht und Verantwortlichkeit, diese Tatsachen jedem bekanntzumachen, mit dem er in Kontakt kommt, und den Versuch zu unternehmen, ihn für ein ewiges Leben auf der Erde zu gewinnen.

Ihre Grundsätze und Vorstellungen haben sie aus einer, wie gewöhnliche Christen sagen würden, willkürlichen Auswahl von Texten aus der Bibel gewonnen. Einige der ausgewählten Bezüge sind so versteckt und peripher, daß man sie wohl bestenfalls als Fehlauslegungen oder auch als falsch verstandene Zitate verstehen muß.

Es scheint, daß die Sekte Fragen wie Sexualität oder Schuld nur wenig betont, und sie leugnet die Existenz einer Feuerhölle. Wenn dieses Glaubensgebäude eine psychiatrische Parallele hat, dann ist Northridges Adjektiv "neurotisch" ungenau und die Begriffe "psychotisch" oder "paranoid" wären angebrachter. Es schien von Interesse zu sein, einigen dieser Hypothesen durch eine Untersuchung auf psychiatrische Erkrankungen an Mitgliedern dieser oder jeder anderen extremen Sekte auf den Grund zu gehen und den Versuch zu unternehmen, Klarheit zu schaffen.

Während des Zeitraums von 36 Monaten von Januar 1971 bis Dezember 1973 gab es in den psychiatrischen Krankenhäusern des westaustralischen Mental Health Service 7.546 Einweisungen zu stationärer Behandlung. Von diesen wurden 50 als aktive Mitglieder der Bewegung der Zeugen Jehovas berichtet. Es war nicht bekannt, wie viele von ihnen Bekehrte oder Mitglieder in zweiter Generation waren.

Die Zahl der Zeugen Jehovas in Westaustralien wurde von ihrer offiziellen Vertretung, Kingdom Hall, mit annähernd 4.000 angegeben. Die Gesamtbevölkerung Westaustraliens betrug am 1. Januar 1973 1.068.469; die Mehrzahl von ihnen (750.000) lebte im größeren Umkreis der Metropole Perth. Wie in den meisten australischen Städten besteht die Bevölkerung mehrheitlich aus im Lande geborenen Australiern und einer großen Gruppe von Einwanderern, hauptsächlich aus Europa, aber auch Minoritäten aus anderen Gegenden. In Westaustralien leben auch schätzungsweise 20.000 Ureinwohner (Aboriginees).

Von den 50 Eingewiesenen wurden 22 als schizophren diagnostiziert, 17 als paranoid schizophren, 10 als neurotisch und einer als Alkoholiker.

Tabelle 1: Einweisungen wegen Schizophrenie 1973

  Einweisungen gesamt Jährliche Rate pro 1000 Einwohner Einweisungen.
Zeugen Jehovas
Jährliche Rate pro 1000 Zeugen Jehovas
Alle Diagnosen 7.546 2,54 50 4,17
Schizophrenie (295) 1.826 0,61 22 1,83
Paranoia (1953) 1.154 0,38 17 1,4
Neurose (300) 1.182 0,39 10 0,76

Diskussion

Die in der Tabelle zusammengetragenen Zahlen machen deutlich, daß Mitglieder der Zeugen Jehovas bei Einweisungen in die Einrichtungen des Mental Health Service in diesem Landesteil überrepräsentiert sind. Überdies wird aus der Tabelle ersichtlich, daß Schizophrenie bei ihnen dreimal so häufig vorkommt wie beim Rest der allgemeinen Bevölkerung, wahrend die Zahl für paranoide Schizophrenie im Vergleich fast viermal so hoch ist. (Die Zahlen sind allesamt mit maximal 1 % Irrtumswahrscheinlichkeit im X2-Test statistisch signifikant).

Ein weiterer Befund, der sich gezeigt hat, ist, daß die Einweisungsrate für paranoide Schizophrenie in Westaustralien höher zu sein scheint als in einer vergleichbaren Gegend in Großbritannien (Plymouth, 1972). Dieses Ergebnis ist zuvor bereits von Kraus (1969) für Gegenden mit Einwanderung aus unterschiedlichen Kulturen festgestellt worden. Die dem Befund zugrundeliegenden Mechanismen sind vermutlich komplexer psychosozialer Natur und brauchen hier nicht erörtert zu werden. Sie sind allerdings von gewissem Interesse, da in dem englischen Untersuchungsgebiet ein geringerer Anteil an Anhängern der Zeugen Jehovas berichtet wird.

Wenn das Argument zutrifft, daß die Funktion von Religion die Erhaltung der Ichfunktionen und das Beruhigen von Angst ist, und daß ferner die konventionelle Religiosität Ausdruck einer gesunden Psyche ist, dann könnten extreme religiöse Ansichten möglicherweise eine Form des Ausdrucks psychotischer Erkrankung sein.

Wie zuvor erwähnt, ist nach dem Kenntnisstand des Autors die Frage der Schuld im religiösen Verhalten außerhalb einer plötzlichen Bekehrung nie untersucht worden. Sie könnte ebenfalls Objekt weiterer Untersuchung sein.

Erhellend könnte auch ein Vergleich der Daten von bekehrten Zeugen Jehovas zu solchen sein, die ihren Glauben von den Eltern übernommen haben. Die Untersuchung wirft kein Licht auf die Frage, ob Symptom oder Abwehrmechanismus, sondern legt den Schluß nahe, daß die Sekte der Zeugen Jehovas entwederein Übermaß an präpsychotischen Personen anzieht, die dann vielleicht dekompensieren, oder auch, daß das Leben als Zeuge Jehovas an sich ein Streßfaktor ist, der eine Psychose auslösen mag. Möglicherweise wirken beide Faktoren ineinander.

Karl Marx bemerkte einmal, Religion sei Opium für das Volk. Stellt die Zugehörigkeit zu einer Sekte wie die Zeugen Jehovas für einen Schizophrenen, dessen Gedanken in Aufruhr sind und der von Zweifeln über seine Identität und von Beziehungswahnideen geplagt wird, möglicherweise eine Stütze als nichtpharmakologisches Beruhigungsmittel dar? Wenn das so ist, sollten psychiatrisches Personal und Religionsführer vielleicht die Struktur und Funktion dieser und anderer vergleichbarer Gruppen in neuem Licht sehen.

Tabelle 2: Vergleich der Einweisungen wegen Schizophrenie 1973

  Westaustralien (n=2.635) Plymouth (England) (n=1.246)
Schizophrenie 675 (25 %) 249 (20 %)
Paranoide 448 (17 %) 84 (6,7 %)