Kürzlich schaute ich "nur so zum Spaß" im Web unter "Jehovas Zeugen" nach. Ich war ein Zeuge in der zweiten Generation, der die Gesellschaft Anfang 1975 verließ. Das ist meine Geschichte:

Ich habe nie geglaubt, ich würde das tun, bis ich anfing, Dutzende von Erlebnisberichten ehemaliger Zeugen zu lesen, und sah, daß meine eigenen Erfahrungen und meine Lebensgeschichte sich in diesen Geschichten immer und immer wiederholten.

Ein zwingender Grund, meine Erfahrung mitzuteilen, ist, daß ich noch bis vor kurzem daran festgehalten hatte, es gebe auch viel Gutes in der "Organisation". Na, sagt mal, da lag ich aber voll daneben. Darum geht es: die Neue-Welt-Übersetzung von Johannes 1:1, und das, was sich WIRKLICH mit der leitenden Körperschaft und den Wachtturm-Präsidenten abspielt. Bis vor kurzem ist mir nicht im Traum eingefallen, die Zeugen Jehovas könnten eine Sekte sein. Sie sind es.

Früheste Erfahrungen

Meine früheste Erinnerung an meine Erziehung zum Zeugen Jehovas war, als ich vier Jahre alt war und meine Mutter entschied, es sei Zeit, mit der Schulung zum Religionsdiener zu beginnen. Sie wies mich an, immer wieder zu wiederholen, bis es mir im Gedächtnis blieb: "Ich habe den Wachtturm und das Erwachet für nur 10 Cents." Als sie dachte, ich habe es begriffen, klopfte sie an eine Tür, sagte: "Mein Sohn möchte ihnen etwas sagen", und schob mich sanft vor. ICH WAR STARR VOR ANGST! Ich ging zurück und versteckte mich hinter ihrem Rock. Das machte sie ziemlich verlegen, aber sie fing sich und wandte die übliche WT-Verkaufstaktik an.

Als ich 10 Jahre alt war, wurde mir gesagt, es sei Zeit, sich in die Predigtdienstschule einzutragen. Ich war immer ein guter Schüler; so stellte es für mich kein Problem dar, Bibelverse vorzulesen, die mir zugeteilt waren. Als ich an der Reihe war, mich vor alle hinzustellen, WAR ICH WIEDER STARR VOR ANGST! Meine Stimmbänder schlossen sich, und ich konnte den Text mit kaum mehr als einem Wispern herausbringen. Erst nach drei weiteren Bibellesungen in der Predigtdienstschule konnte ich die Aufgabe beenden, ohne meine Stimme zu verlieren.

Ich habe in meinem ganzen Leben extremes Lampenfieber gehabt. Es ließ mich nach 20 Jahren Studium schließlich meinen Traum aufzugeben, Konzertpianist zu werden. Wurde das durch die genannten Erfahrungen verursacht? Ich weiß nicht, aber es scheint mehr als bloßer Zufall zu sein.

Keine Impfung gegen Kinderlähmung für mich

Als ich in der ersten Klasse war, war Kinderlähmung eine der gefürchtetsten Krankheiten auf der Welt. Millionen von Menschen starben daran oder wurden verkrüppelt. Eiserne Lungen liefen nie umsonst.

Der Impfstoff gegen Kinderlähmung nach Salk war gerade entwickelt worden, aber er mußte noch weiter getestet werden, ehe er allgemein zugänglich war. Meine Schule war als eine ausersehen, wo die Testreihen stattfinden sollten. Meine Mutter ließ aufgrund ihres Verständnisses der Wachtturm-Lehre nicht zu, daß ich den Impfstoff bekam. Ich weiß nicht mehr, ob das Erhalten des Impfstoffes damals, 1953, von der Gesellschaft immer noch offiziell verboten war, aber ich weiß, daß das vorher verboten war.

Als ich 1962 in der 9. Klasse war, wurde der orale Polioimpfstoff nach Sabin eingeführt und für sicher erklärt. Wieder ließ meine Mutter nicht zu, daß ich ihn erhielt - aufgrund ihres "christlichen Gewissens" in dieser Sache.

Ich habe mir keine Kinderlähmung zugezogen. Ich hatte SEHR großes Glück.

Meine Taufe: über allem war Angst

Ich war in meinen jungen Jahren ein rechter Bibelforscher und beschloß mit 12 Jahren, mich taufen zu lassen. Zuerst dachten meine Eltern, ich sei zu jung, aber schließlich überzeugte ich sie davon, daß ich Jehova so sehr liebte, daß ich bereit war, einer seiner ihm ergebenen Diener zu werden. Die EIGENTLICHE Wahrheit ist, daß ich so sehr Angst hatte, von Jehova vernichtet zu werden, wenn ich mich nicht taufen ließ, daß ich es tat.

Als ich etwa 14 Jahre alt war, sollte ein anderer Teenagerfreund von mir eine Ansprache in der Dienstversammlung halten. Ich sagte zu ihm: "Laß uns mal etwas anderes Lustiges tun. Wir stellen den Stoff in Form eines Stummfilms dar. Du sagst etwas, und ich spiele dazu etwas Passendes auf dem Klavier. Genau das machen wir abwechselnd." Er war einverstanden, und wir bereiteten uns einige Tage lang eifrig darauf vor. Wenn er z.B. von der paradiesischen Erde sprach, sollte ich "fröhliche" Musik dazu spielen, oder wenn er über Harmagedon sprach, etwas wie den Trauermarsch von Chopin. Das war die Idee. Wir hatten geplant, den Zuhörern etwas zu lachen zu geben. Keiner lachte. Ich meine auch wirklich "keiner". Man gab uns den Rat, daß solche Darbietungen unpassend seien. Es scheint, daß die "glücklichsten Menschen auf der Erde" nur dann glücklich sind, wenn sie die herrlich blutrünstigen Geschichten des Gemetzels hören, das über die "Welt" kommen wird, weil die Menschen nicht die für sie bestimmte Botschaft von Gottes liebevollem Vorhaben beherzigt haben.

Bei einem Bezirkskongreß in San Francisco, als ich etwa 14 Jahre alt war, habe ich Freiwilligendienst in der Cafeteria verrichtet. Bei einer meiner Runden kam ein Jugendlicher auf mich zu und wies auf einen Stuhl in der Cafeteria. "Siehst du diesen Stuhl? DAS ist der Stuhl, auf dem Bruder Knorr heute morgen beim Frühstück saß. Ich bin herübergelaufen und habe mich selbst darauf gesetzt, nur um meinen Freunden zu erzählen, daß ich es getan habe. Ich kam mir als etwas Besonderes vor!"

Angst und nochmals Angst

Während meiner ganzen 27-jährigen Erfahrung als Zeuge Jehovas hatte ich immer Todesangst vor Gott. Nicht ein einziges Mal in der ganzen Zeit empfand ich ein enges, liebevolles Verhältnis zu Ihm. Als ich das vor einigen Jahren gegenüber meiner Mutter äußerte, sagte sie, ich sollte "Gott voller Furcht lieben". Ist das nicht ein Widerspruch in sich selbst?

Wie, das sehe ich jetzt, kann ÜBERHAUPT JEMAND einen Gott lieben, der angeblich so rachsüchtig gegenüber seiner eigenen Schöpfung, seinen eigenen "Kindern", ist? Ich als Vater meiner Kinder könnte NIEMALS meine Kinder quälen oder töten, egal wie ungehorsam mir gegenüber sie sind, egal wie oft sie mich verfluchten. Überdies habe ich nie meine Kinder körperlich gezüchtigt und würde es auch niemals. Aber natürlich kann der "Gott des ewigen Lebens und der Liebe" das. ER kann mit Gewalt 99,9% der Menschen auslöschen; Frauen, Kinder und Kleinkinder auf dem Planeten, obwohl sie ihn in Ruhe und aufrichtig auf ihre Weise anbeten, aber einfach nicht in der "richtigen" Weise reagieren, wenn jemand die "gute Botschaft" mit ihnen teilt. Natürlich KÖNNTE Gott so handeln. Aber würde er das tun? Ich denke, nein.

Ich war 1965 schon in der letzten Klasse der High School und war die meiste Zeit über ein guter Schüler gewesen. Vietnam wütete in voller Kraft. Ich hatte genügend Kernwahlfächer belegt, so daß ich im letzten Jahr jeden Tag nur noch bis 11.00 Uhr in die Schule gehen brauchte, um dann den Abschluß zu machen. Nachmittags war ich Pionier. Natürlich hatte man mir, seit ich denken konnte, gesagt, ich sollte nicht aufs College gehen, weil die Zeit so kurz sei und man im College die Evolution lehre und die mich verderben würde. Meine Schulberatung sagte mir, ich hätte eine ausgezeichnete Chance, ein volles Stipendium für einige ausgezeichnete Universitäten zu erhalten. Aber nach den "liebevollen Hirtenbemühungen", die ich von den Brüdern in bezug auf den Collegebesuch erhielt, sollte das nicht sein.

Ich bin zum Sterben verdammt

Der Pionierdienst war die Hölle. Die reinste Hölle! Während meine Klassenkameraden ein angenehmes Leben auf der Schule führten, war ich draußen und klopfte in zwei Fuß tiefem Schnee an Türen. Die meiste Zeit mußte ich alleine predigen. So manches Mal sagte ich zu mir selbst: "Was TUE ich da eigentlich? Diese Leute wollen meine Botschaft gar nicht empfangen. Alle diese Tausende von Stunden, und bei mir ist es kein bischen besser." "Was mache ich verkehrt, Jehova?" betete ich immer.

Nun, nach einiger Zeit wurde es mir zu viel, und so ging ich statt zu predigen zur Bowlingbahn und in die Spielhalle. Aber was war mit meiner "Quote" von 100 Stunden? Wie sollte ich damit umgehen? Der Versammlungsaufseher war ein Ex-Gileadschüler und in der Versammlung sehr gefürchtet. Ich persönlich verachtete ihn. Er hielt ausgezeichnete Ansprachen vor der Versammlung über dies und das, und dann kam er regelmäßig mit anderen Brüdern zu uns nach Hause und betrank sich mit meinem Vater, während sie über die Zeugenlehre sprachen. Nun, ich behandelte meine 100-Stunden-Quote brillant: Ich log auf dem Blatt. Aber ich hatte ein enormes Schuldgefühl dabei. Ich wußte, daß ich in den zornigen Händen Jehovas zur Vernichtung verurteilt war. Aber ich wurde in der Spielhalle immer besser.

Meine Erlösungsversuche: Gute Werke

Im Jahre 1967 traf ich einen älteren Bruder, der wegen meines "biblischen" Wissensdurstes einen Narren an mir gefressen hatte. Er besaß Hunderte von Watchtower- und Awake-Ausgaben bis ins 19. Jahrhundert zurück. Er gab sie mir alle. Er verschaffte mir auch ein Exemplar eines jeden von Joseph Rutherford geschriebenen Buches. Welch ein Schatz! Ich las sie alle. Zusätzlich gab er mir noch einen Originalsatz der Lichtbilder des Photodramas der Schöpfung.

Damals lebte ich in einem anderen Bundesstaat, und mein ehemaliger Versammlungsaufseher (der sich immer mit meinem Vater betrank) fand heraus, daß ich die Dias des Photodramas hatte. Er rief mich an und fragte, ob ich sie ihm geben würde, weil er dachte, bei den Brüdern und Schwestern im ganzen Land bestünde ein großes Interesse daran, einen Blick in unsere Vergangenheit zu werfen. So schickte ich sie ihm mit Freuden, obwohl ich wußte, daß sie vom Zeugen-Jehovas-Standpunkt aus sehr wertvolle Sammlerstücke waren. Er fing 1967 damit an, das Photodrama vorzustellen, und er macht das noch bis heute (1997), dreißig Jahre später. Naja, ganz stimmt das nicht: er wurde vor einer Reihe von Jahren ausgeschlossen und später wieder aufgenommen. Dieser Mann ist recht bekannt für seine Photodrama-Darbietungen. Ich war beleidigt, weil er nie anrief und sich bedankte. Ich nehme an, das zu tun ist nicht seine Art.

Mit 19 heiratete ich aus den zeugenüblichen Gründen: Hormonstöße im inneren Kampf mit den moralischen Maßstäben der Zeugen Jehovas. Ehe wir heirateten, führten meine Verlobte und ich einen "losen Lebenswandel" (was immer DAS bedeuten soll), und ich war voller Schuld. Das, zusammen mit den Unwahrheiten auf meinem Predigtdienstberichtzettel, hatte mich für immer verurteilt, glaubte ich. Aber vielleicht, vielleicht konnte ich es mit vielen Gebeten und größerer Anstrengung ausgleichen und Vergebung erlangen. Dem Komitee beichten? Niemals! Ich hatte ja schon gesehen, wie sie den Ruf allzu vieler Jugendlicher zerstört hatten, die sich nur von etwas jugendlichem Petting davontragen ließen. Vielleicht würde Jehova mich niedermetzeln, aber wenigstens würde er nicht meinen Ruf bei all den Leuten, die ich ein Leben lang kannte, ruinieren.

Mit Anfang 20 war ich ein aufstrebender Zeuge Jehovas: Ich reiste zu anderen Versammlungen und hielt eine Stunde lange Ansprachen, mir war die zweite Predigtdienstschule übertragen und ich war Pionier und Buchstudiendiener.

Schließlich traf mich das Schicksal in Form eines Einberufungsbefehls. Wegen meiner Weigerung, in der Armee zu dienen, wurde ich eines Verstoßes gegen ein Bundesgesetz für schuldig befunden und zu 2 Jahren mit wöchentlich 40 Stunden "freiwilliger" Gemeindetätigkeit verurteilt. (Ein weiteres Oxymoron!) Ich riß meine Zeit ab, und wurde schließlich völlig und bedingungslos begnadigt. Aber obwohl ich bis dahin und auch später nie im Gefängnis saß, muß ich auf jedem Dokument ehrlicherweise mit "Ja" antworten, wenn ich gefragt werde, ob ich vorbestraft bin. Ich bin jedoch froh, daß ich nicht nach Vietnam mußte. Dafür danke ich den Zeugen Jehovas.

Während dieser Zeit verbrachte ich viele Stunden damit, einem alten Jugendfreund zu helfen, der als Zeuge in der dritten Generation aufgewachsen war. Er war zu der Zeit ein vollkommener Agnostiker. Dieser Freund war bei meiner Hochzeit Trauzeuge gewesen, und er war mein engster Freund. Seine Mutter zählte sich zu den Gesalbten und sein Großvater war der Vater eines Mitglieds der leitenden Körperschaft. Ich möchte den Namen nicht nennen, weil der immer noch der leitenden Körperschaft angehört. Ich bat ihn immer wieder inständig, jede mögliche Schriftstelle benutzend, in die "Wahrheit" zurückzukehren. Das tat er schließlich, und wir blieben weiter die besten Freunde. Ich kannte ihn den meisten Teil meines Lebens.

Kummer haben ist auch eine Lebensart

Ich habe hier noch nichts über boshaftes und ständiges Geschwätz, anderen in den Rücken fallen, Macht an sich reißen, Manipulieren, boshafte Schadenfreude bei Gemeinschaftsentzügen, öffentliche Zurechtweisungen und allgemein menschlichen Kummer erzählt - Dinge, die es in jeder Versammlung gab, die ich besuchte.

Das ist nun mal so. Und das gleiche gilt für die Besessenheit bei den Zeugen mit Sex.

Doch eine Geschichte will ich erwähnen. Bereits Mitte der 1970er Jahre war es, wenn jemand ausgeschlossen wurde, gegen die verfaßte Politik der "Gesellschaft", die gesamte Versammlung darüber zu informieren, worin das "Verbrechen" bestand. Es wurde nur gesagt: "wegen eines für Christen unziemlichen Verhaltens", oder so etwas ähnliches.

Ich glaube, das hat mehr damit zu tun, daß die Gesellschaft mehrere Verleumdungsprozesse verlor, als damit, daß die Opfer vor einer öffentlichen Demütigung geschützt werden sollten. Regiert Geld die "göttliche Politik", wie sie vom "treuen und verständigen Sklaven" weitergegeben wird? Wieder kann der Leser die Frage selbst beantworten. Ich weiß die Antwort bereits.

Wie auch immer, der Aufseher stand also vor der Versammlung und verkündete traurig den Gemeinschaftsentzug zweier (natürlicher) Schwestern im Alter von 16 und 17 Jahren. Nachdem er eine Reihe von Schriftstellen zum Thema vorgelesen hatte, war er offensichtlich zum Ende gekommen. Doch nicht ganz. Er schlug seine Bibel zu und sagte vor der ganzen Versammlung in selbstgefälligen und selbstgerechtem Ton: "Liebe Mädchen werden eben nicht schwanger!" In der Zuhörerschaft saßen die Eltern der beiden Mädchen. Man kann sich vorstellen, wie sie sich fühlten, als sie diese Worte hörten. Später wurde der Tochter dieses Aufsehers wegen derselben Sache die Gemeinschaft entzogen.

Dieser Aufseher kam eines Tages auf mich zu und wies mich ernsthaft darauf hin, mein Haar im Nacken berühre schon den Kragen meines weißen Hemdes. Solch langes Haar sei für einen Dienstamtgehilfen inakzeptabel, sagte er. Abschneiden oder das Dienstamt verlieren. Mehrere junge Brüder, darunter auch ich, fragten ihn, ob wir uns Schnurrbärte wachsen lassen dürften. Das war etwa 1973, als langes Haar und Bärte überall zu sehen waren. Er sagte "Nein", weil wir uns dann "von anderen abheben" würden. Ein Jahr später war das o.k. Werde einer schlau daraus.

Die Leidenschaft wegen 1975

Wenn jemand, der dies liest, in den späten 1960er und den frühen 1970er Jahren nicht in der Organisation war und gesagt bekam, die meisten Brüder und Schwestern seien damals übereifrig gewesen und hätten in bezug auf 1975 Spekulationen angestellt, glaub es nicht. Ich habe das alles mitgemacht.

Wenn den Verkündigern solche neuen und noch nie dagewesenen Anweisungen in bezug auf die Zahl der Monate gegeben werden, die ein Bibelstudium dauern darf (und wenn die voraussichtlichen Schafe sich noch nicht entschlossen hätten, sich taufen zu lassen, müsse das Studium für beendet erklärt werden), was sonst würde man denken? Das "Ende" muß doch unmittelbar bevorstehen, nicht wahr? Die Gesellschaft hat alles in ihrer Macht Stehende getan, uns zu überzeugen, daß DIESMAL aber SICHER Harmagedon bevorstünde.

Wenn solche Aussagen wie: "Es handelt sich nur noch um Tage oder Wochen" oder: "Denkt nur, Brüder, uns bleiben nur noch Monate" veröffentlicht wurden, was sonst sollte man da denken?

Wenn der Königreichsdienst von Brüdern und Schwestern berichtet, die alles, was sie haben, verkaufen, um Pionierdienst zu machen, und dann sagt jemand so etwas wie: "Das ist sicherlich etwas Feines in der verbleibenden kurzen Zeit", was sonst sollte man da denken? Jehova hat doch schließlich seine Organisation durch seinen Heiligen Geist geleitet, oder?

Ein junger Bruder, den ich kannte, und der damals erst 25 Jahre alt war, sagte zu den Ältesten in unserer Versammlung, daß er bald seine Zähne verlieren würde, wenn er sie sich nicht schnell fixieren lassen würde. Er zog es vor, sie Jehova fixieren zu lassen, weil die Neue Ordnung so nah war. Nun, und was sagten die Ältesten? Haben sie ihn gebeten, Zurückhaltung zu üben, vorsichtig zu sein, nicht zu sehr das Jahr 1975 zu betonen? Nein, das taten sie nicht. Was sonst sollte man da denken?

Wenn graphische Darstellungen veröffentlicht werden, die jedes Millennium umreißen und den Anfang des siebten Millenniums direkt auf den Herbst 1975 legen, was sonst sollte man da denken?

Wenn man überall in der Literatur die Worte "vertrauenswürdige" und "zuverlässige" Bibelchronologie bezüglich des Jahres 1975 liest, was sonst sollte man da denken?

Wenn wir in offensichtlicher Erfüllung biblischer Prophetie den großen Zustrom neuer Zeugen sehen, die in den Jahren vor 1975 zur Herde stoßen, was sonst sollte man da denken?

Wenn wir zur Genüge sehen, daß die freudige Erwartung unter den Brüdern und Schwestern bezüglich 1975 NATÜRLICH seinen Weg zurück zur leitenden Körperschaft findet, und wir erkennen keine deutlichen Beweise dafür, daß die Gesellschaft in bezug auf unsere Erwartungen "die Bremse zieht", was sonst sollte man da denken?

Nein, lieber Leser, wir Zeugen haben damals nicht die Selbstkontrolle aufgegeben, haben nicht wild spekuliert, sind nicht voreilig zu spekulativen Schlüssen gelangt. Wir haben nur in Übereinstimmung mit dem gehandelt, womit man uns nährte. Wir sind von der Wachtturm-Gesellschaft schlau verführt worden und haben in Übereinstimmung mit dieser Verführung gehandelt. Wir wurden auf ähnliche Weise verführt wie Eva von Satan im Paradies. Das ist die passendste Analogie, die ich finden kann.

Glücklicherweise habe ich nicht lange genug abgewartet, um zu sehen, wie die Wachtturm-Gesellschaft später eine Kehrtwendung machte und die eigenen Brüder hinterging, indem sie DIESE beschuldigte, voreilig Schlüsse gezogen zu haben, indem man heuchlerisch erklärte: "Nein, das haben wir nicht gesagt."

Im Gegensatz zu dem, was heute gelehrt wird, waren die meisten von uns sehr aufrichtig darin, aus den Publikationen der Gesellschaft herauszufinden zu versuchen, was es mit 1975 auf sich habe. Wir warteten eifrig auf jede Zeitschrift und ergingen uns über jedes Wort und versuchten ganz ehrlich nicht, "mehr aus dem zu machen", was tatsächlich geschrieben stand.

Mein Wendepunkt: Arroganz und Heuchelei des Kreisaufsehers

Da ich Pionier war und verantwortliche Stellungen in der Versammlung innehatte, gab man mir das "Vorrecht", den Kreisaufseher und seine Frau, als sie zu Besuch waren, zum Essen einzuladen. Von dieser Organisation möchte ich mich trennen. Töte mich, Jehova. Das ist mir auch egal. Diese Leute sind Heuchler, und ich bin es auch. Wenn ich sterben werde, will ich vorher noch Spaß haben. Ich tat den endgültigen Bruch Anfang 1975. Hatte ich Sorgen, daß ich deshalb vielleicht in einigen Monaten vernichtet würde, wenn der "große Knall" käme? Aber ganz sicher. Der Oktober 1975 war ein schrecklicher Monat für mich. Soviel Einfluß hatte alles noch auf mich, obwohl ich überzeugt war, dies sei nicht die wahre Religion. Aber es war mir egal, ob Harmagedon käme oder nicht. Ich wollte RAUS.

Vernichtung von Menschen im Kielwasser der Zeugen Jehovas

Jahre nach dem Weggang dachte ich viel über Leute nach, mit denen ich groß geworden war, die ich geliebt hatte, denen ich mich anvertraut hatte, die Freunde gewesen waren, und was aus vielen seither geworden war. Hier sind einige sehr traurige Ergebnisse:

Meine Mutter hatte mich als Zeugen Jehovas erzogen: Sie ist seit fast 50 Jahren Zeugin mit gutem Ruf. Sie begann vor fast 20 Jahren, von den Symbolen zu nehmen. Sie bekommt seit über 35 Jahren ständig Antidepressiva. Sie geht selten zu den Zusammenkünften oder in den Felddienst.

Mein Vater: Seit fast vierzig Jahren aktiver Zeuge. Unter der Drohung eines Gemeinschaftsentzugs gab er vor fünfzehn Jahren gleichzeitig das Rauchen und das Trinken auf.

Meine Schwester: Seit den letzten vier Jahren mit ihrem Mann im Betheldienst. Ein wundervoller Mensch.

Der einzige Sohn meiner Schwester, als Zeuge aufgewachsen: wegen versuchten Mordes in einer schiefgelaufenen Drogensache im Gefängnis.

Ihre einzige Tochter, auch als Zeugin aufgewachsen: hat die Gemeinschaft verlassen.

Mein bester Freund die ganze Zeit über und mein Trauzeuge: verzehrt sich voll Haß gegen mich. Dient gegenwärtig als Ältester.

Seine Mutter, Schwester eines Gliedes der leitenden Körperschaft, die ich mit ihrem zweiten Mann bekanntmachte und die seit fast 60 Jahren zu den Gesalbten zählt: "Doug ist ein ausgemachter Dummkopf, weil er die Wahrheit verläßt."

Die Mutter meiner ersten Frau, die für mich die beste Schwiegermutter war, die man sich nur wünschen kann: hat seit 22 Jahren kein Wort mehr mit mir gesprochen. Ich habe gehört, daß sie nur schlecht über mich spricht, wann immer die Rede auch mich kommt. Sie flog 1000 Meilen, um meine erste Ein-Stunden-Ansprache zu hören, als ich Zeuge war. Sie ist schon seit 25 Jahren eine aktive Pionierschwester.

Ein anderer guter Freund, Ex-Bethelbewohner und im allgemeinen ein wundervoller Kamerad: verlor seine sehr junge Frau kurz nach der Geburt ihres ersten Kindes, weil sie Blutungen bekam und sie kein lebensrettendes Blut annehmen wollten. Immer noch als Ältester tätig.

Ein anderer Freund, der vom Pionier über Sonderpionier und Bethelbewohner zum Missionar aufstieg: Ausgeschlossen. Wurde schwer drogensüchtig.

Der Vater eines weiteren Freundes, der seit vielen Jahren Versammlungsaufseher war: ausgeschlossen, wieder aufgenommen, wieder ausgeschlossen.

Der Mann, der mein Predigtdienstschuldiener war und der meine erste Frau und mich in unserer Versammlung traute: ausgeschlossen.

Der Versammlungsaufseher aus meiner Kinderzeit: Pionier, Bethelmitarbeiter, Missionar, Kreisaufseher: ausgeschlossen, wieder aufgenommen. Immer noch tätig.

Der junge Mann, der vor Gericht gestellt und verurteilt wurde und der mit mir die Strafe absaß, weil er sich weigerte, der Einberufung zum Militär Folge zu leisten: Gemeinschaftsentzug.

Meine erste Tochter, die von ihrer Mutter als Zeugin erzogen wurde: hat die Gemeinschaft verlassen.

Die Mutter meiner ersten Tochter: hat die Gemeinschaft vor Jahren verlassen.

Ein weiterer Bruder, der viele Jahre lang häufigen Umgang mit meinen Eltern hatte: ausgeschlossen, jetzt tot, akuter Alkoholiker, ist obdachlos auf der Straße gestorben.

Der Sohn dieses Mannes, der in jungen Jahren mit mir häufig den "Ferienpionierdienst" verrichtet hat: lebt seit jetzt 30 Jahren in einem psychiatrischen Krankenhaus. Seine größte Sorge, als wir junge Teenager waren, war die Bestrafung, die er wegen Masturbation zu erwarten hätte.

Ich könnte so weitermachen, aber ich tue es nicht. Es macht mich fertig, über all das noch einmal nachzudenken.

Ich hatte Dinge für selbstverständlich genommen oder früher übersehen, die ich nun sorgfältig untersuchte. Ich begann ernsthaft daran zu arbeiten, mich nicht mehr wie ein Roboter zu benehmen und den Zeugenjargon nachzuplappern, ohne wirklich darauf zu hören, was jemand sagte.

In unserer Versammlung gab es einen hochgeachteten Gesalbten, der zu jener Zeit schon seit fast 50 Jahren im Bethel lebte und der auch der EINZIGE in den USA außerhalb des Bethels war, der etwas von der Literatur der Gesellschaft drucken durfte. Dieser Mann war in der Versammlung fast als "Heiliger" angesehen. Mit neuen Ohren hörte ich seinen Reden zu. Die Wahrheit war, er konnte die halbe Zeit über keinen richtigen Satz formulieren, und das meiste war Geschwafel.

Ich betrank mich regelmäßig mit den Ältesten und anderen Diener der Versammlung. Es war Sonntag morgens ein unausgesprochener Spaß, wenn wir völlig verkatert zum Wachtturm-Studium kamen, uns abwechselnd im Badezimmer übergaben und uns einander zuwinkten, wenn wir auf unsere Plätze zurückkehrten.

Aber meistens war es das heulende Elend in der Versammlung, das ich zu bemerken begann. Lieder wurden mit dem Enthusiasmus einer Totenklage angestimmt. Antworten auf Fragen wurden mit monotoner Stimme gegeben. Keine Begeisterung. Nichts vom glücklichsten Volk auf Erden. Ich fühlte mich damals nur glücklich, wenn ich mich betrank.

Ich bin draußen!

Als ich mich schließlich von Jehovas Zeugen trennte, verlor ich, wie zu erwarten, alle Freunde, darunter lebenslange.

Aber ich habe meine Entscheidung nie bedauert. Eigentlich werde ich von Zeit zu Zeit sogar noch darin bestärkt.

Wenige Jahre später, etwa 1977, war ich in einer Bar und sprach mit einer Barbekanntschaft, die ich bereits einige Monate lang kannte. Ich erzählte ihr, daß ich ein Zeuge gewesen war. Es verschlug ihr die Sprache! Sie informierte mich, daß sie fünf Jahre lang Sonderpionierin und zehn Jahre lang allgemeine Pionierin gewesen war. Sie hatte die Gileadschule beendet und auch mehrere Jahre als Missionarin gedient. Wir tauschten unsere Erfahrungen aus, und gewiß genug: es waren dieselben! Wir lachten und lachten, und dann betranken wir uns zusammen!

Etwa 10 Jahre nach meinem Weggang rief ich meinen besten früheren Freund an. Er war derjenige, den ich in die "Wahrheit" zurückzubringen geholfen hatte und der mein Trauzeuge gewesen war. Frühere Versuche, unsere Freundschaft wieder aufleben zu lassen, waren fehlgeschlagen. Er war sehr kalt zu mir und stellte klar, daß er keinen Umgang mit mir haben wollte. Doch eines Tages rechnete ich mir aus: "Was für ein Unsinn. Das ist jetzt schon 10 Jahre her. Menschen werden reifer. Dinge ändern sich. Ich werde ihn nochmals anrufen und sehen, was er so macht."

Wieder war er nicht nur sehr kalt zu mir, sondern ausgesprochen feindselig. Er sagte, auch wenn ich (meines Wissens) nie formell ausgeschlossen wurde, könnte ich das sehr wohl werden. Er geiferte, ich sei schlimmer als ein Hund, der zu seinem Gespei zurückkehrte. Schließlich sagte ich zu ihm: "Warte mal. Erinnere dich, wie das alles war! Ich war es, der Monate damit verbrachte, dich wider in die Wahrheit zurückzubringen. Ich war es, der dich aufbaute, so daß du wieder geistig stark wurdest. Auch als du Gott verflucht hast, habe ich dich nie verlassen. Ich habe nie meine Freundschaft mit dir gebrochen. Schau dir an, was du zu mir sagst. Wo ist die berühmte LIEBE der Zeugen Jehovas, über die ihr ständig predigt? Können wir uns nicht einfach auf ein Gespräch darüber treffen, was sich in den letzten 10 Jahren in unserem Leben so ereignete, ohne die Sprache auf Religion zu bringen? Ich werde dich schon nicht beißen. Ich werde dir schon nicht mit irgendeinem 'dämoneninspirierten' abtrünnigen Mist das Gehirn waschen." Er erwiderte selbstgefällig: "Das werde ich nicht tun, aber weil du eine solch große Sache daraus machst, können wir eines Tages reden. Mir ist das so oder so egal." Ich beschloß, daß es die Sache nicht wert war. Sein Gehirnwäsche-Haß saß einfach zu tief.

Ich erfahre wahrhaft Gottes Liebe

Nachdem ich die Gemeinschaft verlassen hatte, verbrachte ich die nächsten 20 Jahre mit der Suche nach Spiritualität in verschiedenen Richtungen. NICHT, was Jehovas Zeugen unter dem Wort Spiritualität verstehen, nämlich: "Genau das tun, was einem gesagt wird." Einige Jahre lang war ich Agnostiker; ich habe Gott mehrmals verflucht. Dann geriet ich an die Anonymen Alkoholiker und begann die Erfahrung (und diesmal könnte ich sagen, die WIRKLICHE ERFAHRUNG) eines persönlichen, liebenden, gütigen und vergebenden Gottes zu machen. Eines Gottes, der vergibt, egal ob wir bereuen oder nicht, vielmehr deshalb, weil es das Wesen Gottes ist, seinen Kindern zu vergeben und sie zu lieben. Ich erfuhr einen GOTT, DER BEDINGUNGSLOS LIEBT. Ich fühlte mich geborgen und geschützt und umfangen und umsorgt und genährt und GELIEBT. Die Zeugen reden ständig von "agape", scheinen aber nie daran zu denken, was das Wort WIRKLICH bedeutet. Ohne Vergebung kann es keine agape geben. Ich dachte: "Wenn Gott mir seine Liebe und Vergebung ohne Bedingungen zeigen kann, dann fällt mir die Reue viel leichter, weil kein Zwang damit verbunden ist."

Eine Zeitlang hatte ich mit Hellsehern zu tun, aber ich machte nie dämonische oder traumatische Erfahrungen. Nebenbei bemerkt: Wer braucht schon einen Hellseher, wenn es uns geschenkt wird, sich an die richtige Quelle für die Antworten auf unsere Fragen zu wenden?

Ich studierte östliche Lehren und kam zu dem Schluß, daß der Faden göttlicher Wahrheit an vielen Stellen zu finden ist, wenn man nur ernsthaft Ausschau hält. Dann wurde ich ein Christ (zum ERSTENMAL in meinem Leben!).

Doch das Wichtigste, das ich auf meinem Pfad gelernt habe, ist, daß das, was ich glaube, wichtig für mich ist, doch daß das wichtig für DICH ist, was DU glaubst und erfährst. Ich habe nicht das geringste Recht, meinen Glauben anderen aufzuzwingen zu versuchen. Und sicherlich habe ich keinen Freibrief vom Schöpfer, andere zu verurteilen, sollten ihre innersten Überzeugungen andere sein als meine.

Schließlich möchte ich noch Raymond Franz und Joseph Malik für ihre Beiträge zu meinem Leben danken. Ich fühle in diesen beiden Männern eine tiefe Hingabe an Gott, Demut, Mut und Würde. Diese beiden Männer scheinen keinen Groll gegen andere zu hegen, die sie viele Jahrzehnte ihres Lebens getäuscht hatten. Ich empfinde dasselbe gegenüber allen, die den Mut und den Anstand hatten, aus dieser destruktiven Sekte namens Zeugen Jehovas zu fliehen. Frieden und Zufriedenheit euch allen.

Doug Checketts

Nachwort

Wenn du nicht zu den Zeugen Jehovas gehörst, aber mit dem Gedanken spielst, einer zu werden, dann sei dir dessen bewußt, daß meine Geschichte wirklich kein Einzelfall ist. Meine Erfahrungen als Zeuge sind viel eher die "Norm", als du vielleicht glauben möchtest. Du wirst solche Geschichten allerdings kaum von tätigen Zeugen zu hören bekommen. Sie sind nicht unehrlich. Sie haben vielmehr ANGST, was mit ihnen geschehen könnte, wenn sie die Stimme erheben und die Wahrheit sagen würden. Lies, wenn du magst, auch andere Geschichten. Mache deine eigenen Entdeckungen. Wir erfinden so etwas nicht. Es hat sich ereignet. Unsere Geschichten und Erfahrungen haben zu viel gemeinsam, und wir arbeiten in keinem Fall in irgendeiner Art von "Verschwörung" gegen die Gesellschaft zusammen.

Wenn du ein Zeuge Jehovas bist und mit dem Gedanken spielst, zu gehen, dann schöpfe Mut. Wenn du dich wirklich entschließt, zu gehen, wirst du finden, daß es außerhalb der WachtturmMauern eine Bruderschaft wunderbarer Menschen gibt, die dich stützen und trösten. Es mag nicht leicht für dich sein, die Zeugen zu verlassen, aber es ist möglich. Ich habe kein einziges Mal zurückgeblickt.

Jehova liebt dich bedingungslos, und Jehova vernichtet dich niemals, weil du aufrichtig Antworten auf Dinge suchst, die dich vielleicht verwirren und in einem Leben unglücklich machen. Vertraue auf Ihn, nicht auf eine fehlerhafte und von Menschen gemachte Organisation. Blick zu Ihm nach Antworten auf. Dann kannst du mit Seiner Hilfe Entscheidungen treffen.