>Debatte - Ein Musterprozess zum Körperschaftsstatus der Kirchen in Deutschland
Von Gerhard Besier

In seinem neuesten Jahresbericht zur Religionsfreiheit in der Welt vom 5. September 2000 kommt das US-Außenministerium zu dem Ergebnis, dass auch in Europa die Religionsfreiheit verletzt werde.

Im Blick auf Deutschland vermerkt der Bericht kritisch, dass den Zeugen Jehovas (ZJ) der von ihnen beantragte Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts seit Jahren verweigert werde. Über diese Frage fand am 20. September die mündliche Verhandlung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) unter Vorsitz von Jutta Limbach statt. Der Fall ist für das deutsche Staatskirchenrecht von exemplarischer Bedeutung. Die in Deutschland 192 000 Mitglieder umfassende Religionsgemeinschaft hatte das oberste Gericht angerufen, weil das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) 1997 die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin (OVG) von 1995 wieder aufgehoben hatte. Das OVG hatte das Land Berlin verpflichtet, den ZJ den Körperschaftsstatus zu verleihen.

Die im Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik enthaltenen Regelungen über die Rechtsstellung der Religionsgemeinschaften (Art. 140 GG) waren schon Bestandteil der Weimarer Reichsverfassung von 1919. Danach können neben den beiden großen Volkskirchen auch andere Religionsgesellschaften den Körperschaftsstatus verliehen bekommen. Mit der Verleihung erhalten sie spezifisch öffentlich-rechtliche Befugnisse, die ansonsten nur dem Staat zustehen. Dazu gehören das Recht, von den Mitgliedern der Religionsgemeinschaft Steuern zu erheben, eigenes Recht zu setzen, die Befugnis zur Bildung weiterer Untergliederungen mit öffentlich-rechtlichem Status wie zum Beispiel Anstalten und Stiftungen, die Begründung eines Dienstverhältnisses mit öffentlich-rechtlicher Natur und viele weitere Einzelbegünstigungen - so zum Beispiel die Entsendung von Mitgliedern in die Kontrollgremien von Rundfunk und Fernsehen. Es steht kaum zu erwarten, dass die ZJ alle diese Privilegien auch in Anspruch nehmen würden. Wie viele andere kleine Religionsgemeinschaften im Besitz des Körperschaftsstatus würden wohl auch sie aus Glaubensgründen darauf verzichten, Kirchensteuern zu erheben und Kirchenbeamtenverhältnisse zu begründen.

Dem Wortlaut des GG nach ist es nicht schwer, den Körperschaftsstatus zu erlangen. Danach muss eine Religionsgesellschaft nur "durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten". Es gibt heute mehr als zwei Dutzend solcher "anerkannten Religionsgemeinschaften". Inzwischen aber möchte der Staat einerseits bei der Verleihung des Körperschaftsstatus zurückhaltender verfahren. Andererseits gibt es die Tendenz, das Privilegienbündel für jene Religionsgemeinschaften, die den Körperschaftsstatus bereits besitzen, noch zu erweitern. In diesem Zusammenhang sprach der Frankfurter Staatsrechtslehrer Hermann Weber in seiner Funktion als Anwalt der ZJ von der Gefahr, "eine Art kleiner Staatskirchen" herauszubilden. Denn über das Kriterium der bloßen "Rechtstreue" hinaus sollen die privilegierten Körperschaftskirchen eine besondere Staatsloyalität an den Tag legen. "Staatstreu" sind die ZJ auch. Denn sie beachten peinlich die geltenden Gesetze und akzeptieren die gewählten demokratischen Regierungen als ihre Obrigkeit. Aber sie "kooperieren" nicht in dem Sinne mit dem Staat, dass sie etwa an den Wahlen teilnehmen oder sonst aktiv an der Gestaltung der Demokratie partizipieren würden. Dies zu verlangen, so Weber, wäre eine Neuinterpretation des Körperschaftsstatus. Dieser begründe keine besondere "Nähe zum Staat", sondern sei Ausdruck staatlicher Grundrechtsvorsorge. Das heißt, mit der Verleihung des Körperschaftsstatus gibt der Staat den Religionsgemeinschaften eine spezifische Rechtsgestalt. Das bürgerliche Vereinsrecht mit seinen demokratischen Strukturen bietet keinen angemessenen Rahmen für hierarchisch aufgebaute Religionsgemeinschaften. Mit solchen Bedingungen käme auch die römisch-katholische Kirche schlecht zurecht. Dass Religionsgesellschaften auch staatskritisch sein und einen Gewissensvorbehalt geltend machen können, ist selbst bei den großen Volkskirchen nicht unbekannt, wie die Diskussion um das so genannte Kirchenasyl zeigt. Umgekehrt können die ZJ auf eine breite Verfolgungswiderstandsgeschichte unter beiden deutschen Diktaturen verweisen. Von den beiden Amtskirchen lässt sich das nur in sehr eingeschränktem Maße sagen.

Sollte das BVerfG zu Gunsten des Anliegens der ZJ entscheiden, würde es den Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche in Verbindung mit dem Grundsatz der Religionsfreiheit stark machen. Folgte es dagegen den Bedenken des OVG Berlin, dann würde der Grundsatz einer Gleichbehandlung von Religionsgesellschaften durch den Staat erheblich relativiert. Bleibt es bei dem Urteil des BVerwG, dann droht den ZJ sogar die Aberkennung der Gemeinnützigkeit, wie das Bundesfinanzministerium hat verlauten lassen.

Wie immer das BVerfG im kommenden Winter entscheiden wird, die Rückwirkungen dürften erheblich sein. Denn das Urteil wird nicht nur das religiöse Klima in Deutschland beeinflussen, sondern auch Konsequenzen für die Religionspolitik im vereinigten Europa und für dessen Beziehungen zu den USA haben. Die Amerikaner können nicht verstehen, dass die Europäer in ihren Verfassungen zwar das Grundrecht der Religionsfreiheit proklamieren, in der Praxis aber anders verfahren. Quelle: DIE WELT vom 28.09.2000