Kreisbote sprach mit zwei Aussteigern - Selbsthilfegruppe ehemaliger Zeugen Jehovas gegründet

Kaufbeuren/Ostallgäu - Angefangen hat alles mit der Wanderausstellung "Standhaft" der Zeugen Jehovas in Kaufbeuren.

Als sich daraufhin die Selbsthilfegruppe Sektenausstieg Allgäu" gründete, die bald darauf gut informiert an die Öffentlichkeit trat, begann der "Stein des Anstoßes" zu rollen. Der Kreisbote sprach mit zwei ehemaligen Zeugen Jehovas, zwei "Abtrünnigen", wie sie von den in der Sekte verbliebenen Anhängern genannt werden. Dass dabei auch körperliche Züchtigung von Kindern, Missbrauch und Vergewaltigung zum Thema wurden, können Sie hier nachlesen.

Ein Blick hinter den "Wachtturm"

Kreisboten-Gespräch mit ehemaligen Zeugen Jehovas zur Situation im gesamten Allgäu

Von Bertram Maria Keller

KAUFBEUREN - Sie stehen meist stumm an der Ecke und halten eine Zeitschrift hoch. Manchmal klopfen sie auch bei Ihnen an der Haustür. Sie wollen mit ihnen reden. Mit Ihnen diskutieren. Sie geben Ihnen den "Wachtturm" und kommen bald wieder. "Sie" sind von den Zeugen Jehovas, oder, wie sic sich selbst - weil es freundlicher klingt - nennen: Jehovas Zeugen. Die meisten halten sie für harmlos, doch angeblich trügt der Schein. "Sie sind eine streng durchorganisierte Sekte", so die Selbsthilfegruppe "Sektenausstieg Allgäu", die Kaufbeurens Oberbürgermeister Andreas Knie und einige Stadträte dazu bewegte, in letzter Minute die Zusage zu einer Veranstaltung der Zeugen Jehovas wieder zurückzuziehen. Die Selbsthilfegruppe ehemaliger Zeugen Jehovas, die gestern erstmals mit dem Vortrag "Ein Blick hinter die Mauern des Wachtturms" an die Öffentlichkeit trat, will nun die Bevölkerung aufklären. Der Kreisbote sprach mit zwei Sektenaussteigern, die dadurch große Teile ihrer Familie verloren.

"Standhaft trotz Verfolgung - Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime" hieß die Wanderausstellung Anfang Dezember, mit der die Zeugen Jehovas in Kaufbeuren Gesprächsstoff lieferten. OB Knie, der mit einem Grußwort auf dem bereits gedruckten und verteilten Programm stand, zog seine Zusage zu der Veranstaltung spontan zurück, als er Details zum Sektenaufbau von der Selbsthilfegruppe ehemaliger Zeugen Jehovas erfuhr.

"Dass etwa 1.200 Zeugen Jehovas im Dritten Reich unter grausamen Umständen ihr Leben verloren, ist eine historische Tatsache. Genauso wie es eine Tatsache ist, dass es ihre geistigen Führer mit der Neutralität deutlich weniger ernst nahmen und 1933 an den "sehr verehrten Herrn Reichskanzler", Adolf Hitler schon kurz nach seiner Machtübernahme per Brief in bester NS-Terminologie wissen ließen, sie wären "seit jeher in hervorragendem Maße deutschfreundlich", so die Selbsthilfegruppe: "Bezeichnend auch, daß die Wachtturm-Gesellschaft erst 55 Jahre nach den Ereignissen einen großen Werbefeldzug durch Deutschland macht. Was ist die Absicht? Die Zeugen Jehovas kämpfen mit aller Macht vor Gericht um die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts." Diese wurde ihnen bisher verweigert. So soll das Verbot der Teilnahme an Wahlen und von Bluttransfusionen neu geregelt werden, ist jedoch laut Insidern "mit dem Gewissen eines Zeugen Jehovas nicht zu vereinbaren".

Wer die Zeugen Jehovas noch immer für harmlos hält, sollte sich der Tatsache nicht verschließen, dass sie sich laut Sektenausstieg Allgäu "durch eine Anwältin der umstrittenen Scientology-Sekte in Moskau vertreten ließen. Bemerkenswert ist auch, dass diese Anwältin bereits 1955 die berüchtigte japanische Giftgas-Sekte auch vor Gericht vertrat." Die Zeugen Jehovas sind nach Ansicht des Sektenbeauftragten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Kurt-Helmuth Eimuth, "eine verfassungsfeindliche Organisation." So sieht es auch die jüngst gegründete Selbsthilfegruppe "Sektenausstieg Allgäu", die die aktiven Mitglieder der Zeugen Jehovas in Kaufbeuren auf rund 150 Personen schätzt.

"Unsere Selbsthilfegruppe Sektenausstieg Allgäu ist ein Angebot für alle Menschen, die den Schritt aus der Sekte wagen wollen oder einer solchen bereits den Rücken gekehrt haben", so Initiator Robert Schlittenbauer im Gespräch mit dem Kreisboten. Schlittenbauer war auch Veranstalter des gestrigen Vortrags "Ein Blick hinter die Mauern des Wachtturms", de bei den Kaufbeurern und Ostallgäuern sehr viel Interesse weckte. Als Gastredner konnte der Leiter, Gründer und Webmaster im Internet des Netzwerkes ehemaliger Zeugen Jehovas in Deutschland, Stephan Wolf, gewonnen werden. Wolf, der selbst 25 Jahre bei den Zeugen Jehovas war, beschäftigt sich sehr intensiv mit dem Thema. Sein fundiertes Wissen macht es möglich, einen Blick in den Weltkonzern und das Machtgefüge dieser Organisation zu werfen. "Während die einfachen Mitglieder und die Öffentlichkeit eher davon ausgehen, dass es sich bei dieser Sekte um eine harmlose Organisation handelt, ist es Wolf gelungen, die wahren Absichten der aus den USA operierenden Organisation herauszufinden", so Schlittenbauer.

"So war in der Öffentlichkeit lange nicht bekannt, dass die Zeugen Jehovas mit Scientology und der Moon-Sekte zusammenarbeiten. Ebenfalls gänzlich ungekannt ist, dass Züchtigung (Prügel) an Kindern erlaubt ist und sogar gefördert wird. Kein Wort darüber, dass diese Züchtigung bis hin zur schwersten Misshandlung führt". Über unglaubliche Taten, unter anderem über sexuellen Missbrauch an Kindern, berichtete uns vor Ort Wolfgang Mittner - ehemaliger Zeuge Jehovas, der durch die Familie mit 11 Jahren in die Sekte "hineinrutschte" und nun ausstieg. Von seiner Frau hat er sich getrennt. Sie blieb bei den Zeugen. Auch der Selbsthilfegruppe Sektenausstieg Allgäu liegen zu den Misshandlungen und Vergewaltigungen zahlreicher ehemaliger Mitarbeiter erschütternde Briefe und Berichte vor. Mittners Tante, Emmy Kriegsch, die selbst 26 Jahre Sektenmitglied war, kann nicht mehr. In der Kaufbeurer Kreisboten-Redaktion bricht sie zusammen, hält sich die Hände vors Gesicht und weint. "Ich habe die Familie auf dem Gewissen", schluchzt sie: "meinen eigenen Sohn zum Zeugen Jehovas gemacht." Ihr Bruder, Erich Kriegsch, ist einer der "Ältesten" bei den zeugen in Kaufbeuren.

"Abtrünnige" wie Emmy Kriegsch und Wolfgang Mittner sind nichts mehr wert in den Augen ihrer ehemaligen Freunde und Weggenossen. "Das autoritäre, angsteinflößende Erziehungskonzept dieser Sekte ist eine Form von psychischer Kindesmisshandlung", so der Sektenbeauftragte bei einer Anhörung der CSU in München zum Thema "Die besondere Situation von Kindern in Sekten". Die Familie wendet sich von den Aussteigern ab, da alle noch bei den Zeugen sind. "Ich durfte mit meinen Enkeln nicht mal Weihnachten feiern und mein Sohn spricht kaum mehr mit mir..." schluchzt Emmy Kriegsch und bricht wieder in Tränen aus.

Kreisbote (Wochenzeitung für Kaufbeuren, Marktoberdorf, Buchloe, Bad Wörishofen) vom 12.01.2000