"Das Bethel ist einer der allerbesten Orte, wo wir uns heute aufhalten können", sagt die Haus- und Arbeitsordnung der Deutschland-Zentrale der Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft.

Jeder Zeuge Jehovas, der sich zur mehr oder weniger kostenlosen Arbeit "im Bethel"  entschlossen hat, erhält diese Broschüre, die den obigen Titel trägt. Unter welchen Bedingungen die Menschen dort arbeiten müssen, dürfte allerdings so manchen überzeugten Zeugen Jehovas zum Nachdenken bringen.

Zuckersüß liest sich die erste Seite der 32-seitigen Broschüre, in der dem Neuankömmling im "Bethel" genau erklärt wird, wie er mit denjenigen zusammenwohnen und -arbeiten soll, die

deine geistigen Brüder und Schwestern oder deine geistigen Väter und Mütter sind.

Dabei bleibt offen, wer eigentlich mit wem in welchem Verwandschaftsverhältnis steht. Aber eines wird versprochen:

Sie lieben dich sehr, denn du hast dich bereit erklärt, hierherzukommen und mit ihnen zu arbeiten, und sie möchten alles tun, was in ihren Kräften steht, damit du dich hier zu Hause fühlst und dich an das Bethelleben gewöhnst.

Nach diesen in gängigem Wachtturm-Jargon verfassten Zeilen, die mit den üblichen Bibelzitaten versehen sind, kommt eine Formulierung, die es in sich hat:

Da du das feierliche Gelübde abgelegt hast, als Glied der Bethelfamilie ein Angehöriger der ordensähnlichen Gemeinschaft der Sondervollzeitdiener zu werden, konntest du im Bethel aufgenommen werden. Als Glied der Bethelfamilie stehst du unter einem Gelübde des Verzichts auf jegliche Erwerbstätigkeit.

Vermutlich ahnt der Leser an dieser Stelle noch gar nicht den formaljuristischen Hintergrund, der sich hinter dieser Formulierung verbirgt. Ein Orden kennt keine Arbeitgeber und keine Arbeitnehmer. Folglich lassen sich auch keine Ansprüche aus irgendeinem Arbeitsverhältnis ableiten, genauso wenig wie Kranken- und Rentenversicherungsbeiträge anfallen.

Nach einer recht unverbindlichen Beschreibung von Gottes "sichtbarer theokratischer Organisation" (so die Selbsteinschätzung der Wachtturm-Gesellschaft) geht es auf Seite 8 endlich zur Sache. "Ernannte Aufseher teilen Bethelmitarbeitern ihre Arbeit zu" lautet die knappe Aussage zum Thema Arbeitsplätze und Zeitpläne. Deutlicher kann man das zu erwartende Betriebsklima eigentlich kaum beschreiben. Die dann folgenden Sätze sprechen eigentlich für sich selbst:

Die Aufseher haben in ihrer Arbeit Erfahrung. Sie können dich unterweisen, wenn du zum Lernen bereit bist. Du wirst feststellen, daß du die größte Befriedigung verspürst, wenn du demütig deine Arbeit gemäß den Anweisungen ausführst. Sei bei deiner Arbeit fleißig und freue dich über das Vorrecht, ein Glied der geeinten Bethelfamilie zu sein. Wenn du hinsichtlich deiner Vorrechte lässig und gleichgültig bist, wird dir ein Ältester freundlich Rat erteilen. Tut er das, dann höre ihm zu und nimm notwendige Änderungen vor.

Ob wohl der eine oder andere Bethelneuling beim Lesen dieser Zeilen gemerkt hat, mit welcher Geringschätzigkeit man ihm hier begegnet? Das ist das Vokabular autoritärer Väter vergangener Generationen. So spricht man noch nicht einmal zu einem unmündigen Kind, geschweige denn zu einem erwachsenen Menschen.

Was die Arbeitszeit angeht, ist vor allem eines klar: Es wird 8 Stunden am Tag gearbeitet. Dazu noch vier Stunden am Samstag. Dabei wird auf der einen Seite

erwartet, daß du pünktlich deine Arbeit beginnst und nicht vor Arbeitsschluß deinen Platz verläßt.

Auf der anderen Seite kann es jedoch

erforderlich sein, daß du außerhalb der normalen Arbeitszeit zusätzliche Verpflichtungen übernehmen mußt.

Die Pflichten sind also ganz klar auf der einen und die Rechte auf der anderen Seite. Und so lassen Menschen mit sich umspringen, die ihre Arbeitskraft aus christlicher Überzeugung und ohne eine nennenswerte Bezahlung zur Verfügung stellen.

Die Urlaubsregelungen würden bestimmt jeden Arbeitgeber erfreuen, der wehmütig an die Zeiten des Frühkapitalismus zurückdenkt:

Allen Bethelmitarbeitern wird für jeden vollen Dienstmonat ein Urlaubstag zugebilligt.

Das ergibt nach dem kleinen Einmaleins einen Jahresurlaub von ganzen 12 Tagen. Und das bei einer 45-Stunden-Woche. Doch selbst diese zwölf Tage erhält man erst

wenn man sie verdient hat (das ist wirklich ein Zitat).

Allerdings sind auch in der Theokratie nicht alle Menschen gleich. Nach Vollendung von zwei Dienstjahren hat man Anspruch auf einen weiteren Urlaubstag. Danach gibt es für jeweils zwei weitere Dienstjahre erneut einen weiteren Tag Urlaub. Das heißt, wer volle 24 Jahre für ein Taschengeld im Dienste des Wachtturms geschuftet hat, kann sich endlich auf den Urlaubsanspruch freuen, der in der bösen, materialistischen Welt des Satans jedem einfachen Tarifangestellten zusteht.

Missionare im Auslandseinsatz erhalten übrigens 2 Wochen Zusatzurlaub pro Jahr. Wofür? Damit sie

ab und zu in der Lage sind, auf eigene Kosten ihr Heimatland zu besuchen.

Nur wer die Bezahlung der Bethel-Mitarbeiter im Ausland kennt und weiß, wieviel in diesen Ländern ein Flugticket kostet, kann die Ironie dieser Worte voll erfassen.

Noch eine Kostprobe? Bitteschön:

Bist du ein Bruder, bekommst du jeden Monat einen Samstagvormittag frei.

Diese großzügige Geste erhöht sich mit Vollendung des 50. Lebensjahrs auf zwei Samstage, mit 60 sind es sogar drei und

Brüder im Alter von 70 Jahren und darüber dürfen an allen Samstagen vormittags frei nehmen.

Jetzt wird auch klar, warum sich die Wachtturm-Gesellschaft weigert, für ihre Mitarbeiter Rentenzahlungen zu leisten. Man geht offensichtlich ganz einfach davon aus, daß jeder bis zu seinem letzten Atemzug in der "ordensähnlichen Gemeinschaft" bleibt, um sich das begehrte Vorrecht auf vier freie Samstage im Monat zu erwerben.

Die geistigen "Väter und Mütter" haben natürlich auch ein Herz für besondere Notfälle. Schließlich gehören sie zu den einzig wahren Christen auf Erden und wissen besser als alle anderen, was Nächstenliebe ist. In der Bethel-Hausordnung liest sich das wie folgt:

Unter Berücksichtigung jedes einzelnen Falles wird entschieden, ob der Bethemitarbeiter frei bekommt, oder ob ihm vorgeschlagen werden sollte, den Betheldienst zu beenden.

Mit anderen Worten: Wer nicht mehr mit voller Energie für die Wachtturm AG powern kann, sollte besser gleich den Hut nehmen.

Wie beinhart die Wachtturm-Gesellschaft hinter ihrer christlichen Fassade ist, zeigen auch die folgenden Zitate, die eigenlich keines Kommentars bedürfen:

Brüder, die eine Bewerbung ausfüllen, werden unter der Voraussetzung angenommen, daß sie kräftig und gesund sind und kein ernsthaftes Gebrechen haben. Wenn du ein gesundheitliches Problem hattest, bevor du ins Bethel kamst, und vielleicht eine Operation oder eine längere Behandlung notwendig ist, dann ist die Gesellschaft nicht verpflichtet, sich dieses Problems anzunehmen. Du hättest dies erledigen müssen, bevor du die Einladung, ins Bethel zu kommen, annahmst. Solltest du nach deiner Ankunft im Bethel chronisch krank werden und nicht in der Lage sein, den Zeitplan und die Arbeitsroutine im Bethel einzuhalten, dann wäre es für dich besser, nach Hause zurückzukehren, wo du eher etwas für deine Gesundheit tun kannst.

Spätestens nach diesen Sätzen sollte dem Leser eigentlich klar werden, daß er hier nicht als Mitmensch, als geistiger Bruder, als Christ unter Christen angesehen wird, sondern einzig und allein seine Arbeitskraft gefragt ist, die es bei einem Minimum an Kosten maximal auszubeuten gilt. Aber Menschen mit eigenem Denkvermögen sind in der Zentrale der Wachtturm-Gesellschaft sowieso nicht gefragt, denn "die Ältesten werden jedem Glied der Bethelfamilie, das ständig Schwierigkeiten bereitet oder eine unabhängige Einstellung verrät... notwendigen Rat und Zurechtweisung erteilen." Menschen, die derartige Äußerungen schlucken, werden vermutlich auch bei den folgenden Frechheiten nicht stutzig:

Wo es in den Gebäuden der Gesellschaft Fahrstühle gibt, dürfen Personen, die mehr als drei Etagen hinauf- oder mehr als sechs hinuntergehen müssen, den Fahrstuhl benutzen. Achte darauf, daß du den Wasserhahn richtig zudrehst. Dadurch, daß du achtsam bist, kannst du auf vielerlei Weise sparen helfen. Wird es im Raum kühl, dann kannst du, um Heizungsenergie zu sparen, eine Strickjacke oder etwas anderes anziehen.

So wenig der Einzelne im Bethel zählt, so besorgt zeigt man sich darüber, daß die ohnehin nicht üppige Freizeit mit sinnvollen Beschäftigungen ausgefüllt wird. Zum Beispiel am vorher erwähnten freien Samstagvormittag, der

dir nach Belieben zur Verfügung steht, beispielsweise für vermehrte Zusammenarbeit mit der Versammlung.

Außerdem wird der Leser ermahnt, ausgeglichen zu sein, denn

zum Beispiel besteht die Gefahr, daß unser Betheldienst leidet, wenn wir mit anderen zuviel gesellig beisammen sind.

Auch sollte nicht zuviel Sport getrieben werden, denn

manchmal werden mehr Brüder bei sportlichen Betätigungen verletzt, als bei der Arbeit.

Daß die Wachtturm-Gesellschaft in ihren Mitgliedern nicht viel mehr als kleine Kinder sieht, die ohne strenge Aufsicht nicht zu verantwortungsbewußtem Handeln fähig sind, wird in folgender Anweisung deutlich:

Es ist erforderlich, daß du die Zimmertür weit offen läßt, wenn du mit jemand vom anderen Geschlecht allein bist, es sei denn, es handelt sich dabei um deinen Ehepartner, deinen leiblichen Bruder, deine leibliche Schwester oder einen anderen nahen Verwandten.

Vermutlich ist es den Schreibern dieser Broschüre entgangen, daß die "Gefahr" in den Niederlassungen der Wachtturm-Gesellschaft nicht notwendigerweise nur vom anderen Geschlecht ausgeht...

Man sollte meinen, daß es für einen mündigen Menschen Dinge gibt, die er sich von niemanden vorschreiben läßt. Nicht so für Bethel-Mitarbeiter. Da gibt es doch in der Broschüre "In Einheit beisammen wohnen" allen Ernstes eine Rubrik "Heirat". Und dort heißt es:

Normalerweise wird eine ledige Person, die ins Bethel gerufen worden ist, nicht vor Beendigung ihres ersten Dienstjahrs heiraten.

Es bleibt zwar im Nebel, was daran "normal" sein soll, aber es wird klar gesagt, daß man zum Heiraten eine Erlaubnis braucht. Zumindest, wenn man seinen unterbezahlten Arbeitsplatz behalten möchte:

Er sollte sich jedoch im klaren sein, daß er bzw. sie nach einem Jahr noch verhältnismäßig neu ist und der Antrag, zu heiraten und mit dem Ehepartner den Betheldienst fortzusetzen, wahrscheinlich abgelehnt wird. In jedem Fall wird das Personalkomitee entscheiden, ob jemand, der heiraten möchte und sich darum beworben hat, den Betheldienst fortzusetzen, die Erlaubnis dazu erhält.

Unter diesen Voraussetzungen ist es geradezu verwunderlich, daß Ehepartner im Bethel die Tür hinter sich zumachen dürfen, wenn sie ins Bett gehen.

Bethel-Mitarbeiter genießen unter den Zeugen Jehovas ein hohes Ansehen. Vermutlich wäre das anders, wenn die große Masse der "einfachen Verkündiger" wüßte, daß es sich dabei um Menschen handelt, die bereit sind, ohne Sozialversicherung, ohne Krankenversicherung, bei minimalem Urlaubsanspruch bis zu 45 Stunden pro Woche zu arbeiten und sich noch dazu Vorschriften bis ins Privatleben hinein machen zu lassen. Aber dazu besteht kaum Gefahr, denn die Bethel-Mitarbeiter werden aufgefordert, die Broschüre "In Einheit beisammen wohnen" bei Beendigung des Betheldienstes wieder abzuliefern.