Wahrscheinlich waren es nicht ganz 180 Tage. Es ist aber trotzdem so etwas wie eine Weltreise, oder wie wenn man die Erde ohne Ziel und mit ungewissen Aussichten verlässt.
Als ich 3 Jahre alt war, wurden meine Eltern Zeugen Jehovas. Wir waren drei Jungs. Einer war ein Jahr älter, der andere 3 Jahre jünger. Meine Eltern trafen sich als Gastarbeiter in Deutschland, und heirateten. Wir wuchsen wie typische Zeugen Jehovas Kinder auf: Es wurde auf uns geachtet, es wurden uns Vorschriften gemacht, und wir verstanden das nicht so recht, und stellten unsere Streiche an.
Ich begann mit 6 Jahren die Bibel zu lesen, hauptsächlich die erbauenden Geschichtsbücher, mit den lehrreichen Berichten über Könige, Morde, Ehebrüche und Verstümmelungen. Glücklicherweise war das nicht meine einzige Lektüre. Ich holte mir aus der Stadtbücherei auch gerne Bücher über Davy Crocket. Später welche von Jules Verne.
Als ich 10 Jahre alt war, wurde ich endlich von meinen Eltern für eine Operation freigegeben. Ich lief bis dahin mit schiefem Kopf herum, da ein Halsnerv kürzer war. Ich war anders als meine Schulkameraden. Nicht nur des Kopfes wegen. Ich machte bei keinen außerschulischen Aktivitäten mit, und hatte nicht gelernt, Takt zu haben, und den Glauben anderer nicht laut falsch zu finden.
Die kleine Operation hatten meine Eltern in der Hoffnung auf das Ende der Welt und die Ankunft des Schlaraffenlandes hinausgezögert. Sofort nach der Operation verließen wir Deutschland, im November 1975. Mein Vater wollte das Paradies von seiner Heimat Sizilien aus erblicken. Weshalb ich bei soviel Glauben doch kurz vor Harmagedon ins Krankenhaus geschickt wurde, verstehe ich leider nicht. Ich bin aber für den Fehltritt sehr dankbar.
In Sizilien waren die schlechten Gesellschaften sicher nicht minder schlecht als in Deutschland, aber aus unerklärlichen Gründen war es für mich dort einfacher, die Welt in Schwarz und Weiß einzuteilen. Mein älterer Bruder nahm eine Nachtarbeit als Bäckerlehrling an, und begann sein eigenes Leben zu führen, und ich hatte ab 14 keinen Freund mehr, und konnte mich Büchern, Schule und Gott widmen.
Mit 16 sah man mich bereits als künftigen Dienstamtgehilfen. Mein Vater war bis zu meinem 15 Lebensjahr Ältester. Er gab sein Amt wegen einer Dummheit meines kleineren Bruders (Diebstahl) freiwillig zurück. Somit verlor ich die Chance, Dienstamtgehilfe zu werden, denn wie ich bald bemerkte, war mit Theokratie nichts anderes gemeint, als die Politik des kleinen Mannes, um vor eine kleine Gruppe noch ärmlicher Leute zu stehen, und aus Blättchen allen schlecht vorzulesen. Ich konnte etwas flüssiger lesen, hatte dafür aber keinen Gönner mehr.
Obiges ist natürlich ironisch. Ich war ein schüchterner Junge, sehr bescheiden, genierte mich für fast alles, und wollte um keinen Preis erhoben werden. Ab 15 schaute ich heimlich in die Pornos meines Bruders rein, und fand mich dafür unheimlich schlecht (obwohl ich bis fast 20 keine Selbstbefriedigung trieb).
Ich war in eine etwas ältere Zeugin heimlich verliebt, ohne bis zum 22sten Lebensjahr an eine andere zu denken. Das bewahrte mich vor jeglichem Kontakt mit Frauen, und ich sprach recht wenig mit dem weiblichen Geschlecht.
Mit 20 verließ ich meine Familie, um nach Deutschland zurückzukehren. Ich hatte während meiner zehn Jahre im sizilianischen Exil jedes Jahr für 2 bis 4 Monate im Sommer in Deutschland meine Pflegeeltern besucht, und zog nun zur Pflegemutter, deren Ehemann kurz zuvor verstorben war.
Ich war bestimmt kein lustiger Emigrant. Wäre ich nicht Zeuge Jehovas gewesen, hätte ich Selbstmord begangen. Aber ich war von der Wahrheit felsenfest überzeugt, und beschäftigte mich auch sehr eifrig damit, obwohl die Literatur qualitativ nicht hochwertig genannt werden kann. Mir blieb neben Arbeit und Weiterbildung viel Zeit für das Lesen anderer Schriften übrig. Anfangs war es Belletristik (Kafka, Canetti, etc.), oder trübe Poesie (Trakl, Benn, Leopardi), später Geschichte. Mein Interesse an Mädchen war minimal. Kurz eine Phase im 23sten Lebensjahr, dann erst wieder im 28sten.
Ich besuchte die deutschen Zusammenkünfte, um nicht in Gesellschaft der ungebildeten Italiener mit ihren Ghettoattitüden verkehren zu müssen.
Auch hier wurde ich als sehr anständig und ernst angesehen, ich hatte nur Freunde, die rund 10 Jahre älter waren, ich war der einzige, der nie in Discos ging, und war trotzdem zu komisch, um für ein Dienstamt in Frage zu kommen. Und zeigte indirekt, dass ich keines wollte (denn ich fühlte mich ungeeignet und sündig).
Mir fiel natürlich auf, dass gleichaltrige Glaubensbrüder und Schwestern ihr Leben als Zeugen lockerer und relativer sahen, aber mir schien der Wachtturm etwas strenger zu sein, und mir fiel es nicht schwer, mein Leben asketisch zu führen. Mit 24 nahm ich eine Arbeit an, durch die ich sehr viel reisen musste, und viel im Ausland war. Somit verstärkte sich mein Empfinden, für Gott nicht genug zu tun. Ich hatte mehrmals den Wunsch, alles hinzuwerfen, und ins Kloster nach Selters zu ziehen. Ein richtiges Kloster wäre aber wahrscheinlich noch besser gewesen.
Im Laufe der Jahre hatte ich meine brooklynsche Theologie gut ausgebildet und verfeinert, und mir machte der Proselitismus Spaß. Es gefiel mir nach vielen Jahren schlechten Gefühls, Leute anzusprechen und zu versuchen, sie zu verstehen und ihnen den Hinweis zurückzulassen, dass sie eventuell etwas sehr Wichtiges außer acht ließen.
Und genau zu diesem Zeitpunkt begann ich zu bemerken, dass nicht nur die Glaubensbrüder vieles übertrieben verstanden, sondern auch das Sprachrohr Gottes. Es begann mit kleinen Sachen, die mich nicht besonders störten, und die ich auch nicht wichtig nahm.
Was mich aber störte war, dass der liebevolle Hirte in der Zentrale manchmal sehr wenig von den inneren Problemen der kleinen Messegänger verstand, und mit dem Knüppel loslegte. Mir fiel auf, dass niemand in der Lage war, mit leichten Geistesstörungen umzugehen, und dass die Direktive trotzdem war, ärztliche Hilfe nicht in Anspruch zu nehmen. Da sich ein neurotischer Freund aus der Gemeinde das Leben genommen hatte, musste ich mir eingestehen, dass meine Hilfsversuche nicht qualifiziert waren, sowenig wie die der Hirten, und dass wir alle zusammen schuldig waren, ihn von einem Fachmann ferngehalten zu haben.
Gleichzeitig begannen mir doktrinäre Unstimmigkeiten aufzufallen, und noch schlimmer, merkwürdige Sachen in der Bibel.
Ich zog für einige Monate nach Dublin, und zog mich dort sehr zurück. Ich verbrachte alle freie Zeit zum Nachdenken und Überprüfen. Und das Gute zerfloss und war nicht mehr festzuhalten. Mir wurde sehr schmerzhaft bewusst, dass die Bibel ein Buch ist, sonst nichts, und dass in ihr mit etwas Scharfsinn (und ohne die theokratische, blindmachende Brille der Zeugen Jehovas) leicht menschlicher Irrtum, Erfindung und sogar Fälschung zu entdecken ist. Die schlimmste Erkenntnis für mich war, aus der Bibel selbst zu bemerken, dass Jesus nicht prophetisch vorausgesagt wurde, und dass er selbst Irrtümern unterlag. Mir wurde klar, dass er nicht Sohn Gottes war, und ich kämpfte um die Frage, wie Gott denn anwesend ist, wenn er nicht einmal ein geschriebenes Wort hinterlassen hat, und es von und über ihn nichts Wahrhaftes gibt.
In Dublin begleitete diesen inneren Kampf ein selbst eingelegtes komplettes Fasten, mit dem ich fast im Wahn Gott eine Frist geben wollte, um mir die Wahrheit kenntlich zu machen. Nach 63 Tagen Fasten hatte ich das Gefühl, die Wahrheit begriffen zu haben. Ich stellte das Fasten ein (ich musste seit einer Woche Zucker schlucken, um nicht umzufallen). Meine Pflegemutter starb genau in dieser Zeit, und ich kehrte nach Deutschland zurück.
Es besuchten mich einige Glaubensbrüder und Freunde, mit einigen sprach ich über einige meiner Erkenntnisse, und ich begriff, dass bei ihnen ab einem bestimmten Punkt jedes Denken unerlaubt war. Ich besuchte noch wenige Male die Zusammenkünfte, war noch bei einem Kongress, bei dem ich einige Gedanken mit einem Ehepaar aus meiner Gemeinde austauschte. Dann tauchte ich in Südamerika unter.
Ich lud kurz vor Weihnachten die Mutter des Mädchens ein, das mir seit kurzem unerwidert gefallen hatte, um sie von ihren persönlichen Problemen abzulenken, und sie kam in Begleitung einer Glaubensschwester. Genau der Frau, mit deren Mann ich beim Kongress einige kritische Bemerkungen gemacht hatte. Wir hatten zwei Wochen Zeit, gelegentlich über Glauben und Bibel zu sprechen.
Als ich im Frühjahr wieder nach Deutschland kam, wurde ich von diesem Ehepaar beherbergt, und wir hatten sehr intensive Gespräche. Ich zeigte ihnen meine Briefe an die Wachtturm Gesellschaft, die nie beantwortet worden sind, und wir nahmen einige Sachen aus der Bibel auseinander. Erstaunlicherweise entschloss sich das Musterehepaar zum Ausstieg innerhalb von zwei Wochen (was mir unangenehm war), und verabschiedete sich offiziell nach einer Zusammenkunft.
Sie wurden regelwidrig nach einigen Monaten ausgeschlossen, bzw. es wurde ihr freiwilliger Austritt bekannt gegeben (sie hatten aber keinen verbalen oder schriftlichen Wunsch diesbezüglich an die Gemeinde geleitet). Mit mir wurde nach einigen Monaten dasselbe System verwendet, denn ich hatte auf einen abgedruckten Brief des Stadtaufsehers eine Erwiderung geschrieben, die ebenfalls gedruckt wurde. Somit war ich zum Satan übergelaufen.
Der Ausstieg aus der neuzeitlichen Arche Noahs war furchtbar. Ich hatte ständig Selbstmordwünsche, und reiste mit 60 Schlaftabletten herum. Mein Fasten hatte die Sehnsucht nach dem Tod eingeleitet. Mich mit der Nichtexistenz Gottes abzufinden, war sehr schwer. Als ich mit der Aufarbeitung zu Ende war, wurde mir bewusst, dass ich ein neues Leben begonnen hatte.
Ich war ein Bilderbuch Zeuge Jehovas. Bis weit über meinem Ausstieg hatte ich keine Frau angefasst oder geküsst. Ich war über dreißig, und nie in Discos gewesen.
Atheismus ist für mich derzeit die einzige Art, ehrlich zu sein.
Ich möchte keine Philosophie darüber machen, aber ich bin lieber ein optimistischer, lebensbejahender und sehr sozialer Atheist, als ein masochistischer, hochdeprimierter Gläubiger. In heiligen Schriften wird ein gewalttätiger und verständnisloser Gott dargestellt, den viele heutige Mitbürger moralisch in den Schatten stellen.
Außer dem genannten Paar sind zwei weitere ehemalige Glaubensbrüder nach vielen Gesprächen zur Gottlosigkeit übergegangen. Meine Eltern haben mit mir sehr lange nicht sprechen können, und haben sich geweigert, meine Gründe zu erfahren. Seit kurzem (seitdem ich geheiratet habe und vielleicht seitdem wir im Jahr Zweitausend sind) sind sie milder gestimmt.
Ich halte mich selten mit meinem früheren Glauben auf, obwohl ich nichts gegen Gespräche habe. Ich sehe jedoch bei gläubigen Menschen keine Bereitschaft, mit sich selbst ehrlich zu sein. Nennen wir es auch Angst.
Im Internet ist mir keine Website von ehemaligen Zeugen Jehovas bekannt, die Bibelkritik betreibt. Es geht nur darum, den winzigsten Anlass zu nutzen, um Spekulationen über Dogmenänderungen oder Verwicklungen aufzustellen. Ich habe den Eindruck, bei den meisten wirkt der größte Teil der Gehirnwäsche lebenslang, und sie haben keine Möglichkeit, das Positive der Zeitlichkeit und Vergänglichkeit schätzen zu lernen.
Oder, um es mit Eric Berne zu nennen, vielleicht geht es bei den meisten Menschen nicht ohne das eine Spiel, dass es unbedingt eine Schildkröte geben muss, auf die man die eigene Welt abstützen kann.