Liebe S.,
hier ist nun mein versprochener Brief an Dich. Ich wollte ihn einfach einmal schreiben, weil man mit diesem Mittel die Möglichkeit hat, seine Gedanken und Empfindungen in Ruhe auszudrücken, was uns im persönlichen Gespräch z.Zt. zunehmend schwer fällt.
Wir haben m.E. vor allem im religiösen Bereich, eine große Diskrepanz der Wahrnehmung, was bei uns zu einer gewissen geistigen Entfremdung geführt hat. Was mich hier mit Dir verbindet, ist der „christliche Glaube“ (wobei meiner viel freigeistiger ist), was uns trennt, ist vor allem die Wahrnehmung der „Organisation Gottes“.
Es gibt viele Merkmale des christlichen Glaubens, die mich nach wie vor tief berühren. Gute Lehrbeispiele aus der Bibel sind für mich die Geschichte vom barmherzigen Samariter, die Geschichte vom verlorenen Sohn , die Bergpredigt Jesu und viele eindeutig nachvollziehbare Wahrheiten und Weisheiten, wie „was immer ihr wollt, das euch die Menschen tun, das tut ihnen ebenso“ oder auch „dass man im eigenen Interesse, die Interessen der anderen im Auge behalten sollte“. Doch viele anderen Dinge sind eben nicht so klar und eindeutig und es macht durchaus Sinn, nachzuforschen, ob sich die Dinge wirklich so verhalten wie sie von den diversen religiösen Führern gelehrt werden. Die Bibel erfährt immer eine menschliche Interpretation und wo Menschen am Werke sind, haben wir es auch immer mit Irrtümern, Eitelkeiten und dümmlichen Machtansprüchen zu tun. Wir kommen einfach nicht umhin unseren eigenen Verstand einzuschalten und auch auf unsere innersten Empfindungen und Schwingungen zu hören. Nur so können wir ein eigenverantwortliches Leben führen; WIR sollten leben und UNS entfalten und nicht von anderen gelebt und für ihre Zwecke mißbraucht werden. Es ist mir durchaus bewußt, daß die Bibel (und die Versammlung) Werte vermitteln, die für uns Menschen für ein glückliches und gelungenes Leben absolut notwendig sind. Auch der Wert der christlichen Säulen – Glaube, LIEBE, Hoffnung – ist mir sehr bewußt. DIE LIEBE IST DAS HÖCHSTE IDEAL DES CHRISTENTUMS UND GLEICHZEITIG DAS HÖCHSTE IDEAL DAS MENSCHEN ANSTREBEN KÖNNEN. Das Etikett, das einer auf dem Revers trägt ist dabei ziemlich egal, solange er diesem Ideal entspricht. Dass dies nie vollkommen möglich ist, ist klar, aber es wird immer der Gradmesser sein, was ein Mensch ist oder auch nicht, jenseits aller Religiosität. Du kennst meine Lieblingsverse in Römer, Kapitel 2, die genau diese Gedanken zum Inhalt haben. Nicht irgendeine Organisationszugehörigkeit ist wichtig, sondern das Herz! Soweit zu meinem Fuß „innerhalb“ der Versammlung.
Was mich befremdet ist der Absolutheitsanspruch unserer Organisation und die völlige Unmöglichkeit des freien Austausches von Gedanken und Empfindungen. Kritik an der „Organisation“ ist immer zugleich auch Kritik an Gott (was es absolut NICHT ist) und es werden reihenweise Menschen zu Abtrünnigen erklärt, deren einzige Verfehlung es ist, nicht die gleiche Meinung zu vertreten, wie die „Organisation“, ja die es sogar wagen, diese öffentlich zu kritisieren. Ein Austausch von Gedanken und Argumenten findet nicht statt. Ich finde es auch befremdlich, dass immer so getan wird, daß ALLES was die Organisation zu irgend einem Zeitpunkt sagt oder schreibt, der unmittelbaren Ansicht Gottes entspricht. Kein Mensch und keine Organisation hat diesen Exklusivanspruch auf Gott! Wenn man die Geschichte der ZJ einmal unvoreingenommen prüft, so muß man feststellen, daß auch die einzige „Organisation Gottes“ schon viele Irrtümer verbreitet hat und dies durchaus zum Schaden ihrer Mitglieder. Du kannst in UNSERER LITERATUR nachlesen, dass ursprünglich die Zeit des Endes 1799 beginnen sollte, dass Christi Wiederkunft auf das Jahr 1874/1878 datiert wurde und dass für 1914 das irdische Paradies und nicht etwa Christi unsichtbare Wiederkunft erwartet wurde. Erst als die ursprüngliche Erwartung sichtbar ausblieb, wurde eine Uminterpretation vorgenommen (in der EIGENEN LITERATUR nachzulesen). Auch die Aussagen zu 1975 waren eindeutig. Es gibt noch viele weitere Beispiele. Dass die Zeugen Jehovas von vielen nicht mehr für voll genommen werden, liegt u.a. an solchen Aussagen und nicht etwa daran, „daß sie verfolgt werden, weil sie Nachfolger Christi sind“, wie es in den eigenen Reihen gerne dargestellt wird.
Auch die Vorgehensweise bei der Änderung der Einstellung zum Zivildienst ist ein Lehrbeispiel, welch subtile Mechanismen innerhalb der „Organisation“ angewandt werden, wenn es gilt einen Irrtum der Vergangenheit zu korrigieren. Schuld ist immer das dumme Schaf, nie die Organisation! Ganz zu schweigen von den Menschen, die aufgrund ihres „Organisationsgehorsams“ (nicht zu verwechseln mit Gottesgehorsam) an Leib und Seele buchstäblich Schaden genommen haben.
Der WT vom 15.8.1998 schreibt im Studienartikel „Unsere Zuversicht gegenüber Gottes Gerechtigkeit festigen“ im Unterabschnitt „Das Empfinden unnötig gelitten zu haben“:
„In der Vergangenheit haben einige Zeugen Jehovas leiden müssen, weil sie eine Tätigkeit ablehnten, die ihr Gewissen heute zulassen würde. Das könnte z.B. mit der Entscheidung zusammenhängen, die sie vor Jahren hinsichtlich bestimmter Formen von zivilen Diensten getroffen haben. Ein Bruder ist inzwischen womöglich zu der Überzeugung gelangt, er könne mit gutem Gewissen solche Dienste verrichten, ohne seine christliche Neutralität gegenüber dem gegenwärtigen System der Dinge zu verletzen. War es von seiten Jehovas ungerecht, zuzulassen, daß jemand leiden mußte, weil er etwas ablehnte, was er heute ohne weiteres tun könnte? Die meisten, denen es so ergangen ist, sehen das anders. Sie freuen sich vielmehr, daß sie Gelegenheit hatten, öffentlich eindeutig ihre Entschlossenheit zu beweisen, in der Streitfrage der universellen Souveränität fest zu bleiben. Aus welchem Grund sollten sie es bedauern ihrem Gewissen gefolgt zu sein und unerschütterlich für Jehova Stellung bezogen zu haben? Durch das loyale Festhalten an christlichen Grundsätzen, wie sie sie verstanden, oder dadurch, daß sie der Stimme des Gewissens folgten, erwiesen sie sich der Freundschaft Jehovas als würdig...... In der Neuzeit gab es einige Zeugen Jehovas, die sehr streng mit sich selbst waren, was sie tun oder nicht tun durften. Aus diesem Grund hatten sie mehr zu leiden als andere. Später half ihnen eine vermehrte Erkenntnis, die Dinge ausgeglichener zu sehen. Aber es gibt für sie keinen Grund, zu bedauern, daß es seinerzeit womöglich zusätzliches Leid bedeutete, im Einklang mit ihrem Gewissen zu handeln. Es ist wirklich lobenswert, daß sie bereit waren, aus Treue zu Jehova zu leiden...... Seien wir überzeugt, daß es immer richtig ist, Jehova zu gehorchen, die Anleitung zu befolgen, die er durch seine Organisation gibt, und SEINE ENTSCHEIDUNGEN ZU AKZEPTIEREN“ (kursiv von mir).
S....., ich denke, daß solch ein Artikel für sich spricht, er bedarf eigentlich keines weiteren Kommentars. Dass man aber seinen eigenen „pharisäerhaften“ Irrtum („geht nicht über das hinaus was geschrieben steht“) Gott in die Schuhe schiebt, ist schon starker Tobak! Die armen Menschen mußten keinesfalls wegen ihrer „Treue zu Jehova“ leiden, sondern wegen ihres Kadavergehorsams gegenüber einem unnötigen, menschlichen Gebot. Jesus schrieb hierzu in Matth. 23:4 „Sie (die Pharisäer) binden schwere Lasten zusammen und legen sie auf die Schultern der Menschen, sie selbst aber wollen sie nicht mit ihrem Finger bewegen“.
Ein anderer Kommentar zu diesem Artikel ist etwas deftiger. Ein Leser schrieb: „Da bleibt einem die Spucke weg, vor soviel Arroganz, Größenwahn und Überheblichkeit“. Ich empfinde ähnlich, wie dieser „Abtrünnige“.
Bei der Informationspolitik unserer Organisation zu ihrer Mitgliedschaft bei der UN als NGO (Nicht-Regierungsorganisation), wurden ähnliche Verklauselierungen gebraucht (sofern überhaupt informiert wurde). Wenn Du willst können wir diesen Sachverhalt einmal gemeinsam „studieren“; es gibt eine Menge Informationen darüber; seriöse und verläßliche! Mich stört einfach dieses „Messen mit zweierlei Maß“. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, welche Wellen die Betriebsratgeschichte von M.... in unserer Versammlung geschlagen hat, während gleichzeitig unsere große Führung mit dem „wilden Tier“ paktierte. Die „Organisation Gottes“ handelt hier einfach nicht anders, als alle Parteien und Organisationen dieser Welt. Es gilt immer das Motto: wahr ist, was der Partei nützt, falsch ist, was ihr schadet. Die objektive Wahrheit bleibt bei allen Parteien auf der Strecke, der menschliche Geist wird immer für die Ziele der Partei vereinnahmt. Albert Schweitzer schrieb hierzu:
„Ein Mensch, der eigenes Denken hat und damit geistig ein Freier ist, ist ihnen (den Parteien) etwas Unbequemes und Unheimliches. Er bietet nicht genügend Gewähr, daß er in der Organisation in der gewünschten Weise aufgeht“.
Die Zeugen Jehovas haben für mich einfach nicht das Monopol auf Wahrheit, Wissen und Weisheit gepachtet; es gibt innerhalb der eigenen Reihen genügend Beispiele für Irrtum und Ungeistigkeit, während es in der sogenannten Welt genug Beispiele für Wissen, Weisheit und vortreffliches Verhalten (Geistigkeit) gibt. Selbstverständlich nicht nur – aber die Einteilung der Welt in Gut (die ZJ) und Böse (alle übrigen) ist ebenso falsch wie dumm. Ich weiß, dass Du hier widersprechen wirst, aber genau diese Schwarz-Weiß-Einteilung gibt es immer noch, allerdings heute auf eine wesentlich subtilere Art und Weise. Übrigens ist diese dauernde Selbsterhöhung „unserer Organisation“ auch zutiefst unchristlich, sie grenzt an Götzendienst. Es wäre ganz im Sinne der christlichen Demut, wenn die Organisation die Bibelworte „wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden“ oder auch das Beispiel mit dem „Strohhalm im Auge des anderen und dem Balken im eigenen Auge“, auch einmal auf sich selbst anwenden würde.
Betonen möchte ich AUSDRÜCKLICH, daß es auf keinen Fall mein Bestreben ist, Dich oder andere vom christlichen Glauben abzubringen. Ich kann guten Gewissens sagen, daß es mir ausschließlich um die Wahrheit (im wahrsten Sinne des Wortes) geht und um eine etwas differenziertere Betrachtungsweise der Organisation Gottes. Sie ist einfach wesentlich komplexer, als sie der Zeuge-Normalo wahrnimmt. Auch geht es mir darum, mich so zu zeigen (im Denken und Empfinden) wie ich tatsächlich bin. Es kann nicht Sinn einer geistigen Entwicklung sein, zu allem nur Ja und Amen zu sagen, was unsere „geistigen Führer“ vorgeben; im Gegenteil, genau so findet eine geistige Entwicklung mit Sicherheit nicht statt! So wirst Du Diener einer Organisation und nicht Diener des Geistes, Diener DEINES Geistes.
Ich habe auch absolut Abschied genommen von der Vorstellung, daß es unbedingt erforderlich ist, der „Organisation“ in allem zu folgen, da ja alle Schriften und Handlungen den Segen Jehovas haben, weil es sich um seine Organisation handelt und er sich nur durch diese „Organisation“ der Menschheit mitteilt. Ich denke, daß man den o.g. WT sicher nicht Gott zuschreiben kann und daß er alles andere als erfreut war, über diese menschliche Hybris (Selbsterhöhung). Die Organisation Gottes ist für mich einfach ein sehr „menschliches, allzu menschliches“ Gebilde in dem Du die ganze Palette der menschlichen Natur findest. Du findest durchaus Menschen die das Herz am rechten Fleck haben, ihre spirituellen Bedürfnisse befriedigen und auch über ein gewisses geistiges Niveau und moralische Integrität verfügen, aber ebenso findest Du darin auch alle Abgründe der menschlichen Seele; dümmliche Machtansprüche über andere Menschen, Eitelkeiten, Irrtümer und Fehleinschätzungen. Ich weiß, daß Du diese Einschätzung der Organisation nicht teilen kannst, dennoch entspricht sie der Wahrheit. Ich denke, daß der Mensch immer vor der Ideologie, die Wahrheit immer vor der Partei kommen sollte und nicht umgekehrt.
Bei meiner Art des Studierens möchte ich Wahrheit von Irrtum unterscheiden lernen und ich möchte das Gefühl haben, daß ich mich als Mensch in Wissen und Intellekt (selbstverständlich auch im Herzen) weiterentwickle und nicht nur passend gemacht werde, um die eigene Weltanschauung an den Mann oder die Frau zu bringen. Ich lege mir dabei keine Denk- und Informationsverbote auf und erkenne mittlerweile sehr gut, daß es „Pharisäer“ und Scharlatane auf beiden Seiten gibt. Es gibt sie durchaus die „Abtrünnigen“ (im eigentlichen Sinne sind dies Personen, die wider besseres Wissen und um des persönlichen Vorteils willen, christliche Grundsätze und Ideale verraten), allerdings auch in den eigenen Reihen, denn immer wenn die christlichen Ideale wie Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit, wegen dem unbedingt zu erhaltenden Selbstbildnis der „Organisation“ auf der Strecke bleiben, dann sind eben die „Abtrünnigen“ nicht außerhalb, sondern innerhalb der Organisation. Ich weiß mittlerweile einfach zu gut, warum man Kritiker automatisch zu „Abtrünnigen“ stempelt. Das Selbstbildnis der Organisation, ihre Autorität und ihr ALLEINIGER Sitz auf dem Thron Gottes soll unter keinen Umständen beschädigt werden. Es gibt einfach Wissen und Fakten(!) über die Organisation, die ihr wenig schmeicheln. Die Organisation weiß dies genau und versucht deshalb diese „Wahrheiten“ vor den Anhängern verborgen zu halten.
Wie schrieb Steven Hassan (Ausbruch aus dem Bann der Sekten) so treffend: „Die Mitglieder (in seinem Fall Moon-Sekte) werden darauf gedrillt, jede Kritik für unwahr zu halten. So werden kritische Worte zum Beispiel im voraus entkräftet, als ‚die Lügen über uns, die von Satan stammen‘. In der Tat, wenn jemand nur noch positiv über seine Zugehörigkeit zu der Gruppe denken kann, dann sitzt er mit Sicherheit fest‘.
Nur wer etwas zu verbergen hat, muß seine Schäfchen von den Kritikern fern halten; alle anderen können gelassen und souverän mit Kritik umgehen; sie haben es nicht nötig Denk- und Informationsverbote zu erlassen...