<— auch für Minderheiten in Minderheiten?

Niemand sollte zu religiösen Handlungen gezwungen werden, die er für unvertretbar hält. Und niemand sollte gezwungen werden, sich zwischen seiner Familie und seinem Glauben zu entscheiden.

Erwachet! Juli 2009

Mit dem Verweis auf ihre unveräußerlichen Rechte als religiöse Minderheit pocht die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas auf Gleichbehandlung mit den Kirchen und ihre Gleichstellung in Bezug auf die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Ob sie dies zu Recht fordert, ist in einigen Ländern einer genauen Prüfung unterzogen worden.

Dabei wurde eingehend untersucht, inwieweit die Religionsgemeinschaft unveräußerliche Rechte auch innerhalb ihrer Gemeinschaft gelten lässt.

Artikel 4 des Grundgesetzes lautet:

(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.

Die Religionsgemeinschaft zitiert gern Artikel 4 GG, um auf ihre Rechte hinzuweisen. Es sei ein Grundrecht, so die Gemeinschaft, den Glauben zu wechseln und niemand dürfe wegen seiner Mitgliedschaft als Zeuge Jehovas benachteiligt oder diskriminiert werden. Hierin ist ihr zuzustimmen.

Ob aber der Wechsel zu den Zeugen Jehovas vergleichbar mit dem Wechsel zu anderen Gemeinschaften ist, dieser Frage nachzugehen, erscheint mir geboten. Denn tatsächlich ist der Eintritt in die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas recht problemlos. Spannend aber wird es dann, wenn man als Zeuge Jehovas nicht mehr den Glauben der Gemeinschaft in allem teilt und wenn man Zweifel an den Lehren der Religionsgemeinschaft hat und sie äußert.

An der Art, wie die Gemeinschaft mit Zweiflern oder Abweichlern umgeht, kann man ablesen, wie sie es mit den Grundrechten und besonders mit Artikel 4 GG innerhalb ihrer eigenen Reihen hält.

Mit diesem Essay zeige ich einerseits auf, wie die Religionsgemeinschaft argumentiert, um zu beweisen, dass der Wechsel zu dieser Gemeinschaft eine normale Sache ist, und dass es keinen Grund gibt, den Zeugen Jehovas mit Kritik oder gar Ablehnung zu begegnen.

Andererseits beleuchte ich die Methoden und Argumente, mit denen sie ihre Anhänger in der Gemeinschaft zu halten versucht.

Als Grundlage dient mir ein Artikel aus der Zeitschrift Erwachet! vom Juli 2009.

Was sagt die Bibel? — Ist es verkehrt, wenn man den Glauben wechselt?

Sehr einfach, sehr schlicht und harmlos: Was sagt die Bibel? Darf man seine Religion wechseln? Man ahnt bereits die Antwort: Ja, man darf seinen Glauben wechseln, vor allem dann, wenn dieser nicht auf der Bibel basierte. Aber lesen wir weiter:

Als Avtar anfing, sich mit der Bibel zu beschäftigen, waren ihre Verwandten, die der Sikhreligion angehören, aufgebracht. Avtar erklärt: "In meiner Heimat wird man, wenn man seinen Glauben wechselt, von der Gesellschaft ausgestoßen. Selbst unsere Namen haben eine religiöse Bedeutung. Wer einen anderen Glauben annimmt, gilt als jemand, der seine Identität aufgibt und die eigene Familie verleugnet."

Sehr richtig erkennt die Religionsgemeinschaft, dass ein solches Verhalten "im Namen der Religion" nicht akzeptabel ist.

Avtar wurde schließlich eine Zeugin Jehovas. Hätte sie ihren Glauben nicht wechseln sollen? Womöglich können Sie die Gefühle der Familie nachvollziehen. Viele denken, dass die Religion, die man von zu Hause mitbekommt, untrennbar mit der Familientradition und der eigenen Kultur verwoben ist und nicht gewechselt werden darf.

Selbstverständlich muss es möglich sein, den Glauben zu wechseln. Es geht nicht an, seine eigenen Überzeugungen vom wohlwollenden Zuspruch anderer abhängig zu machen. Auch dann nicht, wenn es die eigene Familie ist.

Hohe Achtung vor seiner Familie zu haben ist wichtig. Die Bibel sagt: „Höre auf deinen Vater, der deine Geburt verursacht hat“ (Sprüche 23:22). Noch wichtiger ist allerdings, die Wahrheit über den Schöpfer und sein Vorhaben herauszufinden (Jesaja 55:6). Ist das überhaupt möglich? Und falls ja, wie wichtig ist Ihnen diese Suche?

Es gibt aus Sicht der Religionsgemeinschaft nur eine Wahrheit. Diese gilt es herauszufinden. Wer sich auf die Suche nach der Wahrheit macht, ist per se im Recht. Die eigenen Eltern zu respektieren, "auf den Vater zu hören", ist sicher richtig, aber die Wahrheit über Gott herauszufinden, ist nach Lehre der Zeugen um Längen wichtiger.

Nach der Wahrheit über den Schöpfer suchen 

Die einzelnen Religionen vertreten widersprüchliche Vorstellungen. Logischerweise kann nicht alles stimmen. Es muss somit viele Menschen geben, die, wie die Bibel es ausdrückt, "Eifer für Gott haben, aber nicht gemäß genauer Erkenntnis" (Römer 10:2). Gott möchte jedoch, "dass alle Arten von Menschen ... zu einer genauen Erkenntnis der Wahrheit kommen". Das schrieb der Apostel Paulus in 1. Timotheus 2:4. Wo findet man diese "genaue Erkenntnis"?

Da es nur eine Wahrheit gibt, hat im Grunde jeder einzelne Mensch auf dieser Welt die Pflicht, danach zu suchen. Die Mehrzahl der Religionen, hat diese Wahrheit nicht, daher ist es mehr als recht und billig, sie zu verlassen. Selbst die Religionen, die die Bibel zu vertreten behaupten, haben nicht die genaue Kenntnis über die "Wahrheit", daher sind sie in Gottes Augen wertlos. Wer das erkennt, tut gut daran, diese Erkenntnis in die Tat umzusetzen, das heißt, er muss die Religion konsequenterweise wechseln, so die Argumentation.

Warum aber kann man die "Wahrheit" nur in Verbindung mit der Bibel finden und mit keinem anderen heiligen Buch?

Es gibt gute Gründe, die für die Bibel sprechen. Paulus, der selbst unter göttlicher Leitung Bibelbücher schrieb, erklärte, die ganze Bibel sei „von Gott inspiriert und nützlich zum Lehren“ (2. Timotheus 3:16). Wenn Sie also nach der Wahrheit suchen, sollten Sie prüfen, ob diese Behauptung stimmt. Entdecken Sie die tiefe Weisheit der Bibel und ihre geschichtliche Genauigkeit, und lernen Sie die schon eingetroffenen Voraussagen kennen.

Jeder einzelne dieser Sätze ist eine bloße Tatsachenbehauptung ohne jeglichen Beleg. Und zu jedem dieser Tatsachenbehauptungen ließe sich eine Fülle an Material herbeibringen, das zeigt, dass man diese Dinge auch ganz anders sehen kann, ja eigentlich auch sehen müsste.

Die Historizität des "Paulus" ist nicht einwandfrei belegt.

Die Inspiriertheit der Bibel wird selbst unter gläubigen Christen nicht einheitlich aufgefasst. Der Schlüssel zum Verständnis darüber, ob nur Teile der Bibel direkt "gottgehaucht" sind oder doch "die ganze Schrift" und was genau unter "Inspiration Gottes" im Einzelnen zu verstehen ist, scheint umstritten zu sein, jedenfalls habe ich von verschiedenen Christen höchst unterschiedliche Deutungsversionen gehört und gelesen.

Mit der Weisheit der Bibel scheint es nicht weiter her zu sein als mit anderen, typisch menschlichen Geisteserzeugnissen.

Schließlich die Historizität der Bibel selbst: Es würde zu weit führen, wenn ich damit begönne, aufzulisten, an welchen Stellen im Einzelnen die in der Bibel behaupteten Daten, Namen und Fakten ganz und gar nicht der historischen Wahrheit entsprechen. Vielleicht ein Beispiel:

Das von den Zeugen Jehovas mit Hilfe der seltsam interpretierten Bibeldaten errechnete Datum der Zerstörung Jerusalems im Jahre 607 v. Chr. durch Nebukadnezar ist nachweislich falsch.

Über die Historizität der Heilsgeschiche des Jesus von Nazareth empfehle ich die Lektüre zweier sehr erhellender Bücher: "Jesus, Menschensohn" von Rudolf Augstein sowie "Nein und Amen" von Uta Rancke-Heinemann.

Die vorgenannten Informationen fechten die Zeugen Jehovas nicht an. Unbeirrt gehen sie von einer Wort für Wort gottgehauchten heiligen Schrift aus, etwas, das man bei der nun folgenden Argumentation im Sinn behalten sollte.

Die Bibel lehrt nicht, dass im Endeffekt jede Religion zu Gott führt. Sie rät ausdrücklich davon ab, etwas unkritisch zu übernehmen, wenn sie sagt: "Prüft die inspirierten Äußerungen, um zu sehen, ob sie von Gott stammen" (1. Johannes 4:1). Beispielsweise muss eine Glaubenslehre, die wirklich von Gott stammt, völlig mit seinem Wesen übereinstimmen — auch mit seiner herausragenden Liebe (1. Johannes 4:8).

Auf diese Empfehlungen komme ich später noch mal zurück. Beachtenswert ist das nun Folgende, mit dem wir uns zuerst näher befassen sollten:

Wie die Bibel versichert, wünscht Gott, dass wir ihn "wirklich finden" (Apostelgeschichte 17:26, 27). Wenn der Schöpfer das also möchte und wenn man ihn gefunden hat, dann kann es auf keinen Fall verkehrt sein, auch entsprechend zu handeln — selbst wenn das einen Glaubenswechsel bedeutet. Aber was ist mit eventuellen Schwierigkeiten?

Wer Gott finden möchte, muss bereit sein, seinen Glauben zu wechseln. Abgesehen davon, dass hier durch die Schriften der Wachtturm-Gesellschaft das Bild eines recht eingleisigen Gottes gezeichnet wird, soll der Wechsel des Glaubens selbstredend nur in eine Richtung stattfinden: Weg von irgendwelchen Religionen (die bekanntlich alle falsch sind) hin zu der "einzig wahren": der der Zeugen Jehovas!

Ein solcher Wechsel ruft "Schwierigkeiten" hervor, wie bereits erwähnt. Was also ist zu tun, wenn nach einem Wechsel der überkommenen Weltanschauung das bisherige Umfeld ablehnend reagiert? Schauen wir, was die Religionsgemeinschaft empfiehlt:

Der Familie die Treue halten — um jeden Preis?

Wer seinen Glauben wechselt, entscheidet sich womöglich dafür, bei bestimmten religiösen Handlungen oder Festen nicht mehr mitzumachen.

Das geschieht jedoch nur dann, wenn dieser Glaubenswechsel zu einer autoritär strukturierten, straff geführten Leistungsgemeinschaft erfolgt, die ihren Anhängern die eigenen Handlungsspielräume einschränkt.

Wer beispielsweise vom Katholizismus zum Protestantismus wechselt, darf sich dennoch an den Festen der früheren Religion beteiligen, ohne dafür Sanktionen befürchten zu müssen. Erzählen Sie einmal Ihrem katholischen Pfarrer, Sie hätten am letzten Sonntag aus Nostalgie oder weil Ihnen einfach danach war, den Gottesdienst Ihrer früheren evangelischen Gemeinde besucht, was wird er da wohl sagen?

Nicht so bei den Zeugen Jehovas. Die Ältesten (Gemeindeleiter) sind gehalten, dem "Abirrenden liebevoll Beistand" zu leisten: "Wir wollen doch nicht am Tisch der Dämonen sitzen." So oder ähnlich lautet dann die Unterweisung, die den Glaubensunsicheren wieder in die rechte Spur zurückbringen soll.

Von einer freiwilligen Entscheidung, die früheren Feste nicht mitfeiern zu wollen, kann daher nicht die Rede sein.

Nun aber zu den "Schwierigkeiten":

Verständlicherweise reagieren Verwandte darauf manchmal sehr emotional. Jesus war sich darüber im Klaren. Zu seinen Jüngern sagte er: "Ich bin gekommen, um zu entzweien: einen Menschen mit seinem Vater und eine Tochter mit ihrer Mutter und eine junge Ehefrau mit ihrer Schwiegermutter" (Matthäus 10:35). Jesus meinte damit nicht, es sei beabsichtigt, dass biblische Lehren zu Auseinandersetzungen führen. Er sah einfach nur kommen, was geschehen könnte, wenn Verwandte dagegen sind, dass jemand auf einmal einen anderen Glauben vertritt.

'Die Verwandten reagieren manchmal emotional', wenn man die Religion wechselt. Ja, vielleicht. Das aber hält sich in Grenzen, wenn sie feststellen, dass außer der inneren Überzeugung sich am Verhalten des geliebten Menschen nichts Wesentliches verändert. Das ist in aller Regel der Fall, wenn der Wechsel von einer großen Kirche zur anderen Kirche stattfindet. Es ist nicht weiter der Erwähnung wert, da die verwandtschaftlichen Bande davon fast gänzlich unberührt bleiben. Man bleibt weiter in Verbindung, pflegt die familiären Beziehungen, Eltern sehen ihre Kinder und sind an ihrem Leben interessiert. Großeltern bleiben in Kontakt zu ihren Enkeln, da sich ihre Beziehungen zu den Kindern nicht deswegen über Nacht geändert haben, nur weil man nicht mehr dasselbe glaubt.

Selbst wenn jemand ganz ohne Glauben lebt, während die Angehörigen weiter zu den kirchlichen Gottesdiensten gehen, stellt dies in der Regel kein Hindernis für normale, entspannte zwischenmenschliche Kontakte dar.

Dass die Zeugen Jehovas auf die Idee kommen, sich zu fragen, warum gerade in ihren Reihen das Verlassen der Gemeinschaft ein solches Problem darstellt, wird man vergeblich hoffen. Merkwürdig auch, dass es nur in Verbindung mit einem Wechsel zu ihnen — und ähnlich strukturierten Kulten — in manchen Familien zu teilweise sehr emotionalen Reaktionen kommt. Gegen Ende meines Essays komme ich auf diese Ungereimtheiten noch zu sprechen.

Vorerst bleibt festzuhalten, dass die Zeugen Jehovas ihre neugewonnenen Anhänger schon mal vorsorglich auf die zu erwartende "Verfolgung" einstimmen.

Wenn schon Jesus vor 2000 Jahren solche Gegnerschaft angekündigt hat, nun, dann sollte die zu erwartende "Verfolgung um Christi willen" doch zu meistern sein. Welches ist die "richtige" innere Haltung, mit der der Neubekehrte das zu erwartende Ungemach bei seinem Glaubenswechsel hinnimmt?

Muss man aber nicht einen Konflikt in der Familie um jeden Preis verhindern? Kinder sollen ihren Eltern gehorchen und die Frau soll sich ihrem Mann unterordnen, so die Bibel (Epheser 5:22; 6:1). Gleichzeitig werden jedoch alle, die Gott lieben, auch ganz klar angewiesen, "Gott, dem Herrscher, mehr [zu] gehorchen als den Menschen" (Apostelgeschichte 5:29). Gott die Treue zu halten bedeutet daher mitunter, dass man eine Entscheidung trifft, die im Familienkreis auf Unverständnis stößt.

Interessant, dass die Religionsgemeinschaft einen Interessenkonflikt der Gebote Gottes erkennt, wo es doch eigentlich heißt, dass "eine Glaubenslehre, die wirklich von Gott stammt, völlig mit seinem Wesen übereinstimmen [muss] — auch mit seiner herausragenden Liebe". Dieses Problem wird elegant umschifft, indem man sich — stellvertretend für den Höchsten — auf das wichtigere Gebot festlegt. Das Gebot, "die Eltern zu ehren und ihnen zu gehorchen" sowie die Verpflichtung der Frauen, ihren Ehemännern "untertan" zu sein, wiegt offenbar weniger als das Gebot, "Gott dem Herrscher mehr zu gehorchen als den Menschen".

Die Religionsgemeinschaft weiß offenbar ziemlich genau, welches seiner widersprüchlichen Gebote Gott mehr am Herzen liegt. Demnach ist es für Gott wichtiger, dass man der richtigen Religion angehört. Dass man mit einem eventuellen Wechsel der Religion möglicherweise die Eltern nicht mehr ehrt, scheint zweitrangig. Mögen die Eltern emotional reagieren, das Wichtigste ist ganz offenbar, dass man der richtigen, "allein wahren" Religion beigetreten ist, denn schließlich: "[macht] die Bibel [...] einen deutlichen Unterschied zwischen wahren und unwahren Glaubenslehren".

Am besten aber, man hat all diese Schwierigkeiten und Glaubensprüfungen nicht. Denn in unserem freiheitlichen Rechtsstaat gibt es schließlich die verbriefte, jedermann gewährte Freiheit des Glaubens und Gewissens. Selbst der "Höchste" gewährt diese Freiheit, woraus die Religionsgemeinschaft konsequenterweise folgende grundsätzliche Forderung ableitet:

Dennoch lässt Gott jedem Menschen Entscheidungsfreiheit (5. Mose 30:19, 20). Niemand sollte zu religiösen Handlungen gezwungen werden, die er für unvertretbar hält. Und niemand sollte gezwungen werden, sich zwischen seiner Familie und seinem Glauben zu entscheiden.

Richtig. Und darum kämpft die Gemeinschaft seit Jahren für die Gewährung dieses Rechts, besonders auch für die Zeugen Jehovas. Denn schließlich hat der Staat ihnen viel zu lange dieses fundamentale Recht verweigert, wie die Religionsgemeinschaft nicht müde wird zu behaupten.

Auch hat der Staat ihr die Gewährung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verweigert, weil er dieser Gemeinschaft nicht die gleichen Rechte zuerkennen wollte, wie sie jedem Individuum und jeder anderen Glaubensgemeinschaft qua Grundgesetz zustehen, so glaubte die Religionsgemeinschaft. Und deshalb ging sie über Jahre durch alle Distanzen, um ein Recht einzuklagen, das ihr, wie jeder anderen Minderheit, zustand.

Wenn also Menschen ihren Kindern Schwierigkeiten machen, weil diese ihr Grundrecht wahrnehmen, nämlich zu den Zeugen Jehovas zu gehen, ist das nicht hinnehmbar. Wie formuliert es die Religionsgemeinschaft doch so treffend?

Niemand sollte zu religiösen Handlungen gezwungen werden, die er für unvertretbar hält. Und niemand sollte gezwungen werden, sich zwischen seiner Familie und seinem Glauben zu entscheiden.

Jemanden zu zwingen, an religiösen Handlungen teilzunehmen, die er nicht akzeptieren kann, weil sein neuer Glaube es ihm verbietet, hieße, ihm sein grundgesetzlich verbürgtes Recht auf freie Religionsausübung vorzuenthalten.

Und von seiner Familie verstoßen zu werden, nur weil man den Glauben gewechselt hat, stellt ebenfalls einen schwerwiegenden Eingriff in die Menschenrechte dar und muss als solcher geahndet werden.

So weit, so gut und richtig.

Jedoch: Warum gilt diese rechtsstaatlich orientierte Betrachtung nur in eine Richtung? Warum verwehrt dieselbe Glaubensgemeinschaft ihren eigenen Anhängern exakt die Rechte, die sie wortgewaltig und vor Gerichten klagend für sich selbst einfordert? Warum untersagt sie ihren Mitgliedern den Kontakt zu Freunden, Verwandten und Bekannten, bloß weil jene vom Recht auf freier Wahl der Glaubensüberzeugung oder auch des Nichtglaubens Gebrauch gemacht haben?

Wieso wird mit scharfen Bibeltexten gegen jene polemisiert, die sich die Freiheit genommen haben, sich nicht länger dem Glaubensdiktat dieser Gemeinschaft zu unterwerfen? Warum werden Menschen als "Hunde" bezeichnet, die "zum eigenen Gespei zurückgekehrt" sind, bloß weil sich in ihren Köpfen lediglich eine geringe Änderung ihres Weltbildes ergeben hat, die sie noch nicht einmal ganz freiwillig selbst gesteuert haben? Mit welchem Recht bezeichnen die Schriften der Wachtturm-Gesellschaft Menschen als "gebadete Sau", die sich "im Schlamm" wälzt, wenn diese Menschen doch nichts Gravierendes verbrochen haben, als lediglich nicht mehr zu glauben? (Siehe z.B. Der Wachtturm 15. März 2006, S. 27-31, "Halte dich von der falschen Anbetung fern!")

Alles bloße Verleumdungen der "Abtrünnigen"? Nichts als haltlose, böswillige Unterstellungen ohne Realitätsnachweis?

Nun, lassen wir exemplarisch eine Schrift der Wachtturm-Gesellschaft zu Wort kommen. In dem 2008 herausgegebenen Buch: "Bewahrt euch in Gottes Liebe" behandelt die Religionsgemeinschaft dieses für sie wichtige Thema sehr ausführlich. Im Anhang des Buches, unter der Kapitelüberschrift: "Wie man sich gegenüber Ausgeschlossenen verhalten sollte" heißt es u.a. (ich werde im Folgenden immer wieder daraus zitieren):

Wie sollten wir uns gegenüber einem Ausgeschlossenen verhalten?Die Bibel hält uns dazu an, "keinen Umgang mehr mit jemandem zu haben, der Bruder genannt wird, wenn er ein Hurer oder ein Habgieriger oder ein Götzendiener oder ein Schmäher oder ein Trunkenbold oder ein Erpresser ist, selbst nicht mit einem solchen zu essen" (1. Korinther 5:11)

Nun kann man dafür noch ein gewisses Maß an Verständnis aufbringen, denn niemand kann gezwungen werden, sich mit Mördern, Dieben, notorischen Trinkern oder solchen einzulassen, die einem bei der nächstbesten Gelegenheit die Frau oder den Mann ausspannen.

Die nun folgenden Zeilen aus diesem Buch aber haben es in sich:

Über den, der „nicht in der Lehre des Christus bleibt", lesen wir: "Nehmt ihn niemals in euer Haus auf, noch entbietet ihm einen Gruß. Denn wer ihm einen Gruß entbietet, hat an seinen bösen Werken teil" (2. Johannes 9-11). Wir reden mit Ausgeschlossenen nicht über unseren Glauben und haben keinen sozialen Kontakt mit ihnen. Im Wachtturm vom 15. Dezember 1981 hieß es auf Seite 24, dass "ein einfacher Gruß der erste Schritt zu einer Unterhaltung und vielleicht sogar zu einer Freundschaft sein kann. Möchten wir bei einem Ausgeschlossenen diesen ersten Schritt tun?

Wie steht es nun plötzlich mit den grundgesetzlich garantierten Menschenrechten? Was ist mit dem Recht auf freier Wahl des Glaubens oder der Weltanschauung? Plötzlich alles nichts mehr wert? Makulatur? Hieß es weiter oben nicht ausdrücklich:

Dennoch lässt Gott jedem Menschen Entscheidungsfreiheit (5. Mose 30:19, 20). Niemand sollte zu religiösen Handlungen gezwungen werden, die er für unvertretbar hält. Und niemand sollte gezwungen werden, sich zwischen seiner Familie und seinem Glauben zu entscheiden.

Erwachet! Juli 2009

Alles plötzlich nicht mehr wahr? Gott lässt den Menschen Entscheidungsfreiheit. Was aber befiehlt die Religionsgemeinschaft?

Ist es wirklich nötig, den Kontakt völlig abzubrechen? Ja, aus mehreren Gründen. Erstens beweisen wir so unsere Treue gegenüber Gott und seinem Wort. Wir gehorchen Jehova nicht nur, wenn es für uns leicht ist, sondern auch, wenn es uns wirklich schwerfällt. Aus Liebe zu Gott halten wir uns an alle seine Gebote, denn wir erkennen an, dass er gerecht und gut ist und seine Gesetze für jeden nur zum Besten sind (Jesaja 48:17; 1. Johannes 5:3). Zweitens bleibt dadurch der Ruf der Versammlung geschützt sowie der Glaube und die moralische Reinheit von uns selbst und allen anderen in der Versammlung (1. Korinther 5:6, 7). Drittens kann unser entschlossenes Festhalten an biblischen Grundsätzen auch dem Ausgeschlossenen nutzen. Unterstützen wir die Entscheidung des Rechtskomitees, können wir im Herzen eines Ausgeschlossenen, der bis dahin auf die Hilfestellung der Ältesten nicht reagiert hat, vielleicht etwas bewegen. Durch den Verlust lieb gewordener Kontakte zu Freunden und zur Familie kommt er womöglich "zur Besinnung", sieht den Ernst seines Fehlers ein und kehrt zu Jehova zurück (Lukas 15:17).

"Bewahrt euch in Gottes Liebe", Anhang

Hat sie im Artikel des Erwachet! (s. oben) noch die These vertreten, Gott ließe dem Menschen Entscheidungsfreiheit, so schränkt die Religionsgemeinschaft diese von Gott gewährte Entscheidungsfreiheit, gewissermaßen an seiner statt, ein, indem sie gebietet, die "Entscheidung des Rechtskomitees" zu unterstützen und den Abweichler zu ächten.

Wer es wagt, das Grundrecht auf Glaubensfreiheit wahrzunehmen, soll durch den Entzug der Lieben gebrochen werden. Es geht nicht an, aus Sicht der Religionsgemeinschaft, dass ein Zeuge Jehovas die "alleinwahre" Religion verlässt, Glaubensfreiheit hin oder her. Daher muss ein solcher "Abtrünniger" wieder zur Vernunft gebracht werden, denn "den Höchsten zu verlassen", ist der Gipfel der "Unverständigkeit". Daher ist jedes noch so drastische Mittel, jeder noch so haarscharfe Gang entlang der Grenzen des rechtsstaatlich Erlaubten recht, wenn es nur gelingt, den "Abirrenden" wieder zurückzuführen in "die Versammlung der wahren Anbeter Gottes". Und wenn dazu das Mittel der sozialen Isolation oder der vollständigen Ächtung durch Freunde, Verwandte und Bekannte dient, dann muss es leider sein.

Die Beschreibung der Disziplinarmaßnahmen und deren Begründung geht aber noch weiter:

Was, wenn ein Verwandter ausgeschlossen wird?

Wegen der engen familiären Bindung kann es einem wirklich schwerfallen, dann treu zu Jehova zu halten.

Zum besseren Verständnis sei an dieser Stelle erläutert, dass die Formulierung: "treu zu Jehova halten" nichts anderes meint als der Religionsgemeinschaft ohne Wenn und Aber zu gehorchen. Selbstständiges, unabhängiges Denken ist dabei unerwünscht. Erinnern wir uns, dass Gott Entscheidungsfreiheit gewährt, die Religionsgemeinschaft jedoch nicht.

Entgegen der zu Beginn des Artikels im Erwachet! (Juli 2009) erhobenen Forderung, einen Wechsel der Religion hinzunehmen, ist in dem Buch: "Bewahrt euch in Gottes Liebe" von einer solchen Forderung nichts zu sehen, denn dort sind die Vorzeichen anders. Ist es aus Sicht der Religionsgemeinschaft legitim, einen Wechsel der Religionen vorzunehmen, hat man erst einmal die "einzig wahre" Glaubensorganisation gefunden, so wäre ein nochmaliger Wechsel nun, da man dem "alleinwahren" Gott nachfolgt, eine "Sünde". Und sollte sich jemand doch "von Jehova abwenden", muss seine Familie ihn ächten.

"Roma locuta, causa finita" könnte man also ausrufen, Rom hat gesprochen, die Sache ist erledigt, oder: die Religionsgemeinschaft hat das letzte Wort. Und wie hat "Rom" gesprochen?

Wie verhält man sich gegenüber einem ausgeschlossenen Verwandten? Wir können hier nicht auf alle denkbaren Situationen eingehen und wollen uns deshalb auf zwei beschränken.

Erste Situation: Der Ausgeschlossene wohnt noch mit in derselben Wohnung. Da durch einen Gemeinschaftsentzug die Familienbande nicht gelöst werden, könnte der Ausgeschlossene weiter am normalen Familienalltag beteiligt sein. Allerdings hat er das Band, das ihn im Glauben und im Dienst für Gott mit der Familie verbunden hat, durch sein Verhalten ganz bewusst zerrissen. Deshalb können ihn die anderen in der Familie, die treu zu Jehova stehen, in nichts mehr mit einbeziehen, was sie im Rahmen ihrer Anbetung tun. Falls der Ausgeschlossene zum Beispiel beim Familienstudium dabei sitzt, würde er sich nicht daran beteiligen. Handelt es sich allerdings um ein minderjähriges Kind, sind die Eltern nach wie vor dafür verantwortlich, es liebevoll anzuleiten und zu korrigieren, und können daher mit ihm die Bibel studieren (Sprüche 6:20-22; 29:17).

Die Religionsgemeinschaft gibt sich viel Mühe, ihren Anhängern zu erläutern, wie "Jehova" die Sache geregelt haben will. Der Abweichler wird nicht nur sozial isoliert und geächtet. Sollte eine häusliche Gemeinschaft mit ihm bestehen, wird er in seinem eigenen Haus aller Rechte beschnitten und regelrecht entmündigt. Er darf nicht mehr seine Meinung äußern, darf allenfalls stumm dem "Familienstudium" beiwohnen. Die Religionsgemeinschaft befürchtet, dass sich jemand an seinem "verderblichen" Verhalten ein Beispiel nehmen könnte.

Dabei verdreht sie auch die Tatsachen und behauptet: Nicht die Religionsgemeinschaft entzieht dem "Abtrünnigen" die Gemeinschaft, vielmehr hat er selbst hat das Band der Gemeinschaft zerrissen.

Zweite Situation: Der Ausgeschlossene wohnt außerhalb des engsten Familienkreises, das heißt nicht in derselben Wohnung. In seltenen Fällen könnten es gewisse Familienangelegenheiten zwar erfordern, dass man mit dem Ausgeschlossenen begrenzt Kontakt hat, doch sollte dieser auf ein Minimum beschränkt werden.

Wohnt der "Abtrünnige" oder Ausgeschlossene nicht mehr im selben Haus mit den "Treuen", ist der Kontakt mit ihm auf das absolut Notwendige zu beschränken, also Pekuniäres oder im Todesfall eines der Angehörigen — in solchen Ausnahmefällen jedoch nur mit eingeschränktem Rederecht.

Auffallend ist auch, dass die Religionsgemeinschaft sich gern in einem Atemzug mit "Jehova" nennt; dadurch tritt sie gegenüber den Gläubigen mit größerer Autorität auf. Ihre Regelungen und Vorschriften sind gleichbedeutend mit Gottes Geboten, jeder Verstoß bedeutet Sünde gegen den Höchsten.

Wer Jehova treu sein möchte, sucht nicht nach Vorwänden für Kontakte mit einem ausgeschlossenen Verwandten, der eine eigene Wohnung hat. Aus Herzenstreue gegenüber Jehova und seiner Organisation wird er die biblische Regelung des Gemeinschaftsentzugs nicht unterlaufen. Seine konsequente Treue zeigt, dass er für den Ausgeschlossenen nur das Beste will, und trägt möglicherweise dazu bei, dass die korrigierende Maßnahme bei ihm greift (Hebräer 12:11).

Jetzt ist kein Wort mehr davon, dass Gott Entscheidungsfreiheit gewährt. Vorbei die Forderung nach der Freiheit des Individuums, seinen Glauben oder seine Weltanschauung frei zu wählen. Stattdessen ist von "Abirren" und "Sünde" die Rede, die es zu ahnden gilt. Die unausweichlichen Folgen sind Gemeinschaftsentzug, Herabsetzung der Person und geistige Entmündigung im eigenen Haus! Familien werden wegen der Wahrnehmung fundamentaler Menschenrechte gespalten und Menschen schreiben herzzerreißende Abschiedsbriefe an ihre Lieben, weil sie wissen, dass sie "Jehovas Acht und Bann" getroffen hat.

Es ist nur schwer nachzuvollziehen, dass Gerichte, Behörden und Politiker hierzulande recht leichtfertig den Bekundungen der Religionsgemeinschaft über ihre Rechtstreue geglaubt haben. Völlig unverständlich ist für mich, warum eine solch janusköpfige Organisation die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts erhält.