Nachdem ich den Brief über die Gewissensfreiheit geschrieben und den „Ältesten“ der Versammlung geschickt hatte, mit der ich verbunden war, gab es anfänglich von ihrer Seite keine Reaktion.

Bis mich etwa einen Monat später ein Mitglied des Dienstkomitees zu Hause anrief, ob er und zwei weitere „Älteste“ für ein paar Minuten kommen könnten. Als ich nach dem Grund für diesen Besuch fragte, versicherte er mir, es sei „nichts wichtiges, nur eine Formalität.“

Praktisch erwartete ich schon etwas in dieser Art; ich dachte jedoch, bei der Unterredung mit den „Ältesten“ könnte ich mit Erfolg zeigen, dass meine Beobachtungen richtig waren, und sie verstehen lassen, dass ich nicht vom Christentum abgefallen war. Es gab drei Zusammenkünfte von insgesamt neun Stunden mit dem Komitee. Bei der ersten Sitzung verblüffte mich ein „Ältester“ – ein Sonderpionier mit jahrzehntelanger Erfahrung in der „Wahrheit“ – mit der Beobachtung: „Jehova hat David nicht nach dem Mord an Uria, dem Mann von Bathseba, zurückgewiesen; wenn daher der ‚Sklave’ mit seinen Anweisungen [das Thema Transplantationen, vorher verboten und dann erlaubt] den Tod von jemandem verursacht haben kann, hat er das in gutem Glauben getan, und man dient Jehova immer noch durch seinen Kanal[!!].“ „Du handelst wie Korah, der gegen die Autorität des Mose rebellierte (vgl. 2. Sam.11; 4. Mose 16).“ Ich wies darauf hin, den „Sklaven“ mit Moses zu vergleichen bedeute, diesen Männern eine Autorität zuzuschreiben, die sie nach der Bibel nicht hätten; ich versuchte, das klarzumachen, aber jeder Versuch, mich zu verteidigen, machte die Situation nur noch schlimmer.

Dann wurde er deutlich über „etwas ausgeglichen in der Wahrheit leben“: „Du hast schlecht gelebt, und darum nenne ich dich fanatisch.“ Ein in der Tat merkwürdiges Urteil von jemandem, der mich noch bis vor kurzem wertschätzte für meinen Eifer, meine Erkenntnis und meine Fähigkeiten und weil ich weiter allen Erfordernissen nachgekommen bin, um Gott zu gefallen. Mein „Fanatismus“ ist in der Tat immer noch mein Lebensstil und mein Nachdenken über meine „geistigen Brüder“, die, was ihren „Eifer“ betrifft, viel zu lernen haben (das ist nachdenkenswert, und mit Bezug darauf machte einer der Ältesten, die das Rechtskomitee bildeten, folgende Bemerkung: „Ich bin jetzt schon seit über zwanzig Jahren Sonderpionier und ich habe kein Geld fürs Alter beiseitegelegt, wie andere es gemacht haben: Wenn sich das Ende hinzögert, werde ich mich nicht an die leitende Körperschaft wenden, wie du es tust!“). Niemand hat mich zuvor als fanatisch bezeichnet, in Wirklichkeit wurde ich als nachahmenswertes Beispiel angesehen! Man denke zum Beispiel daran, wie ich von der Arbeit nach Hause kam und mich schnell umzog und ohne Abendessen in den vorgeschlagenen Monaten Predigtdienst ging, um den Pionierdienst zu machen; und wie ich mich keuchend anstrengte, das Stundensoll zu erfüllen. Einmal gelang es mir, „nur“ 57 statt der 60 für einen Hilfspionier geforderten Stunden zu machen, und der Dienstaufseher wie mich mit ärgerlichem Unterton darauf hin, „wenn man sich zu etwas verpflichtet, müsse man genau sein.“

Ich wies vor dem Rechtskomitee darauf hin, wenn man mich ausschließen würde, wäre das eine Ungerechtigkeit, weil ich in dem, was ich geschrieben hatte, keine Grundlehren leugnete. Darauf erwiderte ein „Ältester“: „Jehova kann auch zulassen, dass jemand zu Unrecht ausgeschlossen wird“, und „die Blutfrage in Zweifel zu ziehen bedeutet, eine grundlegende Wahrheit zu leugnen.“ „Es ist abtrünnig, die Organisation und die Normen, die sie aufgestellt hat, auch nur zu kritisieren und nicht nur, das nicht zu glauben, was ausdrücklich in der Bibel geschrieben steht.“ Um diesen Punkt zu stützen, ließ mich einer der „Ältesten“ die Definition von „Abtrünnigkeit“ aus dem Unterredungs-Buch, Seite 25, vorlesen:

„Abzufallen bedeutet, die Anbetung Gottes und den Dienst für ihn aufzugeben oder untreu zu werden, eigentlich, sich gegen Jehova Gott aufzulehnen. Einige Abtrünnige geben vor, Gott zu kennen und ihm zu dienen, verwerfen aber Lehren oder Anforderungen, die in seinem Wort festgelegt sind. Andere behaupten, an die Bibel zu glauben, lehnen aber Jehovas Organisation ab.“

Dies ist, wie klar festzustellen ist, eine Adhoc-Definition, die es der Gesellschaft erlaubt, jeden als Abtrünnigen zu brandmarken und zu bestrafen, der anderer Meinung ist, und zwar nicht aufgrund der Bibel oder des Christentums, sondern aufgrund eigener Ansichten und Auslegungen.

„Wenn du als Christ getauft bist, hast du öffentlich erklärt, die vom Geist geleitete Organisation anzuerkennen, die Jehova dient“, verwiesen mich die „Ältesten“. Und tatsächlich ist die Taufformel, die seit 1985 in Kraft ist (siehe den Wachtturm vom 1. Oktober 1985) gleichbedeutend mit einer impliziten „rechtlichen“ Anerkennung der Organisation: Wenn jemand auf die zweite Frage mit „Ja“ antwortet “Du gibst zu erkennen, dass deine Hingabe und Taufe dich als einen Zeugen Jehovas ausweisen, der mit der vom Geist Gottes geleiteten Organisation verbunden ist.“), – in der die leitende Körperschaft willkürlich „Organisation“ eingesetzt hat (in Matthäus 28:19, 20 sagte Jesus etwas anderes ...) – dann wird er zu einem Mitverbundenen, über den die Wachtturm-Gesellschaft Macht ausüben kann, der aber keine „demokratischen Rechte“ hat (untenstehend wird von „Theokratie“ gesprochen ...) Später würde man, wenn ich die Autorität der Organisation bestreiten wollte, sich dieser „Entscheidung“ entsinnen, die die „Ältesten“, die mich verurteilten, offensichtlich auf Anweisung der Gesellschaft trafen. Ich wies darauf hin, dass im Jahre 1975 (dem Jahr meiner Taufe) die Fragen noch anders lauteten, die Organisation wurde nicht erwähnt. Die „Ältesten“ blieben dabei, die Fragen seien immer dieselben gewesen, während sie zwischen 1956 und 1985 so formuliert waren:

(1) Hast du erkannt, dass du in den Augen Gottes, Jehovas, ein Sünder bist, der der Errettung bedarf, und hast du vor ihm anerkannt, dass diese Rettung von ihm, dem Vater, durch seinen Sohn Jesus Christus kommt?

(2) Hast du dich aufgrund dieses Glaubens an Gott und seine Vorkehrung zur Rettung rückhaltlos Gott hingegeben, um von nun an seinen Willen zu tun, so wie er ihn dir durch Jesus Christus und die Bibel mittels der erleuchtenden Kraft des heiligen Geistes offenbart? (Wachtturm, 1. September 1956, Seite 535)

Die Menschen, die vor 1985 getauft wurden, wurden also nicht aufgefordert, die „vom Geist geleitete Organisation“ anzuerkennen. In der überwältigenden Mehrzahl der Fälle werden sich die neugetauften Wachtturm-Jünger nicht im Geringsten der rechtlichen Implikationen ihrer Handlung bewusst.

Während der Zusammenkünfte mit dem Komitee war das Gefühl, vor den Richtern in der Patsche sitzen, konkret: nicht mehr die „liebevollen Brüder“, sondern die bereitwilligen Inquisitoren, die jedes Wort abwägen, um Abtrünnigkeit nachzuweisen. In meinem Brief sprach ich beispielsweise über Jesus und gebrauchte das Wort „Herr“: ein „Ältester“ bemerkte, ich hätte nie den Namen „Jehova“ benutzt. „Er bezweifelt also auch, dass Gott Jehova genannt wird!“. Ich bemerkte, an dem „was ich geschrieben habe, ist doch etwas Wahres.“ „Ja“, erwiderte der „Älteste“, „die Interpunktion.“

Während des „Prozesses“ habe ich zu einem bestimmten Zeitpunkt darum gebeten, mit dem „Ältesten“ den angeführten Text lesen und besprechen zu können. „Hier gibt es nichts zu diskutieren; willst du in Frage stellen, was die leitende Körperschaft sagt? Antworte auf die Frage: Akzeptierst du die Autorität des ‚Sklaven’? Antworte mit Ja oder Nein. Glaubst du, dass ausschließlich die Organisation Jehova dient? Es genügt, wenn du mit Ja oder Nein antwortest. Etwas anderes interessiert uns nicht.“ (Auch bei der „heiligen“ Inquisition wurden dieselben Methoden benutzt: die Richter wollten nicht die Meinungen der „Häretiker“ hören ...

Bei einer darauf folgenden Sitzung behaupteten sie: „Hätte Jehova beabsichtigt, dass jeder seinem eigenen Gewissen folgt, hätte er nicht für die Führung durch den ‚treuen und verständigen Sklaven’ [die leitende Körperschaft] gesorgt. Wenn es allen frei stünde, ihrem eigenen Gewissen zu folgen, würden wir in Kurzem wie die Katholiken werden.“ Bei der letzten Sitzung, gehalten vor einem „Berufungskomitee“, wurde der Älteste beglückwünscht für die Genauigkeit dessen, was ich geschrieben hatte: „Er zeigt eine tiefe Kenntnis, die nicht allgemein üblich ist. Ich habe nie solch einen logischen Abriss gelesen. Deine Worte kommen in extrem deutlicher Weise auf den Punkt, wie eine Rasierklinge. Kompliment!“ Danach konfrontierte man mich Armseligen mit der Alternative: Abschwören, was ich geschrieben hatte, oder Gemeinschaftsentzug. Ich bin meinem Gewissen gefolgt.

Der abschließende Kommentar eines der „Ältesten“: „Jehova macht die Dinge durch seine Organisation bekannt.“

Abschließende Gedanken

Ich glaube, der große Schaden, den es bei einem anrichtet, wenn man sich den Zeugen Jehovas anschließt, ist, dass die Wahrnehmung der Wirklichkeit in einem völlig verändert wird: Man sieht alles vom Standpunkt der Sekte, es gibt die „Versammlung“ und „die Welt“, diese beiden Blöcke stehen sich gegenüber. Natürlich sind in der Versammlung nur die Guten, die Gerechten; die da draußen sind nur böse, „die Welt Satans“. Und so ist es auch mit den Verwandten: nachdem man ein Zeuge geworden ist, entfernt man sich immer mehr von ihnen; tatsächlich ist die Perspektive plötzlich verändert: vorher waren es liebe Angehörige, dann, und besonders, wenn sie nicht annehmen, was man predigt, werden sie zu „Weltmenschen“, mit denen man sich weniger abgibt, wobei man aber immer das Ziel im Sinn hat, ihnen Zeugnis zu geben.

Viele Ausgeschlossene kehren in die Versammlung zurück, nur um wieder soziale Kontakte zu finden (man schaue sich die Aussage weiter unten an). Einige von ihnen, wenn sie zurückkehren konnten, wollten keine Zeugen Jehovas mehr sein, aber sie mussten wieder in die Versammlung kommen, weil oft Ehepartner, Eltern, Geschwister, Schwiegerväter, „Freunde“ in der Organisation sind, und viele können nicht mit dem fast völligen Ausgestoßen sein klarkommen, das mit dem Gemeinschaftsentzug einhergeht. Es scheint mir euphemistisch zu sein, alles das als „psychologischen Druck“ zu bezeichnen, und ich glaube nicht, dass andere Bewegungen oder Gemeinschaften existieren, die die Menschen in solcher Weise „zwingen“, in der Gruppe zu bleiben.

Die Unnachgiebigkeit der Zeugen zeigt sich in jeder Situation und erstreckt sich auf jede Art sozialer Beziehung. Selbst wenn vielleicht einige Zeugen im Innern diese Art zu handeln und zu denken äußerst rigide und kaum menschlich finden, hindert sie die theokratische religiöse Struktur daran, anders zu handeln und auch dem Rechnung zu tragen, wie total, diese Art zu handeln, in deutlichem Gegensatz zu allen Grundsätzen der Ethik und Humanität steht. Ein Verhalten in Übereinstimmung mit den Vorschriften würde keinen Verdacht seitens der „Brüder“ erregen, Hirtenbesuche der „Ältesten“, Komitees und verschiedene Ermahnungen. Wer sich nicht anpasst, wird des „unordentlichen Verhaltens“ beschuldigt, und die Versammlung muss diese Art von Menschen meiden, im Hintergedanken die Auslegung von 2. Thessalonicher 3:14 durch die leitende Körperschaft. Daher ziehen es viele um eines ruhigen Lebens willen vor, sich in Konformismus zu ergeben, anstatt diese Art Druck zu ertragen.

All dies ist jedoch gering, wenn man die Freiheit sieht. „Die Wahrheit wird euch frei machen“, hat der Herr Jesus gesagt (Johannes 8:32). Die Zeugen zitieren diese Worte gerne, um zu erklären, dass sie frei sind von falschen religiösen Lehren und bibelwidrigen Überlieferungen. Wenn man daher einräumt, dass dies stimmt, dann gehen diejenigen, die Zeugen Jehovas werden, von einer Art „Gefangenschaft“ in eine andere, eine höchst rigide, aus der es höchst schwierig ist, sich zu befreien. Ich glaube, dass die Zeit darüber richten wird, weil das tatsächlich so ist und es auch die unnachgiebigen Zeugen zwingen wird, mit der Wirklichkeit zu rechnen.

Lorenzi Achille