An das
Bundesverfassungsgericht Karlsruhe
Aktenzeichen: 7 C 11.96
Schloßbezirk 3, 76131 Karlsruhe
Verfassungsbeschwerde des Prof. Dr. Hermann Weber, Palmengartenstrasse 14, 60325 Frankfurt Am Main, gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgericht am 26. Juni 1997 — Aktenzeichen: 7 C 11.96 — über die Ablehnung des Antrags auf Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland

In vorbezeichneter Angelegenheit bitte ich als ein (noch) nicht ausgeschlossenes „Mitglied“ der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas das Bundesverfassungsgericht, das Urteil des BVerwGE anzuerkennen und die Verfassungsbeschwerde des vorstehenden Rechtsanwaltes abzulehnen.

Ich beziehe mich insbesondere auf das Rechtsgutachten[1] über das Bestehen eines Rechtsanspruches der vorstehenden Religionsgemeinschaft des Prof. Dr. jur. Christoph Link, Lehrstuhl für Staats-, Verwaltungs- und Kirchenrecht, Universität Erlangen, in dem er Begründungen gegen eine Verleihung dieses Rechts anführt, die ich als gerechtfertigt betrachte. Da dieses Rechtsgutachten vorliegt, brauche ich auf Einzelheiten nicht mehr einzugehen, vielmehr möchte ich einen Aspekt hinzufügen, der es sicherlich wert ist, beim Bundesverfassungsgericht bei seiner Beurteilung der Verfassungsbeschwerde gewichtet zu werden. Dieser betrifft die Einflußnahme der Wachtturm-Gesellschaft auf das Wahlverhalten ihrer Anhänger.

Da insbesondere die Einstellung der Wachtturm-Gesellschaft zu politischen Wahlen ein wichtiges Kriterium für die Nichtverleihung des Status des öffentlichen Rechts ausschlaggebend war, überrascht es mich nicht, daß in der neusten Ausgabe des Wachtturms vom 01. November 1999, S. 28 unter der Rubrik Fragen von Lesern (in Ablichtung beigefügt), unter der Überschrift Wie betrachten Jehovas Zeugen das Wählen plötzlich (anscheinend!) ganz andere Töne über die Einstellung zum Wahlverhalten angeschlagen werden. Ich staunte nicht schlecht, als ich dort (S. 28) zu lesen bekam:

...Es scheint allerdings keinen Grundsatz zu geben, der dem Wählen an sich widerspricht ... Jeder Zeuge Jehovas entscheidet selbst auf der Grundlage seines durch die Bibel geschulten Gewissens und des Verständnisses seiner Verantwortung gegenüber Gott und dem Staat, ob er einem zur Wahl stehenden Kandidaten seine Stimme gibt oder nicht (Matthäus 22:21; 1. Petrus 3:16).[In der Kopie in Gelb hervorgehoben]

Aus dem obigen Zitat ließe sich nun die Schlußfolgerung ziehen, daß die Wachtturm-Gesellschaft ihren Anhängern von nun an gestattet, an politischen Wahlen teilnehmen zu dürfen ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Die Entscheidung, die ein Zeuge Jehovas in diesem Punkt treffen würde, würde sich auf „der Grundlage seines durch die Bibel geschulten Gewissens...“ stützen. Dieser Schluß scheint insbesondere durch folgenden Satz (S. 29, linke Spalte) nahezuliegen:

Wenn jemand [gemeint ist ein Zeuge Jehovas] sich entscheidet, die Wahlkabine aufzusuchen, so ist das seine Entscheidung. Was er in der Wahlkabine tut, ist eine Sache zwischen ihm und seinem Schöpfer.

Das BVerfGE vergleiche jedoch bitte die obigen Zitate nun einmal mit den nachfolgenden im gleichen Artikel (ab S. 28, rechte Spalte), denn wenn auch nach den obigen Zitaten der Eindruck erweckt wird, es handle sich um eine eigene auf die Bibel gestützte Gewissensentscheidung, so wird doch in den folgenden Zitaten deutlich, wie es mit dem „biblisch geschulten Gewissen“ eines Zeugen Jehovas auszusehen hat, und dies bitte ich dem BverfGE bei seiner Beurteilung der Verfassungsbeschwerde zu bedenken:

Wenn die Zeugen diese persönliche Entscheidung treffen, berücksichtigen sie mehrere Faktoren...

...es folgt dann das viel strapazierte Klischee, daß Zeugen Jehovas „kein Teil der Welt“ seien und „sich in den politischen Angelegenheiten der Welt neutral [verhalten] (Johannes 18:36).“ Sie werden als „Repräsentanten des himmlischen Königreiches Gottes“ (S. 29, linke Spalte) bezeichnet. Daraus folgt natürlich, daß sie „sich nicht in die Politik der Länder [einmischen], in denen sie leben.“ (Ebd.)

Bei diesen genannten „Faktoren“ handelt es sich lt. der Wachtturm-Gesellschaft um „biblische Grundsätze“, die jedoch nur ein Zeuge Jehovas interpretieren kann, denn diese sagen ihm nichts anderes, als daß er nicht an politischen Wahlen teilzunehmen hat. Da diese „biblischen Grundsätze“ von der Wachtturm-Gesellschaft so ausgelegt wurden, haben sich Zeugen Jehovas dieses biblische (nicht eigene, sondern vorgeschriebene) Verständnis zu eigen zu machen und als eigenes biblisches Verständnis zu betrachten. Das wird mit folgendem Zitat auf der S. 29, linke Spalte bestätigt, wobei die Zusätze, die ich in eckige Klammern hinzugefügt habe, zeigen sollen, daß Zeugen Jehovas das Verständnis der „leitenden Körperschaft“ über relevante Bibelstellen nur übernommen haben und nicht ihre eigene Schlußfolgerung ist:

Im Hinblick auf die erwähnten biblischen Grundsätze [die wir dahingehend ausgelegt haben] treffen Zeugen Jehovas in vielen Ländern [die auf unsere Interpretation — nicht auf die Bibel — gestützte,] persönliche[2] Entscheidung, an politischen Wahlen nicht teilzunehmen...

Es darf also doch nicht gewählt werden, denn das „biblische Verständnis“ hängt ja von der Interpretation der Wachtturm-Gesellschaft ab. Und nach ihrer Interpretation der obigen Bibelstellen ist die Teilnahme an politischen Wahlen ja verboten. Ein Zeuge Jehovas macht sich dieses „biblische Verständnis“, zu dem er nicht aufgrund eigener Schlußfolgerungen gekommen ist, zu eigen und nimmt infolgedessen auch nicht an politische Wahlen teil.

Ich bitte das Gericht zu bedenken, daß dieser Artikel eigentlich für die Öffentlichkeit geschrieben sein soll (was der einzelne Zeuge Jehovas natürlich nicht weiß, da er nicht gelernt hat, zwischen den Zeilen lesen). Seit dem Rechtsstreit um die Verleihung des Status des öffentlichen Rechts arbeitet die Wachtturm-Gesellschaft offenbar an einem neuen Image in der Öffentlichkeit. Das sieht man an der ziemlich liberalen Einstellung in den einleitenden Worten des Artikels in bezug auf Wahlen. Die Öffentlichkeit (und insbesondere wohl die Gerichte) sollen den Eindruck erhalten, bei Zeugen Jehovas seien politische Wahlen nun erlaubt. Die jedoch im nachhinein dargelegten „biblischen Grundsätze“ stellen aber die Wirklichkeit innerhalb der Organisation dar, die zudem noch in einer Sprache abgefaßt wurden, die Außenstehende (und vielleicht auch die Gerichte) weder verstehen noch interpretieren können. Innerhalb der Organisationsstruktur der Zeugen Jehovas bleibt alles beim Alten (eine Ausnahme: es darf jetzt ziviler Ersatzdienst ohne Sanktionen befürchten zu müssen geleistet werden); nach außen hin soll jedoch der Eindruck erweckt werden, es hätte sich manches geändert.

Nicht unerwähnt bleiben sollte ferner die Tatsache, daß die Wachtturm-Gesellschaft nach wie vor die politischen Systeme als Teil des „Systems Satans“ betrachtet. In dem Werk Unterredungen anhand von Schriften, hrsg. von der Wachtturm-Gesellschaft 1990, wird kein Unterschied gemacht, wer gerade regiert:

Gleichgültig, wer regiert, der Betreffende ist stets ein Teil dieser Welt, die in der Macht Satans liegt (1. Johannes 5:19).

Damit wird dem Politiker, Bundeskanzler oder Präsident doch unterstellt, er unterstütze ein satanisches System. Wenn nun die Wachtturm-Gesellschaft hingeht und den Status des öffentlichen Rechts beantragt, dann muß man sich fragen, inwieweit sie gemäß ihrer eigenen Lehre „kein Teil der Welt“[3] sein will. Hatte sie doch in der Vergangenheit dieses „kein Teil der Welt sein“ derartig verabsolutiert, daß sie jegliche Beteiligung an politischen Wahlen sowie Klassensprecherwahlen in den Schulen ablehnte. Dieses „kein Teil der Welt sein“ möchte man nun wohl gerne relativieren, weil dies offensichtlich nicht mehr zur neuen Situation paßt, da man ja nun das öffentliche Recht begehrt. Aber inwieweit soll man denn nun „kein Teil der Welt“ sein? Offensichtlich doch wohl nur insoweit, als der Wachtturm-Gesellschaft in Selters dadurch keine materiellen Nachteile erwachsen. Aber gerade durch eine Ablehnung der Verleihung des Status des öffenltichen Rechts würden materielle Nachteile entstehen (Kirchensteuern, Befreiung von der Grunderwerbssteuer etc.). „Kein Teil der Welt“ im absoluten Sinne zu sein scheint die Führung jedoch nur von ihren Anhängern zu verlangen: Teilnahme an politische Wahlen: Nein; den Status des öffentlichen Rechts besitzen: Ja. Und wenn das politische System satanisch ist, warum würde dann die Wachtturm-Gesellschaft im Falle einer Verleihung dieses öffentlichen Rechts in Kauf nehmen, ein Teil davon sein? Offensichtlich möchte sie mit diesem satanischen System auch noch mit untergehen, denn in ihrer neusten(!) Veröffentlichung Die Prophezeiung Daniels — Achte darauf!, hersg. von der Wachtturm-Gesellschaft im Sommer 1999, heißt es paradoxerweise:

Ja, in der Schlacht von Harmagedon werden alle irdischen Könige [gemeint sind die politischen Systeme mit ihren Herrschern und Politikern] durch Gottes Königreich beseitigt werden...

Wo sich die „irdischen Könige“, von denen die Wachtturm-Gesellschaft den Status des öffentlichen Rechts begehrt, zu diesem Zeitpunkt befinden werden, geht aus dem nachfolgenden Zitat hervor:

Der Name Har-Magedon bezieht sich auf den „Ort“, an den die politischen Herrscher der Erde im Widerstand gegen Jehova und sein messianisches Königreich versammelt werden (Offenbarung 16:14, 16).[4]

Ja, das Königreich Gottes wird bald eingreifen und die gegenwärtigen politischen Einrichtungen ersetzen. Welch ein Segen! (Matthäus 24:21, 22, 36-39; 2. Petrus 3:7; Offenbarung 19:11-21).[5]

Es ist ein Aberwitz, wenn man sich vor Augen hält, daß die Wachtturm-Gesellschaft von den „politischen Herrschern“, die sich „im Widerstand gegen Jehova“ befinden, von denselben den Status des Öffentlichen Rechts begehrt, und das, obwohl ihr „bewußt“ ist, daß „das Königreich Gottes bald eingreifen und die gegenwärtigen politischen Einrichtungen ersetzen“ wird.

Wenn auch die Gerichte richtig feststellen, daß sich die Exegese ihrer Beurteilung zu entziehen hat, so gestattet es doch leider gerade dieser Umstand, daß die Führung der Wachtturm-Gesellschaft Bibelverse einmal so hinbiegen kann, wenn es zu einer bestimmten Situation paßt und dann wieder anders zurechtzubiegen kann, wenn eine neue Situation dies erfordert. Wenn nun Schriftstellen derart willkürlich ausgelegt werden können, dann muß man sich fragen, wie viel der Führung eigentliche an der Sache selbst liegt, zu deren Zweck diese Organisation ja ursprünglich ins Dasein gekommen ist. Denn zugunsten der Sache müßte die Wachtturm-Gesellschaft in Anbetracht der obigen Zitate konsequenterweise eher Abstand von der Erlangung dieses Status nehmen. Außerdem ist die Erlangung des Status des öffentlichen Rechts, um in Freiheit ihre Ideologie und Religion ausüben und deren Glaubensinhalte ausleben zu können, selbst nicht erforderlich, denn diese Freiheit haben sie ja bereits, wie auch das BverwGE in seinem Urteil festgestellt hat.

Dies bitte ich dem Gericht, sich zu vergegenwärtigen und in Betracht zu ziehen.

Ich danke dem Gericht für die Zeit, die es sich genommen hat, um diesen Brief zu lesen. Ich gestatte dem Gericht ferner, die Quelle anzugeben, aus der dieser Brief stammt.

Hochachtungsvoll

Anlage:

Auszug in Ablichtung aus: Der Wachtturm, 1. November 1999, S. 28, 29, „Fragen von Lesern Wie betrachten Jehovas Zeugen das Wählen.“

Anmerkungen

[1] Am 12.04.1997 der Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur zur Vorlage beim Bundesverwaltungsgericht vorgelegt. Siehe auch den Beitrag von Christoph Link in der Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht (ZevKR), 43, Heft 1, März 1998.
[2] Natürlich handelt es sich zwar um eine persönliche Entscheidung. Aber diese „persönliche Entscheidung“ beruht nicht auf ein eigenes Bibelverständnis, sondern das Verständnis der Anhänger über bestimmte Bibelpassagen hängt davon ab, wie diese durch die „leitende Körperschaft“ in Brooklyn interpretiert und dann ihren Anhängern in den Veröffentlichungen „verklickert“ werden. Somit ist auch das Wahlverhalten der Anhänger fremdbestimmt.
[3] 1. Johannes 17:16, „Sie sind kein Teil der Welt, so wie ich kein Teil der Welt bin“, lt. den Worten Jesu Christi.
[4] Der Wachtturm, 15. März 1990, S. 6.
[5] Ebd., 1. Februar 1992, S. 6.