Um eine Art Bestätigung für mein bewusstes Abwenden von der WTG zu haben, fotokopierte ich etliche spezielle Zitate aus der WT-Literatur.
Eines Tages besuchte mich im Büro ein ZJ, mit dem wir geschäftlich zusammenarbeiteten. Er kam dabei schnell zu seinem persönlichen Anliegen: "Du hast doch seinerzeit mitgeholfen, dass ich zu den ZJ ging und nun hörte ich, du habest sie verlassen. Was ist dein Grund dafür?" Ich wollte nicht, dass mein ZJ-Kollege, der sich im gleichen Zimmer befand, meine Antwort hörte. Daher griff ich in die Schublade und überreichte wortlos die Collage mit den WT-Zitaten. Bruder S. blätterte lange darin und runzelte dabei die Stirn. Dann gab er mir die Blätter zurück und verabschiedete sich ziemlich abrupt.
Etwa zwei Wochen später, am Abend. Ich saß mit meiner Frau gemütlich vor dem Fernsehapparat beim Gläschen Wein, da klingelte es an der Tür. Meine Frau öffnete, draußen standen zwei Brüder vom Komitee unserer Versammlung. Sie wollen mit mir alleine sprechen. Meine Frau musste ins Nebenzimmer gehen. Nach einigen Höflichkeitsfloskeln kamen die Männer zur Sache: "Wir wurden beauftragt, bei dir nachzufragen, welche Schriften du verbreitest?" Auf meine Gegenfrage, welche Art "Schriften" sie meinen, wurde so beantwortet, dass sie eben hier seien, um dies von mir zu erfahren. Ich konnte ihnen wirklich nicht weiterhelfen, denn ich hatte bis dahin noch nie WTG-"verbotene" Schriften verteilt. Dann gaben sie zu, vom Bethel den Auftrag erhalten zu haben, mich das zu fragen. Es war ihnen sichtlich unangenehm.
Ganz anders empfinden die Leute vom Bethel. A., ein Bezirksaufseher und führender Mann im Bethel besuchte mich und kam im Vorraum schnell auf den Punkt. "Würdest du dich zu einer Komiteesitzung einfinden?" Auf meine Frage, was man mir denn vorwerfe, beantwortete A., dass man Kenntnis von meinen WT-Auszügen besaß. Es wurde dabei auch der Name meines Besuchers im Büro, Bruder S., genannt. Ich bestand darauf, dass dieser bei der Sitzung als "Zeuge" zur Verfügung stehen müsse. Das wurde etwas zögernd akzeptiert, danach wurde ein Treffen im Königreichssaal vereinbart, dann rauschte A. ab.
An einem kalten Februarabend war es so weit. Nach langer Abwesenheit kam ich wieder in meinen zuständigen Versammlungssaal. Das Gericht konnte beginnen. Den Vorsitz führte überraschenderweise A. vom Bethel, mein zuständiger Versammlungsaufseher war nicht anwesend. Das entspricht nicht der Norm. Anscheinend ist das heute "oberste Kommandosache", dachte ich mir. Ein sehr verlegen wirkender Bruder S., auf dessen Anwesenheit ich bestanden hatte, nahm ebenfalls Platz. Insgesamt waren wir fünf Personen. Dann wurden die Anklagegründe genannt: "Warum hast du Bruder S. Schriften gezeigt?" Zuerst verlangte ich eine Klarstellung und fragte S., ob ich ihn, oder er mich besucht habe. S. erzählte, wie es war. Dann stellt ich die Frage: "Habe ich dir denn unaufgefordert etwas gezeigt?" S. beantwortete alles den Tatsachen entsprechend. Jetzt wandte ich mich an A. und fragte, was man eigentlich von mir wolle. Dies wurde so beantwortet: "Du hast S. total verwirrt und im Glauben geschwächt". Ziemlich erstaunt erwähnte ich nur, dass ich S. doch nur Teile der WT-Literatur gezeigt habe. Nun kam die altbekannte Antwort: "Diese Zitate waren sicherlich aus dem Zusammenhang gerissen". Eine kuriose Entwicklung des Gesprächs begann. A. fragte, wie ich eigentlich dazu käme S. solche Zitate zu zeigen. Da wandte ich mich an S., dieser bestätigte seine an mich gestellte Frage wegen meinem Fernbleiben von den Versammlungen. Da meinte A. zu mir: "Du bist doch ein reifer Bruder, im Gegensatz zu S., der ist ja noch ein Neuling, warum musstest du ihn so verunsichern!". Wieder fragte ich S., ob er denn regelmäßig die Zusammenkünfte besuche. Nachdem er zögernd bejaht hatte, sagte ich zu A.: "Also S. besucht regelmäßig die Zusammenkünfte, ich bin aber schon viele Monate nicht mehr in diesem Saal gewesen, jetzt frage ich euch: Wer von uns beiden ist wirklich der ´Reifere´?". Den Höhepunkt lieferte A. mit der Feststellung, ich müsse doch nicht jede Frage – etwa wie S. sie mir im Büro stellte – beantworten. Auf diese Argumentation war ich vorbereitet. Ich holte aus meiner Tasche einen "Redeplan" für Vortragsredner, der in Brooklyn verfasst wird. Das Thema meines Vortrags hatte gelautet: "Immer die Wahrheit sprechen". Aus dem Redeplan las ich folgende Passage:
- Wir müssen der Wahrheit gemäß reden, keine Tatsachen vor denjenigen, die es wissen sollten, zurückhalten.
- Unsere Brüder verdienen es, die Wahrheit zu hören, und sollten niemals irregeführt werden. (Lies Sacharja 8:16)
- Selbst wenn man Tatsachen verheimlicht, kann man Dingen eine andere Bedeutung geben: könnte zu Streit und Kummer unter Brüdern führen. Mag Zeit und Übung erfordern, zu lernen, in dem was wir sagen, ehrlich und freimütig zu sein; ist der Welt gegenüber ein Kontrast.
Die Kernaussagen solcher Stichwörter sind für Vortragende verbindlich. Meine Ankläger saßen mir jetzt ziemlich ratlos gegenüber. Sie durften doch nicht dem aus Brooklyn stammenden Rat widersprechen.
Schnell zogen sie sich dann zur Beratung zurück. Diese Vorgangsweise erinnert an ein weltliches Gericht. Meine Richter ließen mich lange warten. Sie schienen uneinig zu sein und entließen mich schließlich ohne ein Urteil zu fällen. Erst am nächsten Tag wurde mir an meiner Wohnungstüre mitgeteilt: "Wir haben dir die Gemeinschaft entzogen!". Ich bin in diese Gemeinschaft zwar nie als Mitglied eingetreten, nun bin ich aber als Übeltäter hinausgetreten worden.
Das Geschilderte ist nun schon einige Jährchen her, hat sich aber in der Psyche doch ziemlich fest eingegraben...