Eine Frage, die sich zwangsweise jedes aufrichtig denkende Mitglied der Glaubensgemeinschaft der Organisation der WTG stellen sollte.

„Was machen meine Brüder da eigentlich?“ eine Frage, die – wenn überhaupt formuliert – vermutlich zu spät gestellt wird...
„Die Wahrheit!“, höre ich meine Brüder rufen, „du musst ihnen die Wahrheit sagen!“
„Die Wahrheit, das ist mir klar, aber welche Wahrheit?“

Ich habe im Laufe meines Lebens feststellen müssen, dass allem Anschein nach mehrere „Wahrheiten“ existent sind. Zu der Erkenntnis gelangt der Mensch zwangsweise, wenn er sich etwas intensiver mit den unterschiedlichen Parolen und Lebensweisheiten der auf Gottes Erden vertretenen Gruppierungen auseinandersetzt.

Heute ist Sonntag. Genauer gesagt - der erste Sonntagmorgen im Frühlingsmonat Mai. Der nicht ganz wolkenlose Himmel zeigt sich in einer imposanten Blaufärbung, und die frische, klare Luft erlaubt ihm eine scheinbar grenzenlose Entfaltung, die bis tief in die Atmosphäre reicht. Ein freundliches Angebot der Natur, das ich sehr zu schätzen weiß. Das Außenthermometer steht im Westen auf 13° Celsius, eine Temperatur die, so empfinde ich es, ein Frieren nicht zulässt und ein Schwitzen vermeidet.

„10:00 Uhr" - meldet sich der Regulator zu Wort. Hanna sitzt seit knapp einer halben Stunde in der Versammlung, ich seit cirka fünfzehn Minuten am Schreibtisch. Vermutlich werde ich noch in diesem Monat meinen Bericht abgeschlossen – mein Buch geschrieben haben, ich beabsichtige es jedenfalls.

Ich denke, dass das was ich meinte unbedingt schreibend sagen zu müssen, letztendlich auch von mir erzählend niedergeschrieben wurde, dass das, von dem ich annehme dass es durchaus Erwähnung finden sollte, auch mittels meiner Zeilen eine Benennung erfuhr.

Gravierendes - in Hinblick auf das von mir gewählte Thema – hielt ich meines Wissens nicht zurück, zusätzlich Grandioses habe ich nicht mehr „in petto".

Sollten mich also meine christlichen Glaubensbrüder heute im Laufe des Tages anrufen und fragen: „Was fällt dir eigentlich ein, Peter?", so kann und werde ich aus voller Überzeugung antworten: „Nichts mehr, liebe Brüder, wirklich reinweg nichts mehr!"

Gut, das eine oder andere könnten wir noch gemeinsam betrachten, dieses und jenes wäre sicherlich noch von Interesse, aber um der morbiden Wiederholung jegliche Grundlage zu entziehen, beschränken wir uns besser auf das Wesentliche. Ansonsten beginge ich genau den Fehler, den ich doch so herzhaft beklagte, absolut, denn selbstverständlich rechtfertigt auch der Zweck meiner Zeilen nicht das Mittel der morschen, muffigen Litanei.

Die Sonne kann sich mit den rasch ziehenden Wolken offenbar nicht so recht einigen.

Das Außenthermometer weist zwar inzwischen 16° Celsius, wird aber mit seiner Anzeige der Erwartungshaltung, die ich bezüglich der Lufttemperatur eines wonnigen Maitages habe, bei weitem nicht gerecht...

Nein, es fällt mir nichts mehr ein, es ist alles gesagt. Dessen ungeachtet - und damit ist für mich die provokante Frage: „Was machen meine Brüder da eigentlich?" entgültig und ausreichend beantwortet - nehme ich mir noch ein allerletztes Mal das monatlich erscheinende Informationsblatt „Unser Königreichsdienst" zur Hand. Ein letztes Mal soll sich das aus 4–Seiten bestehende Faltblatt zwischen meinen Zeilen breit machen dürfen, ein nunmehr wirklich allerletztes Mal, und sei es auch nur auszugsweise.

Der momentan aktuelle „Brief der Gesellschaft", Ausgabe April 2001, liegt vor mir auf dem Schreibtisch, er regelt und plant bis in die zweite Mai-Woche hinein.

„Rechtzeitig planen – wofür?" lautet eine der beiden Überschriften der ersten Seite. Unterteilt in fünf Absätzen wird dort, gleich unterhalb des in lila – rötlichen Lettern präsentierten Titels, folgendes vermittelt:

„Wir alle machen uns Gedanken über unsere Zukunftspläne. Wer Leben auf der Erde in Aussicht hat, erwartet, für immer in Gottes gerechter neuer Welt zu leben. Doch es gibt Einflüsse, die diese Hoffnung aus dem Herzen verdrängen könnten. Man muss sich ernsthaft bemühen, die Königreichsinteressen im Leben weiterhin in den Mittelpunkt zu stellen und sich nicht von den Begierden des Fleisches ablenken zu lassen. (1. Joh. 2:15-17).

Die Welt kann die Bestrebungen von Geistesmenschen einfach nicht begreifen. Wir bemühen uns um geistige Schätze, die übrigen Menschen dagegen um Ruhm, Macht oder Reichtum. Würden wir unsere geistigen Ziele jemals erreichen, wenn wir versuchten, unsere Denkweise weltlichen Ansichten über die Zukunft anzupassen? Dann wären wir bald vorrangig mit weltlichen Dingen beschäftigt. Wie können wir das verhindern? (1. Kor. 2:14, Mat. 6:19-21).

‚Zieht den Herrn Jesus Christus an’. Unsere Gespräche zu untersuchen ist eine Möglichkeit festzustellen, ob wir unsere Zukunft nach den Königreichsinteressen ausrichten. Sprechen wir ständig über materielle Dinge und weltliche Belange? Wenn ja, müssen wir überlegen, ob sich das Herz noch auf geistige Werte konzentriert. Möglicherweise müssen wir mehr darauf achten, ‚den Herrn Jesus Christus anzuziehen und nicht im voraus für die Begierden des Fleisches zu planen’. (Röm. 13:14).

Jugendliche können ‚Christus anziehen’, indem sie im Voraus für den Tag planen, an dem sie den Vollzeitdienst aufnehmen. Ein Jugendlicher, der den allgemeinen Pionierdienst aufnehmen wollte, wuchs in einem Kulturkreis auf, in dem es üblich ist, dass sich junge Männer finanziell absichern. Daher ging er so sehr im Geschäftsleben auf, dass der Zusammenkunftsbesuch und der Predigtdienst bei ihm nur noch mechanisch abliefen. Nachdem er einmal angefangen hatte, auf Jesu Worte aus Matthäus 6:33 zu vertrauen, und aus der Tretmühle herausgekommen war, in der er sich befand, schlug er eine Laufbahn im Vollzeitdienst ein. Jetzt dient er Jehova mit gutem Gewissen und, wie er formulierte, ‚mit meinem vollen Potential’.

Die Bibel sagt, dass es vernünftig ist, für die Zukunft zu planen. Das wollen wir alle tun und dabei zuerst an den Willen Gottes denken." (Spr. 21:5, Eph. 5:15-17). ...

Ich will das nicht kommentieren, und schlage das Faltplatt auf. Rechts, auf der Seite drei, unter der Überschrift „Sich eingehend mit dem Predigtdienst beschäftigen", hebt sich eine der vier Unter-Überschriften besonders hervor. Der Absatz zwei, er trägt den Titel „Im April mehr Zeit im Dienst einsetzen", ließt sich folgendermaßen:

„Wahrscheinlich ist es unser Ziel, jeden Monat mit dem Predigen der guten Botschaft beschäftigt zu bleiben. Doch bestimmte Monate sind besonders dazu angetan, dass wir uns damit ‚eingehend beschäftigen’. Zu diesen Monaten gehört der April, in dem das Gedächtnismahl den Höhepunkt bildet. Lassen unsere Verhältnisse zu, dass wir im Hilfspionierdienst stehen oder unsere Anstrengungen im Predigtdienst in diesem Frühling steigern? Viele Verkündiger, die das tun, sind reich gesegnet worden. Vergessen wir nicht, dass Jehova sich freut, wenn wir ihm rückhaltlos dienen und dabei tun, was wir können. Ungeachtet unserer Verhältnisse setzen wir uns zum Ziel, uns im April ‚eingehend mit dem Predigtdienst zu beschäftigen’. Und vergessen wir nicht, am Monatsende den Predigtdienstbericht abzugeben, damit unsere Bemühungen zusammen mit denen der anderen Glieder des Volkes Jehovas erfasst werden." (2. Kor. 9:6, Luk. 21:2-4). ...

Auch das will ich auf keinen Fall diskutieren, will es unter keinen Umständen mit etwaig sich aufdrängelnden Anmerkungen versehen.

Links, auf Seite zwei des Faltblattes, lese ich weiter. Nachzulesende Dispositionen, Anweisungen, in erster Linie für die Brüder die während der Dienstzusammenkünfte am Rednerpult stehen. „Programm der Dienstzusammenkünfte", so die Überschrift.

Woche vom 30. April: Lied 215.

10 Minuten: Örtliche Bekanntmachungen.

„Erinnere die Verkündiger daran, ihren Predigtdienstbericht für April abzugeben. Die Buchstudienleiter sollten jeden in ihrer Gruppe daraufhin ansprechen, damit der Gesamtbericht bis zum 6. Mai zusammengestellt werden kann."

15 Minuten: Als guter Nachbar Zeugnis geben. * „Nenne weitere Möglichkeiten, durch unseren Wandel Zeugnis zu geben." (Siehe „Wachtturm" vom 1. November 1997, Seite 18, Absatz 16.)

20 Minuten: Pioniere helfen anderen. (Ansprache mit Interviews unter der Leitung des Dienstaufsehers). „Besprich das Programm ‚Pioniere helfen anderen’, wie es auf Seite 4 ‚Unseres Königreichsdienstes’ für September 1998 beschrieben ist. Sprich über das Gute, was in der Versammlung erreicht worden ist. Interviewe einen Pionier, der jemanden geholfen hat, und einen Verkündiger, dem geholfen wurde. Zeige, inwiefern beide Nutzen daraus gezogen haben, im Predigtdienst zusammenzuarbeiten. Lade andere ein, sich dieses Programm in den kommenden Monaten zunutze zu machen."

Lied 216 und Schlussgebet.

Woche vom 7. Mai: Lied 84

10 Minuten: Örtliche Bekanntmachungen.

15 Minuten: Bei Gott sind alle Dinge möglich. * „Äußere dich kurz zu dem, was auf Seite 443 des ‚Verkündiger-Buches’ über das Ausmaß der Predigttätigkeit im Jahre 1935 gesagt wird, und vergleiche es mit dem Bericht im aktuellen ‚Jahrbuch’. Weise darauf hin, dass damals diese gewaltige Ausdehnung unmöglich erschien."

20 Minuten: Wie kann die Familie Heiligkeit beweisen? „Ein Ältester bespricht mit seiner Familie den Stoff der Seiten 17 bis 20 im ‚Wachtturm’ vom 1. August 1996. Besprich, wie man zu Hause, bei Verwandten, in der Versammlung und in der Nachbarschaft Heiligkeit beweisen kann sowie in der Schule und am Arbeitsplatz."

Lied 70 und Schlussgebet.

* Beschränke die einleitenden Bemerkungen auf weniger als eine Minute, und fahre dann mit einer Besprechung in Form von Fragen und Antworten fort...

Das war’s eigentlich, damit wäre im Moment alles gesagt. Selbst diese Zitate werde ich nicht ergänzen, nein, warum auch, es erübrigt sich sozusagen jede weiter Erläuterung meinerseits. Ein Absatz allerdings fällt mir während meiner letzten, abschließenden Durchsicht doch noch auf. Einem kleinen Artikel, der lose ineinandergefalteten Blätter, gelingt es gerade noch rechtzeitig sich in den Vordergrund zu drängeln. Zurück zur Seite drei ... ganz unten links, der vierte Abschnitt auf dem Blatt.

„Untätigen weiter beistehen" lautet der ins Auge fallende, fett gedruckte, einleitende Satz:

„Seit Februar bemühen wir uns besonders, Untätigen zu helfen. Falls bei einigen noch kein Hirtenbesuch gemacht worden ist, sollten die Ältesten dafür sorgen, dass die Betreffenden vor Ende April besucht werden. Die Ältesten werden sich bemühen, die Ursache für das Problem des Betreffenden zu ermitteln um festzustellen, wie man ihm am besten helfen kann, Jehova wieder aktiv zu dienen. Dieser liebevolle Beistand macht deutlich, dass die Ältesten ihre Verantwortung als Hirten der ‚Herde Gottes’ ernst nehmen. Im Wachtturm vom 15. September 1993 sind auf den Seiten 22 und 23 ausgezeichnete Vorschläge zu finden, wie Älteste jedes der fünf typischen Probleme von Untätigen ansprechen können. Es wäre erfreulich, wenn einige im April den Predigtdienst wiederaufnehmen könnten." ...

Ich befürchte fast, ich habe mich festgelesen; jetzt interessiert mich noch der unmittelbar im Anschluss folgende Absatz mit der Nummer fünf - „Mehr Menschen helfen, ungetaufte Verkündiger zu werden":

„Eignen sich unsere Kinder als neue Verkündiger der guten Botschaft? Wie steht es mit anderen, mit denen wir die Bibel studieren? Wäre der April nicht der geeignete Monat für sie, mit dem Verkündigen zu beginnen, sofern die Ältesten zustimmen? Wenn jemand Fortschritte macht und die ‚Erwartet- Broschüre’ und das ‚Erkenntnis-Buch’ studiert hat, kann das Bibelstudium an Hand eines zweiten Buches fortgesetzt werden – entweder das ‚Gottes-Wort-Buch’, das ‚Frieden-Buch’ oder das ‚Anbetungs-Buch’. Unser Ziel ist es, dem Studierenden zu helfen, ein größeres Verständnis der Wahrheit zu erlangen, sich als ungetaufter Verkündiger zu eignen und ein Gott hingegebener und getaufter Zeuge Jehovas zu werden." ...

Nun dann, das war es aber jetzt wirklich, aus und vorbei, der monatlich erscheinende „Brief der Gesellschaft" tritt ab. Er verlässt mein Buch durch die Hintertüre, und legt sich bescheiden - in eine der Laden des Schreibsekretärs - zur wohlverdienten Ruhe.

Mir und dem etwaigen Leser meiner Zeilen erspare ich, wie mehrfach fest versprochen, jede Zugabe eines zusätzlichen, eigenen Kommentars. Ich werde das Zitierte weder doppelt unterstreichen, noch dick ausixen - weder mit schmeichelnden Belobigungen, noch mit scharfzüngigen Beanstandungen überkleben –, nein. Ich kehre einfach zur Tagesordnung zurück, erlaube mir dort weiterzumachen, wo ich aufgehört habe.

Die Frage: „Was machen meine Brüder da eigentlich?" ist nun, so denke ich, zur Genüge beantwortet. Meine diesbezüglichen Gedanken- Ballone gebe ich bereitwilligst frei, entlasse sie in die Lüfte meiner schwebenden Nachdenklichkeiten... „Warum machen meine Brüder das eigentlich?", diese Frage - ein Resultat des erkämpft und gewonnenen Antwortenfundus – wirft sich nunmehr in den Weg... Wie lautet die Antwort – ja was antworte ich, stellte man mir die Frage nach dem „Warum"? Was bitteschön sage ich denn nun meinen Kindern, falls sie mich fragen sollten was ich von „unserer" Religion halte, wie könnte meine Antwort lauten, wenn sie sich mit der Frage an mich wenden, in welcher nachvollziehbaren Beziehung ich zu den Lehren und Glaubensbekenntnissen der Zeugen Jehovas stehe? Mit welchen Worten erkläre ich dann meiner ältesten Tochter Esther zum Beispiel meine – rückblickend betrachtet – doch recht wankelmütige Laufbahn als Christ, meine bis dato anhaltende Ruhelosigkeit, bezüglich der Anteilnahme am Geschehen innerhalb unserer Gemeinschaft?

Blicke ich zurück, und sehe ich auf die Tage ihrer Jugend, so hat aus meiner Sicht der Dinge explizit Esther das Recht, diesbezüglich von ihrem Vater die Beantwortung der einen oder anderen Frage zu erwarten. Den lauten Ruf aus dieser Richtung, nach einer plausiblen Erklärung, werde ich sowohl erwarten als auch verstehen...

Und welche Erläuterung wäre geeignet um Tochter Hanna-Marie, der zweitältesten, meine Kritik am Versammlungsgeschehen verständlich zu machen? Was Letzteres betrifft, so gehe ich davon aus, dass ihr meine ureigenen Begründungen zwar hinlänglich bekannt sein dürften, ich kann und darf aber sicherlich nicht außer Acht lassen, dass es sich wie gesagt um „meine" Beweggründe handelt, um ganz und gar meine individuellen Motivationen, mit denen sie nicht unbedingt uneingeschränkt sympathisieren möchte.

Ergo liegt es in der Natur der Sache, dass drüber gesprochen werden muss, dass - um überhaupt auf einen gemeinsamen Nenner kommen zu können – ein weitreichender Austausch unserer beider Erfahrungen unumgänglich ist. Bei dem Erfahrungsaustausch sollte Anna-Lena tunlichst nicht fehlen, nein, denn obwohl sie den „Stein des Anstoßes" aus dem Blickwinkel des „Nesthäkchens" heraus betrachtet, ist die Thematik dem Kind alles anders als gleichgültig. Also, jetzt mal konkret - wie verhalte ich mich in dieser hochsensiblen Angelegenheit, was sage ich meinen Kindern?

„Die Wahrheit!", höre ich meine Brüder rufen, „du musst ihnen die Wahrheit sagen!"

„Die Wahrheit, das ist mir klar, aber welche Wahrheit?"

Ich habe im Laufe meines Lebens feststellen müssen, dass allem Anschein nach mehrere „Wahrheiten" existent sind. Zu der Erkenntnis gelangt der Mensch zwangsweise, wenn er sich etwas intensiver mit den unterschiedlichen Parolen und Lebensweisheiten der auf Gottes Erden vertretenen Gruppierungen auseinandersetzt.

Welche der angebotenen Wahrheiten soll ich vertreten, ja an meine fragenden Kinder mit Überzeugung weiterzuleiten versuchen?

„Die Wahrheit wird euch freimachen!", diese Worte aus der Bibel werden von meinen Brüdern oft und gerne zitiert. „Wir haben die Wahrheit!", ist einer ihrer vordersten Standartformulierungen.

„Ihr haltet die Bibel in euren Händen und jenes Buch Gottes ‚beinhaltet‘ die Wahrheit!", und ich bin von dem was ich da sage fest überzeugt. „Ich erkenne und anerkenne eure aufrichtigen Bemühungen, nach biblischen Maßstäben zu handeln, und dennoch - oder gerade deshalb – werde ich meine Bedenken nicht verschweigen, werde meine Kritik an eurer ‚Umsetzung der biblischen Wahrheiten‘ nicht zurückhalten!"

Von einer konstruktiven Kritik spreche ich natürlich, von einer gemeinsamen, sorgsamen Betrachtung der problematischen Gegebenheiten rede ich selbstredend, keinesfalls von einem destruktiven Zerriss. Und das sollte zweifelsohne gestattet sein, oder? Oder ist es etwa „in Wahrheit" so, dass allein schon solche Bedenken nicht erlaubt sind, dass sich selbst eine derartige Kritik mit hoffnungsloser Vergeblichkeit um die Integration in das allgemeine Versammlungsgeschehen bemüht? Verhält es sich so?

Ist es das, was ich meinen Kindern mit auf den Weg geben kann, ist das die Wahrheit die ich ihnen – gekonnt geschminkt und raffiniert verpackt vielleicht – überreichen soll?

Nein, sowohl ihr meine lieben Brüder, als auch meine Wenigkeit, wir wissen verlässlich, dass es nur „eine" Wahrheit gibt – jedenfalls in dem von uns gemeinten Sinne –, und im Zusammenhang mit derselben, blättern wir aufmerksam, wenn auch derzeit leider nicht gemeinschaftlich, in den sechsundsechzig Büchern der uns überlassenen Bibel. Und das war’s dann - Punkt.

Mit den erwähnten, diversen Wahrheits- Existenzen, die sich mit einer Parolen-Vielfalt so elegant unter die Leute mischen, meine ich natürlich andere Wahrheiten. An welche ich da denke? Nun, die Angebotspalette ist fürwahr riesengroß, angefangen von den Irrtümlichen– über die Relativierten- bis hin zu den Gebeugten-Wahrheiten reichen die kühl gelagerten Offerten, die „Binsenweisheiten" mit schier unbegrenztem Verfallsdatum.

Komplott mit der Lüge unterstellen, obwohl auch diese Kooperation seit Menschengedenken nie einen Auftritt auf der Bühne des Lebens versäumte, sehe ich da kein einziges Vorurteil meinerseits. Allerdings steht ganz eindeutig die Gefahr der unbeabsichtigten Verwechslung, stets zum Sprung bereit, im Hintergrund.

Leider sieht der „Irrtum" der „Wahrheit" mitunter verblüffend ähnlich, und die Tatsache, dass sich eine „Gebeugt kriechende Relativierung" nur allzu gerne als eine „Aufrecht schreitende Wahrheit" verkleidet, stellt der Wahrheitsfindung permanent ein Bein. Derartige Verwechslungsmöglichkeiten kündigen sich in der Regel sogar selber an - ich vermute mal sie können sich diese Fairness leisten -, werden aber dennoch häufig unterschätzt oder übersehen.

Wenn wir also davon ausgehen, dass leider diese widrigen Umstände in Betracht gezogen werden müssen, ist dann nicht jeder noch so kleine Zweifel, der einer real sachlichen Überlegung entspringt versteht sich, ganz automatisch ein berechtigter Zweifel?

Ist dann nicht wiederum jede Kritik, die sich aus dem Zweifel ergeben sollte, eine unschätzbar wertvolle - eine konstruktive Kritik? Ja wäre dann nicht bereits die Verneinung der beiden letzt gestellten Fragen ein überaus gesunder Nährboden für eine relativierte - eine gebeugte Wahrheit?

Doch, das ist eine Aussage die ich dick und doppelt unterstreiche, die ich ohne weitere Bedenken „so stehen lassen" - und jederzeit in den „Zeugenstand" rufen werde.

„Ein dauerhaft unterdrückter Zweifel, eine beharrlich zurückgedrängte Kritik, ergibt eine bucklige, eine an Krücken hinkende, schwunglose – eine lahme Wahrheit!" Vielleicht kann ich das - zumindest das, damit ich nicht so nackt dastehe - fürs Erste als „eine" Wahrheit an meine Kinder weiterreichen.

Tja, Realitäten und Beanstandungen, Wirklichkeiten und Bedenken, Wahrheiten und Kritiken - wie schwer fällt uns Zeugen, uns Christen, uns Menschen, doch der Umgang mit ihnen ...

Derweilen haben sich Sonne und Wolken doch noch geeinigt. Das Außenthermometer offenbart inzwischen 21° Celsius, kommt meiner Erwartungshaltung, die ich bezüglich der Lufttemperatur eines wonnigen Maitages habe, mit großen Schritten entgegen, und versichert mir augenzwinkernd, dass es weiterhin langsam aber beständig zu steigen beabsichtigt.

Aus dem Treppenhaus meldet das solide Schlagwerk der Uhr gehorsam die Tageszeit. Die Versammlung ist beendet - Hanna dürfte jeden Moment eintreffen.

Schön ist er, der Blick über den Garten, besonders in den ersten Tagen des Frühlings...

„Auch eine Wahrheit, sogar eine besonders schöne", flüstere ich dem Apfelbaum zu, „daran ist nichts auszusetzen - Gott sei Dank nicht das Geringste zu kritisieren."

Das was ich meinte unbedingt schreibend sagen zu müssen, was ich unbedingt erwähnen wollte, sagte ich bereits. Entscheidendes, in Hinsicht auf das von mir erwählte Thema, hielt ich meines Wissens nicht zurück. Zusätzliches will ich nicht provozieren, dabei bleibe ich.

Das stolze Bäumchen sieht zu mir herüber, blickt zu mir hoch, zum Obergeschoss des Hauses - immer noch, oder schon wieder, frage ich mich? Ich glaube es flüstert mir ebenfalls etwas zu, sehr leise, kaum vernehmbar für mein Dafürhalten, scheint es mich - ausgerechnet mich - zu zitieren:

„Also, du Geschöpf, das unbestritten überaus zur Ablenkung neigst, du bist sicherlich gut beraten, wenn du die dir von Gott verliehene, sensible Gabe der Kritikfähigkeit keinesfalls kränkst. Du solltest sie gefälligst, in aller Ruhe und Besinnlichkeit, ihre wertvolle Arbeit verrichten lassen, und zwar allein, möglichst ohne jegliche Einmischung dritter. Die Möglichkeit „kritisch sehen zu können", hält dich, du unruhiger Mensch, sehr wohl wach, provoziert dein Denken, lässt dich Empfindungen in Eigenverantwortung verarbeiten."

Vermutlich ist es unvernünftig, sich mit einem Apfelbaum zu unterhalten, zumindest den Sinn länger anhaltender Gespräche, mit jenem Vertreter der Natur, könnte man mit Recht in Frage stellen. Mag sein, dass dem so ist. Vermutlich zeugt eine Unterhaltung zwischen einem Menschen und einem Baum von Unvernunft, aller Wahrscheinlichkeit nach ist allein der Versuch, einen solchen Dialog aufnehmen zu wollen, als Absurdität zu bezeichnen. Wahrscheinlich könnte, sollte und dürfte ein betriebsamer „Mensch - Baum Gedankenaustausch" in Frage gestellt werden, mag sein, vieles deutet darauf hin... Aber genug ist genug, da ich - in und zwischen meinen Zeilen - so einiges in Frage stellte, sehe ich meine Tätigkeit als Fragensteller längst als beendet an. Ja, bestimmt, ich habe meine Pflicht erfüllt, habe meinen Berg abgetragen, meine Arbeit ist erledigt. Wie dem auch sei, ganz sicherlich werde ich den Kontakt zu unserem Obstbaum nicht abbrechen, werde mich weiterhin mit dem wackeren „Finkenwerder Herbstprinz" unterhalten. Ich habe mir allerdings fest vorgenommen, darüber nichts mehr schreibend zu berichten.

Obwohl - interessant wär’s schon, das Thema. Doch, gewiss, über einen Dialog mit den Bäumen, über etwaige Bemühungen Aussprachen zu ermöglichen, kann man gar nicht genug reden und berichten. Die Themenstellung ist relevanter denn je. Und gesetzt den Fall, es gelänge uns Menschen eine Beziehung zu unseren Bäumen herzustellen, einen Bezug zu ihnen aufzubauen, nur mal angenommen wir würden das schaffen, ja dann sollte das unsere Hoffnung nähren, irgendwann einmal, und sei es über diesen schmalen Pfad, mit der alten Mutter Natur in Verbindung treten zu können - oder? Sei’s drum - wie gesagt, es langt -, keine weiteren Fragen, und entsprechend keine weiteren Antworten und Erklärungen mehr diesbezüglich, genug ist genug. Was mich betrifft, es ist mir egal was die Leute denken, ich werde mich jedenfalls weiterhin mit dem Apfelbaum in unserem Garten zu unterhalten wissen. Diese Berührungen sind mir wichtig, ja, äußerst wichtig sogar. Weil es in der Natur der Sache liegt, dass er nicht wegläuft, weil sichergestellt ist dass wenigstens er mir zuhört? Nein, natürlich nicht, Bäume sind doch nicht wirklich in der Lage zuzuhören! Dann ergibt die Beziehung keinen Sinn, weil es ebenso in der Natur der Sache liegt, dass Bäume auch nicht in der Lage sind sich mitzuteilen? Oh, das ist ein Irrtum, ein fataler Trugschluss, Bäume können sich mitteilen, sie gehören zu den besten Erzählern die mir bekannt sind! Man muss ihnen und ihren Geschichten nur etwas Zeit widmen, beginnen sie erst einmal zu plaudern, so hören sie so schnell nicht wieder auf damit. Ein wenig Zeit, und die Bereitschaft näher hinsehen zu wollen, das sind die beiden einzigen Voraussetzungen die der Mensch in den gefalteten Händen halten sollte, wenn er beabsichtigt sich an seine Bäume zu wenden. Vieles deutet darauf hin, dass der Mensch, die Bäume und der Augenblick aufeinander angewiesen sind. Wenn das der Wahrheit entspricht, dann kann nur ein Bündnis zwischen diesen Kräften das einzig Vernünftige sein. Einen einsichtsvollen Pakt sollten sie schließen, eine freundschaftliche Übereinkunft treffen, das Individuum, das Land und der Atemzug. Das könnte klappen, so war’s geplant, die Möglichkeiten sind gegeben.