Die Zeugen Jehovas gehören zu den bekanntesten nichtkirchlichen Religionsgemeinschaften in Deutschland.

Die Mitgliederzahl beträgt nach eigenen Angaben weltweit rund sechs Millionen, in Deutschland sind es etwa 165.000, in der Bundeshauptstadt Berlin schätzungsweise 7.000 Mitglieder. Hauptsitz in der Bundesrepublik ist im hessischen Selters im Taunus.

1881 wurde die "Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft" von dem ehemaligen Adventistenprediger Charles Taze Russell in den USA gegründet. Die Lehre der Wachtturm-Gesellschaft beruht auf einer fundamentalistischen Auslegung biblischer Texte. Im Mittelpunkt steht dabei nach Angaben von Weltanschauungsexperten die Erwartung des Weltuntergangs, der endzeitlichen Vernichtungsschlacht "Harmagedon". Alles "Böse" werde Gott in dieser Schlacht ausrotten, nur die Zeugen Jehovas werde er verschonen. Es wird inzwischen jedoch nicht mehr daran festgehalten, dass die "Generation von 1914", zu deren Lebzeiten die Schlacht stattfinden sollte, das Weltende noch erleben wird. Kirchliche Traditionen und Gebräuche wie das Feiern von Weihnachten, Ostern, Geburtstagen oder die Kindertaufe werden als unbiblisch verworfen. Staatliche Gesetze werden von den Zeugen Jehovas respektiert, doch politische Betätigungen wie die Teilnahme an Wahlen und die Ableistung von Wehrdienst lehnen sie ab. Die Zentrale befindet sich in Brooklyn (New York), die deutsche Leitung hat ihren Sitz in Selters im Taunus.

Sektenexperten kritisieren "totalitäre Strukturen", Verletzung der Grundrechte auf Meinungsfreiheit und Achtung der Menschenwürde. Das Bundesverwaltungsgericht in Berlin hatte 1997 die Anerkennung der Zeugen Jehovas als Körperschaft des öffentlichen Rechts und ihre Gleichstellung mit den großen Kirchen abgelehnt. Zur Begründung gab das Gericht u.a. an, das Verbot der Teilnahme an Wahlen stehe im Widerspruch zum staatlichen Demokratieprinzip. Die Organisation rief daraufhin das Bundesverfassungsgericht an.

Nur nach dem Verhalten, nicht nach dem Glauben beurteilt

BERLIN, 19. Dezember. Die Zeugen Jehovas können sich berechtigte Hoffnungen machen, doch noch mit anderen Religionsgemeinschaften gleichgestellt zu werden. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichtes hat am gestrigen Dienstag entschieden, dass den Jehovas wegen "mangelnder Staatsloyalität" allein nicht der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes verweigert werden könne. Der Begriff der Staatsloyalität ist nach Auffassung der Richter "zu vage". Religionsgemeinschaften müssten ihr Wirken "nicht an den Interessen und Zielen des Staates ausrichten". Ihre Bestrebungen nennen die Richter "apolitisch". Sie richteten sich auf ein Leben jenseits des politischen Gemeinwesens. Eine Religionsgemeinschaft sei auch nicht nach "ihrem Glauben, sondern nur nach ihrem Verhalten" zu beurteilen. Damit ist ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes (BVG) aus dem Jahr 1997 aufgehoben. Das in Berlin ansässige Gericht muss erneut, so die Karlsruher Richter, eine "komplexe Prognose" vornehmen.

Das Karlsruher Gericht erteilt eine Reihe von Vorgaben. So soll das Bundesverwaltungsgericht beispielsweise prüfen, ob die von den Jehovas empfohlenen Erziehungspraktiken "mit Stock und Rute", die Ablehnung von Bluttransfusionen oder die rigorose Behandlung von Austrittswilligen Grundwerte der Verfassung verletzen. Der Staat sei verpflichtet, menschliches Leben und die körperliche Unversehrtheit zu schützen.

Land Berlin beharrt auf Ablehnung

Für die Zeugen Jehovas ist die Annahme ihrer Verfassungsbeschwerde ein Teilerfolg. Das Land Berlin hatte in dem mittlerweile zehn Jahre langen juristischen Streit durch mehrere Instanzen die Frage der Staatsloyalität zum Hauptargument erhoben. "Berlin bleibt nach wie vor bei seiner ablehnenden Haltung gegenüber den Zeugen Jehovas", sagte Senatssprecher Michael-Andreas Butz am Dienstag. Der für Religionsfragen zuständige Senatsrat Wolf-Dietrich Patermann sagte, das Land wolle Sachverhalte wie die Prügelstrafe gegen Kinder aufklären und im neuen Verfahren vortragen. "Die Jehovas berücksichtigen einige Grundrechte nicht so, wie es im Grundgesetz vorgesehen ist", sagte Patermann.

Das Bundesverwaltungsgericht hatte den Jehovas ähnliche Rechte wie den großen christlichen Kirchen und rund 30 weiteren Religionsgemeinschaften zugestanden. Unter Berufung auf die Weimarer Reichsverfassung von 1919 und das Grundgesetz wären demnach alle Religionsgemeinschaften Körperschaften des öffentlichen Rechts, sofern sie "durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr auf Dauer bieten." Auch das Bundesverfassungsgericht beruft sich in dem Urteil vom Dienstag auf die in den Grundgesetzartikeln 137 und 140 verankerte "Gewähr auf Dauer". Der Glaube der Jehovas an das bevorstehende Weltende verletze diesen Grundsatz nicht: "Im Übrigen hat bereits einige Male ein von der Beschwerdeführerin vorhergesagter Weltuntergang nicht stattgefunden, die Religionsgemeinschaft aber weiter Bestand. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist daher ihre Dauerhaftigkeit nicht zu bezweifeln." Zudem erlaube die Religionsfreiheit Meinungsverschiedenheiten mit einzelnen Behörden und Vorbehalte gegen einzelne Gesetze.

Als Voraussetzung für den Körperschaftsstatus fordert das höchste Gericht allerdings, "Recht und Gesetze zu achten und sich in die verfassungsmäßige Ordnung einzufügen." Verfassungsprinzipien und die Grundrechte Dritter dürften nicht gefährdet sein.

URTEIL
Karlsruher Toleranzedikt

Christian Bommarius

Auf Glaubensfragen mag jeder seine eigene Antwort geben - nur der Staat ist zum Schweigen verpflichtet. Nicht er kann von den Religionsgemeinschaften "Loyalität" verlangen, sondern allein das Grundgesetz. Denn die Neutralität, zu der sich der Staat in Glaubensfragen verpflichtet hat, zwingt ihn zur Enthaltsamkeit. Nähe oder Distanz einer religiösen Gruppe zu ihm und seinen Institutionen darf er weder belohnen noch bestrafen. Deshalb verlangt das Grundgesetz von Religionsgemeinschaften, die nicht zuletzt aus steuerlichen Gründen den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts begehren, nur die "Gewähr der Dauer" und - konkludent - die Beachtung der in ihm verankerten Prinzipien. Und deshalb ist von "Staatsloyalität" aus wohl erwogenen Gründen nicht die Rede. Diese Hürde aber hatte das Bundesverwaltungsgericht den Zeugen Jehovas errichtet und deren Zulassung als Körperschaft mit der Begründung verweigert, ihre Abstinenz bei Wahlen lasse auf mangelnde Loyalität zum Staate schließen. Klar und unmissverständlich hat der Zweite Senat diese Auffassung als Verletzung der staatlichen Neutralitätspflicht gerügt. Damit hat er nicht nur den rund 195 000 Zeugen Jehovas in Deutschland einen guten Dienst erwiesen - die ihre Loyalität zum Grundgesetz übrigens erst noch beweisen müssen -, sondern auch jenen islamischen Gruppen, die ebenfalls seit längerem den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts begehren.

Keine Übertreibung - das ist ein Karlsruher Toleranzedikt.

Quelle: Berliner Zeitung, 20.12.2000