Hatte Gott gelogen, als er das mögliche Todesurteil in Genesis 2, 17 an Adam und Eva in 3, 19 nicht „an dem Tag“ בּיוֹם [bejōm] vollstreckte?

4 Es war zu der Zeit [bejōm], da Gott der HERR Erde und Himmel machte.
17 Aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tage [bejōm], da du von ihm issest, mußt du des Todes sterben.

Genesis 2, 4.17
Stuttgarter Erklärungsbibel, 2. Auflage 1992, Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart.

Das hebräische Wort für die deutsche Wiedergabe mit „Tag“ lautet in Gen 2, 17 יוֹם (yowm oder jōm), wogegen jamîm Plural ist und nicht nur „Tage“, sondern auch einen längeren Zeitabschnitt bezeichnen kann, z. B. „die Tage des Lebens“ eines Menschen (Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Bd. III, S. 579). Die beiden Begriffe werden aufgrund der damit meistens zusammenhängenden adverbiellen Wendungen getrennt behandelt. yowm mit vorausgehendem Adverb wird eine wesentlich größere Rolle beigemessen. So steht daher in Gen 2, 17 בּיוֹם (bəyowm oder bejōm). Zu dieser Verbindung mit dem Adverb ist es sehr aufschlussreich, was das Theologische Handwörterbuch zum Alten Testament zu sagen hat:

Verhältnismäßig häufig ist hier die Konstruktion bejōm + Inf. »am Tage, da… = zur Zeit, da… = als/wenn«.

Ernst Jenni, Chr. Kaiser Verlag München, Theologischer Verlag Zürich, Bd. I, S. 711.

Auch in Gen 2, 4 („zu der Zeit“, da…“) und Vers 17 („an dem Tag“) finden wir die so beschriebene Konstruktion bejōm vor. Im Gleichen Werk wird noch ein Beispiel aus Gen 2, 4 angeführt, wo es heißt: „zur Zeit, da [bejōm] Gott der Herr Erde und Himmel machte“. Ein weiteres Beispiel ist „2Sam 22, 1 = Ps 18, 1“, wo es heißt: „Zur Zeit, als [bejōm] Jahwe ihn aus der Hand aller seiner Feinde errettet hatte“. Auch hier begegnen wir die Konstruktion bejōm + Inf., die am häufigsten in 4Mo und 2Mo auftaucht (über 60 x), unter anderem aber auch in unseren z. Zt. stark kontrovers diskutierten Stellen Gen 2, 4, 17. Aber auch beispielsweise in Gen 3, 5; 5, 1.2; 21, 8, wo man es sehr gut vergleichen kann.

Meine Nachforschungen haben ergeben, dass in diesem Fall der Tag nicht metaphorisch oder sinnbildlich aufgefasst werden muss, um die vermeintliche „Inkonsequenz“ Gottes zu verteidigen. Aber ergibt sich daraus der Umkehrschluss, dass in Gen 2, 17 mit „des Todes sterben“ eigentlich nur „sterblich“ gemeint sein kann, um die vermeintliche Lüge Gottes doch noch „retten“ zu können? In dem Werk Das Alte Testament - Interlinearübersetzung - Hebräisch-Deutsch finden wir die Wort-für-Wort-Übersetzung: „!getötet-du-wirst Tod“. Es ist die Wiedergabe der hebräischen Wendung תּוּמּת תוֹמּ (mowt tomuwt bzw. mōt tamût). Im Theologischen Wörterbuch zum Alten Testament heißt es dazu:

Diese Aussage [in Gen 3, 19] ist offenbar als allgemeine Verordnung der Sterblichkeit aufgefaßt worden, denn v. 22 verweigert dem Menschen den Zugang zum Baum des Lebens, der „ewiges“ Leben verleihen könnte. So wird auch die Formel mōt tamût zu einer generellen Aussage über die Sterblichkeit des Menschen. Dabei wird der Ungehorsam des Menschen als Grund der Sterblichkeit dargestellt.

Bd. IV, S. 784.

Wenn das das Verständnis von mōt tamût ist, würde es bedeuten, dass Gott eigentlich sagte: „denn an dem Tage, da du von ihm issest, [wirst du sterblich werden]“. In diesem Fall hätte er eine generelle Aussage darüber getroffen, was dem Ungehorsam nach sich zieht. Man könnte Gott hier weder der Inkonsequenz noch der Lüge beschuldigen. Im Lexikon für Theologie und Kirche heißt es mit Verweis auf Gen 2, 17 und andere Stellen:

„Die Sterblichkeit des Menschen ist eine Grundaussage der atl. Anthropologie (Gen 2, 17; 3, 19; Jos 23, 14; 2Sam 14, 14).“

Bd. 9, S. 983.

Es ist zwar richtig, dass der Mensch seit dem Sündenfall sterblich wurde, aber genau das ist in Gen 2, 17 nicht gemeint. Im Biblischen Kommentar zum Alten Testament wird endlich der Frage nachgegangen, ob die Strafe eingetreten ist, als das Verbot übertreten wurde oder nicht. Es wird festgestellt, dass תּוּמּת תוֹמּ nicht etwa den sofortigen Tod bedeutet, sondern es handelt sich um eine Verurteilung zum Sterben. Angeführt werden zwei Bibelübersetzer (EASpeiser und Ucassuto) welche jeweils übersetzten: „you shall be doomed to death“ („du wirst zum Tode verurteilt sein“) und „you will be unable to achieve eternal life, you will be compelled one day to succumb to death“ („du wirst das ewige Leben nicht erlangen vermögen, du wirst eines Tages unweigerlich dem Tod unterliegen“). Im Kommentar wird - jetzt für uns und auch für mich überraschend - nun folgendes festgestellt:

Hinter dieser Deutung steht offenbar das Bemühen, der sonst notwendigen Folge auszuweichen, daß die Ankündigung einer Todesstrafe nicht eintrifft. Diese Deutung aber ist ausgeschlossen durch den festgelegten Sinn der sehr häufig für die Todesstrafe gebrauchten Formel תּוּמּת תוֹמּ. Sie kann unmöglich bedeuten „du wirst sterblich werden“ oder: „du wirst später einmal, nach vielen Jahren, sterben“. Diese Deutung wird denn auch von den meisten Exegeten abgewiesen. Dann ist aber HGunkel (und vielen anderen) in der Folgerung zuzustimmen: „Diese Drohung geht nachher nicht in Erfüllung: sie sterben nicht sofort; dieser Tatbestand ist nicht wegzuerklären, sondern einfach anzuerkennen“ (so auch u.a. WHSchmidt). […] Nachdem die Menschen von dem Baum gegessen haben, ist eine neue Lage eingetreten. In dieser Lage handelt Gott anders, als er es vorher angekündigt hatte. Diese „Inkonsequenz“ Gottes ist für die Erzählung wesentlich; sie zeigt an, daß das Handeln Gottes nicht festgelegt werden kann, auch nicht durch vorher versprochene Worte Gottes. Eben damit aber wird das Handeln und das Reden Gottes mißdeutbar, und davon macht die Schlange Gebrauch.

Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins Neukirchen-Vlyn 1974,
1. Teilband, Genesis 1-11, S. 305-306.

Man kann es also drehen und wenden wie man will: die Strafe wurde nicht sofort - auch nicht an „dem Tag“ (bejōm) - vollzogen. Folglich ist in Gen 2, 17 auch nicht von „Sterblichkeit“ die Rede. Demnach hat sogar die Schlange die Wahrheit gesagt und Gott nicht. Es ist zwar unangenehm, aber wir haben uns diesem Text stellen. Ich gehe hier aber nicht von einer Lüge Gottes in dem negativen Sinne aus, wie wir heute Lüge auffassen, denn es gibt auch Lügen im positiven Sinn und sind daher moralisch nicht verwerflich. Den Begriff „Lüge“ abzuhandeln, würde hier jedoch den Rahmen sprengen. Ich komme darauf ggf. später zurück. Man mag aber zumindest von einer Inkonsequenz Gottes ausgehen, auch wenn dies anmaßend klingt und ein wenig Unbehagen bereiten mag, aber einer Inkonsequenz aus Gnade. Ich schlage vor, dass wir hier bei dem Begriff „Inkonsequenz“ bleiben, da der Begriff Lüge hier noch nicht geklärt ist und Inkonsequenz unmissverständlicher ist. Es ist ein Abstraktum, auf das man sich besser „einigen“ kann - bis wir auch die „Inkonsequenz“ beseitigt haben! Warum die „Lüge in Wirklichkeit Gnade bedeutet, glaube ich weiter unten in einem kurzen Satz treffend auf den Punkt gebracht zu haben. Der Vorteil, den unsere Feststellung hat, liegt unter anderem darin, dass nun die Stelle in Gen 2,17 nicht im Widerspruch zu der Tatsache steht, dass das erste Menschenpaar nach der Vertreibung aus dem „Garten Eden“ ein Leben in Mühsal verbringen musste, um dann schließlich zu sterben. Der Widerspruch wäre jedoch gegeben, wenn das Todesurteil sofort, „an dem Tag“ (bejōm), vollstreckt worden wäre. Aber wie steht es nun mit der vermeintlichen „Inkonsequenz“ Gottes? Im Kommentar der Stuttgarter Erklärungsbibel wird auf Gen 3, 19 eingegangen:

Gott hat demnach die in 2, 17 angedrohte Todesstrafe nicht vollstreckt (mußt du des Todes sterben dort kann nicht bedeuten: »wirst du sterblich werden«). Der Schöpfer gewährt den schuldigen Menschen das Leben. Das ist nicht Inkonsequenz oder Schwäche, sondern ein Erweis seiner Gnade.

S. 13.

Gnade ist somit weder Lüge noch Inkonsequenz. Die Einschätzung, ob es sich dabei um „Inkonsequenz“, „Lüge“ oder „Gnade“ handelt, bleibt natürlich jedem selbst anheim gestellt. Ich persönlich gehe von Gnade aus, denn wenn alles vorher schon festgelegt ist, kann es auch keine Gnade mehr geben. Die Gnade kann nicht gleichzeitig als Lüge oder Inkonsequenz qualifiziert werden.