Eigentlich lag es in meiner Absicht, den Blicken der beiden mich trist- neutral anlächelnden Personen ebenso zu begegnen, wie ich es nur wenige Minuten zuvor mit dem Blickkontakt, der sich zwischen dem Verkäufer der Zeitschrift „Hinz & Kunzt“ (ein Hamburger Magazin) und mir ergab, gehalten habe: zügig weitergehen, mit einer kurzen nichtsdestotrotz freundlichen „Kopf-Nick-Zurück-Lächel-Geste“; dass ich mich dann dennoch anders entscheide liegt sicherlich nicht zuletzt daran, dass derartige Weichenstellungen der Gelegenheitskommunikation sich innerhalb von nur Bruchteilen einer Sekunde ergeben.
Die Tatsache, dass ich nach kurzem Innehalten nunmehr stracks auf die den „Wachtturm“ feilbietenden Herren mittleren Alters zugehe, quittieren jene mit einem nun deutlich aufmerksameren Lächeln, mit einem das sich allem Anschein nach von „müde“ zu „munter“ empor zu hangeln versteht - mit einem das unzweideutig eine gewisse „Erwartungshaltung“ offenbart. Mit leicht angewinkelten Armen halten die beiden „Zeugen der WTG“ die Ausgabe ihrer Organisation in die Höhe, ein Bild, an das sich mehr oder weniger jeder Bürger unserer Republik hinlänglich gewöhnt haben müsste.
Die wenigen Schritte, die benötigt werden, um sich aus der zum U-Bahnhof drängenden Menge heraus und zu den besagten Herren hin zu begeben, liegen hinter mir. Die Exemplare der Zeitschrift „Der Wachtturm“ sind nicht die neuesten, nein, aus einem Abstand von rund etwas über einem Meter erkenne ich das Datum: „15. Mai 2005“! Die erste Hälfte des Monats August gehört bereits der Vergangenheit an - der Kalender zeigt auf den 26. 08. 2005 -, die Ausgaben sind somit recht alt! Als ehemaliger „Zeuge“ kenne ich die Argumentation, die diesbezüglich verlässlich aus den Reihen jener Bruderschaft ertönt: „die behandelten Themen unterliegen keiner Alterung!“
„Die "Geistige Speise" vom ‚Treuen und verständigen Sklaven’ bleibt aktuell!“ - mit solchen, oder ähnlich solchen Argumenten „konserviert“ die WTG sicherheitshalber ihre Druckerzeugnisse, und es kommen tatsächlich nur wenige der „Brüder“ und „Schwestern“ auf die Idee, dass es sich - abweichend von dieser Behauptung - je anders verhalten könnte. Die Darlegungen der Organisation werden den „Weltmenschen“ - wie sie von den „Zeugen“ doch so gerne genannt werden - ununterbrochen angeboten, ob sie sich interessiert zeigen oder nicht, das spielt keine tragende Rolle, nein, das war zu keiner Zeit der Fall, ebenso wenig, wie es bis dato von Belang war, wie alt die jeweils angepriesenen Botschaften sind.
Vor mir stehen zwei Menschen, die - was das äußere Erscheinungsbild betrifft - unterschiedlicher nicht sein können. Vor mir rechts, ein dunkelbrauner „Bürogehilfen- Anzug“, dessen obere Hälfte ein relativ bunt gemustertes Flanellhemd umhüllt, und vor mir links, ein beigegrauer „Geschichtslehrer-Anzug“, der, ebenfalls im oberen Bereich, vergeblich versucht das blendend aufdringliche Weiß eines etwas zu eng anliegenden Oberhemdes zu kaschieren. Beide Vertreter der WTG haben sich für eine Krawatte entschieden, die jeweilig - wenn überhaupt - zu dem Hemd des Partners passen würde, eine Gegebenheit, die sich kaum ignorieren lässt. Keineswegs will ich mich abfällig über dieses Outfit äußern, wirklich nicht, erstens steht es mir keinesfalls zu, und zweitens bin ich mir durchaus darüber im Klaren, dass ich - was meine Ausstattung betrifft -, würde man mir einen „Wachtturm“ reichen, ebenfalls als ein „Christ im Straßendienst“ auftreten könnte. Also was soll’s, ich wollte nur mal drauf hinweisen, es fällt mir eben auf, mehr nicht.
„Hallo!“ freundlich begrüße ich die soeben von mir frisch erwählten Gesprächspartner, und - „interessiert sich noch jemand für die ‚Botschaft’?“
Die besagten Zeitschriften der Ausgabe „Der Wachtturm“ beginnen mich zu blenden. Es liegt daran, dass man beide Exemplare - vermutlich um selbige bestmöglich zu schonen - jeweils in einer sogenannten „Klarsichthülle“ platziert hat. Diese Schutzhüllen reflektieren die Einstrahlung der Nachmittagssonne. Ein Produkt der Zufälligkeit, denke ich mir. „Zack!“ - wie auf Kommando werden die zwei leicht angewinkelten Arme in Richtung „Körper“ bewegt, so kommt es mir jedenfalls vor, „zack!“ - es kann sich nur um wenige Millimeter gehandelt haben, aber augenscheinlich sind die Arme auf der Flucht in Richtung „Festung“. Wie auch immer. Die Klarsicht-Schutzhüllen haben bereits eine umfangreiche Einsatzbereitschaft gezeigt, sage ich mir, ihr aufrichtiges, erfrischendes „Klar“ ist längst einem unsympathischen „Gilb“ gewichen. „Klarsichthüllen“ - derartige Diener der Bürokratie mag ich nicht besonders, und vergilbte schon gar nicht.
„Sind sie an der Hoffnung interessiert, die uns durch Gottes Wort ‚Die Bibel’ vermittelt wird?“ lächelt es mir aus der rechten Seite herüber, und „was glauben Sie, wer die Probleme unserer Zeit dauerhaft lösen wird - die Politiker der Erde oder unser Schöpfer?“
Mir fällt auf, dass ich jetzt gerade nicht mehr geblendet werde. Das muss mit dem „Arm-Zack“ in Richtung „Körperfestung“ zusammenhängen, so denke ich. Die Arme, und mit ihnen ganz zwangsweise die „Schutzhüllen“, haben die Position gewechselt, eine die dem Lichte eine andere Richtung weist. „Der Wachtturm verkündigt Jehovas Königreich“ und darunter „Eine Welt ohne Armut ist nicht mehr fern“ - lässt sich gegenwärtig auf der Titelseite, hinter der schützenden Kunststoffschicht, eindeutig lesen.
„Interessiert bin ich zweifellos“ gebe ich sofort zu „an der ‚Christlichen Hoffnung’ sowieso“ „allerdings schaffen es meine berechtigten Zweifel immer wieder, meine diesbezügliche Zuversicht stark zu filtern!“
Die Blicke der beiden Boten Gottes treffen sich - jeweils von rechts und von links einfallend - unmittelbar vor meinem Körper, so empfinde ich es zumindest, dort abbremsend, vereinigen sie sich, um dergestalt, gemeinschaftlich meine zu erwartenden Ausführungen zu fokussieren. Aber vielleicht täusche ich mich ja auch, wer weiß das schon, möglich wäre es.
„Es freut uns sehr, Menschen zu treffen, die einen Glauben haben - die an Gott interessiert sind. Das ist heutzutage nicht mehr selbstverständlich!“ Die betont bedachtsam wie höfliche Stimme kommt von links, von dem Herren mit dem beigegrauen Anzug. Jener sieht flüchtig zur Seite, ersucht vermeintlich um Ablösung bei seinem Nachbarn.
Die beiden scheinen sich abzulösen, bilden höchstwahrscheinlich - was das Predigen im Straßendienst betrifft - eine zuverlässige, eingespielte Partnerschaft. „Der Straßendienst“ denke ich laut „Mit dieser Variante des ‚Zeugnisgebens’ konnte ich mich zwar nie sonderlich anfreunden, habe aber dennoch diesen ‚Dienst’ hin und wieder abgeleistet.“
Wie zu erwarten unterbricht meine Aussage, die bereits den Charakter eines begonnenen Geständnisses aufweist, jäh die Routine der Kommunikationsebene - jedenfalls was diese beiden „Prediger der Guten Botschaft“ betrifft -; für die nächsten Sekunden befehligt der weise „Richter Nachdenklichkeit“ den Gerichtssaal zur Ruhe. Aus meiner Sicht heraus eine verständliche Maßnahme, die ich gut nachvollziehen kann.
Um die Unterhaltung nicht in eine unwürdige Transaktion der Mutmaßlichkeiten abgleiten zu lassen, bestätige ich die Vermutungen, die ich meine den Gesichtszügen meiner Gegenüber entnehmen zu dürfen. „Ja, ich bin ausgeschlossen!“ bekenne ich. „Rund 35 Jahre war ich ein bekennender ‚Zeuge Jehovas’, vor einigen Monaten wurde ich seitens der Ältestenschaft ‚meiner’ Versammlung ausgeschlossen“ und um mein Geständnis abzurunden: „ich bin genau das, was ihr als einen ‚Abtrünnigen’ bezeichnen und somit ächten sollt.“
Die Physiognomie der vor mir stehenden Seelen duldet keinen Raum für etwaige Zweifel: die Szenerie hat gewechselt. Schlagartig! Der Kulisse „Hoffnung auf ein Gespräch in Richtung Königreichsbotschaft“ wurde nun die Kulisse „Was muss jetzt getan werden um der Situation in göttlich- würdiger Weise gerecht zu werden“ vorgeschoben. Die Kulisse „Dies ist jetzt aber peinlich“ lässt sich als präsent erahnen, desgleichen die Bühnenwand „Geh mit Gott, aber geh!“
Mir wird das Ganze unangenehm, bin mir zwar keiner Schuld bewusst, aber kann mich dem Gefühl nicht entziehen. Vor mir stehen zwei Menschen, die, ihrer Überzeugung gemäß, ihrer vermeintlichen Verpflichtung nachkommen - eine Handlungsweise die ich stets, und nicht nur im Zusammenhang mit der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, sehr anerkannt habe -, und ausgerechnet ich habe hier nichts besseres zu tun, als diese christlich motivierten Erdenbürger in solch eine unangenehme Lage hinein zu manövrieren. Oder haben sie mich - oder hat man uns - auf dem Gewissen? Wer sollte wem gegenüber Eingeständnisse machen, sollte Kompromissbereitschaft signalisieren? Eine fürwahr wahnwitzige Konstellation der zwischenmenschlichen Gegebenheiten.
Zu spät! Inmitten meiner Überlegung, nämlich ob ich meinen Gesprächspartnern meine Geschichte kurz umrissen erzähle, ertappe ich mich dabei, dass ich längst dabei bin von meiner jüngst gemachten Erfahrung zu berichten. Ehe ich mich versehe - und die Willigkeit der Herren, das Geschehene überhaupt erfahren zu wollen, vorraussetzend -, informiere ich jene, bezüglich meiner Vergangenheit als ein Zeuge Jehovas. Von all meinen Fragen berichte ich ihnen, von den Fragestellungen, die sich mir im Verlaufe der Jahre stellten, die ich dann - nachdem sie seitens der ansässigen Ältesten nicht, oder eben nur unbefriedigend beantwortet wurden - an „Selters“ richtete. Von den kurzen wie nichtssagenden Briefen, die, nach wochenlangem Warten, aus dieser Richtung an mich gesandt wurden, von den Schreiben, die derartig „geruchsneutral“ verfasst waren, dass der Tatbestand des beabsichtigten Ignorierens mehr als gegeben war. Von meiner ratlosen Traurigkeit berichtete ich ihnen, von der Traurigkeit, die sich unaufhaltsam, langsam aber sicher, in Zorn umwandelte. Ja und natürlich berichtete ich ihnen, wie die ganze Geschichtete endete, wie sie - dem Gesetz der Logik der WTG folgend - enden musste. Ausschluss! Gemeinschaftsentzug! Exkommunikation!
Bereits während meiner Ausführungen, lässt es sich den Blicken der beiden „Brüder“ leicht entnehmen: mit dieser Enthüllung wird mein Urteil an diesem Orte noch einmal bestätigt. Keine Bedenken, keine Abwägung der vorhandenen Beweise, auch hier und jetzt nicht, nein, ohne jegliche Relativierung - ein klares „Schuldig“! Mir sind die Gesten der brüderlich-liebevollen, kollektiv-pauschalen Aburteilungen bekannt, ich kenne sie nur zu gut, habe sie in den vergangenen Wochen von allen Seiten (er)leben dürfen. Nicht, dass ich mich hier beklagen will, das trifft es nicht, meine Zuhörer würden auch das nicht verstehen, würden einen etwaigen Hinweis, auf die schier mittelalterlichen Methoden ihrer Führung, nicht sinnvoll verarbeiten- ja nicht einmal notdürftig realisieren können. Also was soll’s.
„Kritik an der ‚Organisation’ wird nicht geduldet!“ mit diesen Worten beende ich mein kleines Referat „wer die WTG kritisiert wird letztlich exkommuniziert!“ ich versuche meine Gegenüber gleichzeitig anzusehen, suche einen klaren Augenkontakt mit ihnen zu erringen „ob der etwaige Kritiker de facto ‚Recht’ oder ‚Unrecht’ hat, findet keine Berücksichtigung!“
„Die Möglichkeit der Reue ist ein fester Bestandteil unsere Hoffnung!“ Ein Gemisch aus Ratlosigkeit und Mitleid sendet sich - ich weiß nicht ob von links oder von rechts - mir entgegen, versucht die nur wenigen Zentimeter zwischen ‚Lauterkeit’ und ‚Sünde’ zu überbrücken. Ein schier unerreichbares Unterfangen. „Du wärst nicht der erste der bereut, und so zurück in die Gemeinschaft findet!“ Betretenes Schweigen. „Hast du dir das einmal überlegt?“
„Diese Kleider!“ „Diese Klarsichthüllen!“ „Dieser Straßendienst!“ Ich kann es nicht erklären, wieso sich mir all das ausgerechnet jetzt in den Sinn drängelt, wieso sich diese Äußerlichkeiten gerade jetzt breitarschig in die erste Reihe meiner Tagesbühne setzen müssen, jetzt, wo sich mir Weißgott eine andere Aufgabe stellt. „Diese Anzüge!“ höre ich mich denken „dieser Aufzug!“ „Nun muss ja ein Mensch, der den ‚Wachtturm’ feilbietet, nicht unbedingt gekleidet sein wie einer der just die ‚Wiener Philharmoniker’ dirigiert“ sage ich mir „aber dessen ungeachtet vermittelt mir das Erscheinungsbild meiner Gesprächspartner ein Gefühl, das allein eine ‚Uniformierung’ in der Lage ist mir zu vermitteln.“ Bevor meine Gedanke vollends abschweifen, unterbreche ich die Unterhaltung zwischen meinem Herzen und meinem Verstand. „Nein!“ antworte ich gerade soeben hörbar laut „Reue, in Verbindung mit Umkehr, kommt für mich nicht in Frage!“ Abwechselnd sehe ich beiden Zeugen in die Augen. „Das hat nichts mit mangelnder Demut zu tun. Das gründet sich auf der Tatsache, dass ich nicht die ‚Wahrheit’ verleugnen kann - nicht verleugnen will!“ Betretenes Schweigen. „Eure ‚Wahrheit’ ist nicht mehr meine ‚Wahrheit’!“
Mir wird schlagartig klar, dass die Elemente unserer Dreier-Beziehung zwar ein Gespräch zulassen, und das auch nur mehr schlecht als recht, dass sich hingegen die einzelnen Puzzle-Teilchen unserer Überzeugung niemals zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen lassen, zu keiner Zeit. Hier schmiegt sich keine Kante - ob rund oder eckig - in irgendeine Kontur.
„Warum bin ich nicht einfach an ihnen vorbeigegangen?“ denke ich „Warum habe ich das mir entgegengebrachte trist- neutrale Anlächeln nicht mit einer Kopf-Nick-Zurück-Lächel-Geste erwidert?“ „Ich weiß es nicht, es ist nun mal so wie es ist.“
Mit der Bitte, mir doch ein Exemplar des Blattes „Der Wachtturm“ auszuhändigen, leite ich unmissverständlich das Ende des Gesprächs- und der für alle Beteiligten eher unangenehmen Situation ein. Ein „Wachtturm“ entgleitet dem Schutz der Hülle, und wird mir wortlos gereicht. Der bis zu diesem Zeitpunkt angewinkelte Arm, der noch bis vor einer Sekunde die Hülle nebst „Wachtturm“ in die Höhe hielt, hängt jetzt senkrecht, hängt jetzt parallel zum Körper, und in unmittelbarer Nähe, des unteren Teils, des dunkelbraunen Anzugs. „Eigentlich normal“ denke ich „kommt mir trotzdem irgendwie entfremdet vor.“
„Vernunft - Warum fehlt es oft daran?“ lese ich blätternd eine der Überschriften der Ausgabe, und „Jehovas Wege kennen lernen“. Absolut richtig, denke ich, was den Innhalt betrifft, so unterliegen die Veröffentlichungen der WTG effektiv keiner Alterung. Stets handelt es sich um die Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung... Ab und zu wechseln die Überschriften, ja, doch, aber ansonsten bleibt alles wie es war. „Kann der Armut ein Ende gemacht werden?“ zitiere ich nun laut „Eine Welt ohne Armut ist nicht mehr fern“. „So lese ich es nunmehr seit rundweg 50 Jahren!“ mit leicht resignierendem Gesichtsausdruck blicke ich von der mir ausgehändigten Zeitschrift auf „seit knapp einem halben Jahrhundert berieseln mich ununterbrochen die ermunternden Parolen der ‚Gesellschaft’ die erbauenden Leitsätze des ‚Treuen und verständigen Sklaven’, und nichts, aber auch rein gar nichts, ist bis dato geschehen, was als ein Meilenstein - hin zum erwünschten Ziele - hätte anerkannt werden können. Nichts!“ „Nichts!“
„Erkennst du nicht, wie die Bemühungen des ‚Treuen und verständigen Sklaven’ wundervolle Früchte tragen, wie das gesamte Werk - erdenweit - von Jehova gesegnet wird?“ Ertönt es von rechts. „Für ein dummes Missverständnis beabsichtigst du die Hoffnung auf das ‚Ewige Leben’ aufs Spiel zu setzen?“ Ertönt es von links. „Die Welt, das ganze verderbte System Satans, geht mit Riesenschritten dem Untergang entgegen - willst du zu den Todgeweihten gehören?“ Ertönt es von rechts. „Die Erbsünde...! Die Streitfrage...! Die Loyalität...! Die Sklavenklasse...! Die Bruderschaft...! Die Zusammenkünfte...!“ Ertönt es von beiden Seiten.
Ich will jetzt gehen, ersehne eine Distanz, denke, dass es meinen beiden „Nächsten“ ebenso ergeht. Im Grunde haben wir uns längst getrennt, sind schon - ein jeder für sich - über alle Berge. Jede weitere Erörterung ist - von wem auch immer ausgeteilt oder entgegen genommen - überflüssig,
„Es hat keinen Zweck!“ winke ich entschlossen ab „es hat wirklich keinen Zeck, bemüht euch nicht weiter mit mir!“ Dem Manne im dunkelbraunen Anzug und bunt gemusterten Hemd reiche ich den mittlerweile zu einem Röhrchen zusammengerollten „Wachtturm“. „Hier bitte, ich denke er ist bei euch besser aufgehoben als bei mir.“ Wir verabschieden uns per Handschlag, ein Zeichen das ich mag, das ich im Grunde genauso mag, wie die Menschen, die für ihre Überzeugung einstehen, und sei es auch nur paarweise, und an irgendeiner stark frequentierten Straßenecke unserer Städte. Ein Lächeln. Alles in Ordnung, denke ich, und gehe.
Was ist denn nun so besonders, an meinem Treffen mit den beiden Straßendienstlern, wieso halte ich es für erwähnenswert, auf die an der Ecke stehenden Vertreter der WTG gestoßen zu sein? Wie schon gesagt, sich dergestalt abmühende Menschen gehören ausnahmslos in jeder Stadt unserer Republik zum Straßenbild. Wohl jedem Bürger sind die „Zeugen“ bekannt, zumindest was ihre Intention betrifft, und kompromisslos untrennbar gehören die jeweils zweimal im Monat erscheinenden Blätter „Wachtturm“ und „Erwachet“ zu ihrer Erscheinung; und wenn auch nicht unbedingt jeder mit den Anhängern der amerikanischen Sekte, auf der Straße stehend, ein persönliches Gespräch geführt hat, so dürfte die dort angepriesene Botschaft, in groben Zügen, in ihrer Essenz, ebenfalls hinlänglich bekannt sein: „Gott vernichtet die Bösen, zugunsten der Guten!“ - Punkt! Allein die Tatsache, dass Menschen an ein Gottesgericht glauben, ist nicht erwähnenswert, diesbezüglich sind die „Zeugen“ nicht alleine auf der Welt, und auch die Tatsache, dass die Durchführung der ersehnten wie erhofften Erlösungskampagne von ihnen stets mit dem Kalender in der Hand terminiert wird, bedarf meines Erachtens nach keiner weiteren Erläuterung, nein, da schweben weitaus gewagtere Thesen im Orbit allzu menschlicher Trugschlüsse. Jedermann kann und darf - so denke ich - glauben was ihm beliebt.
Letztgenanntes ist es aber, was mich veranlasst, nachhaltig über meine Straßenecken- Gesprächserfahrung nachzudenken. „Jeder Mensch kann und darf glauben was ihm beliebt!“ - was ihm beliebt, ihm allein, seine ureigene Meinung soll und muss im Mittelpunkt stehen, nicht etwa die irgendeiner Organisation oder wie auch immer formierten Gesellschaft! Der freie Wille eines jeden Menschen soll und muss seinen ureigenen Glauben modulieren, und nur der freie Wille, egal wie - warum und wann sich sein Besitzer entscheidet, was auch immer glauben zu wollen.
Genau die Wahl hat ein Zeuge Jehovas nicht, nicht wirklich! Ganz abgesehen von den Menschen, die in diese Organisation „hinein geboren“ werden - und das sind bekanntlich nicht gerade wenige -, bestimmen die Mitglieder der „Bruderschaft“ in keiner Weise ihr Denken selber! Bedingt durch eine Bewusstseinskontrolle, die zur höchsten Vollendung ausgereift ist, überlässt der „Zeuge“ „freiwillig“ das Denken der WTG. Der WTG gefällt das, sie hegt und pflegt sorgsam ihre erworbene Macht, verständlich, sie selbst hat das unwürdige Spiel inszeniert. Was dort die „Brüder und Schwestern“ glauben, das wird für sie „erdacht“, einschließlich jeglicher noch so klitzekleinen Interpretation des Erdachten, und dass innerhalb des Kreises der Bruderschaft dergestalt „Glaube und Hoffnung“ dem einzelnen als Bündel „verschrieben“, beziehungsweise aufgeschnürt wird, das ist als Endresultat nicht weiter verwunderlich.
Dort an der Ecke, nahe dem Weg zum Eingang der U- Bahn, standen keine Zeugen unseres Gottes, nicht im wahrsten Sinne des Wortes. Dort positionierte sich weder der „Freie Wille“, noch die „Freie Überzeugung“ - beide traf ich dort nicht an. Dort stieß ich auch nicht etwa auf die „Hoffnung“, nein, auch die lies sich dort nicht blicken, dort war von all dem Aufgezählten das genaue Gegenteil anwesend - dort hatte ich ein Treffen mit der personifizierten Routine, mit der Routine, die als Kind aus der Vereinigung zwischen Vater „Angst“ und Mutter „Wiederholung“ geboren wurde! Eine Konversation, ein konstruktiver Dialog, ist mit solchen „Kindern“ nicht möglich, nicht einmal tendenziös. Auch diese braven Kinder hielten ihren „alten Teddy“ in den Armen, streichelten liebevoll die abgegriffenen Veröffentlichungen ihrer WTG- Eltern, und blickten verstohlen - hinweg über ihre in Schutzhüllen gebetteten „Wachttürme“ - in die an ihnen vorbei schreitende Menschenmenge.
Wieder einmal habe ich diese lautlos zum Himmel schreiende Ohnmacht wahrgenommen, die jene - zweifellos aufrichtig um die Wahrheit bemühten - Menschen umgibt; wieder einmal habe ich mit all meinen Sinnen diese morbide Atmosphäre realisiert, die derartige Gesprächspartner (Gesprächspartner?) unbewusst verbreiten. Nichts will ich gegen Christen mit Anzug und Krawatte sagen, und ob sie nun ihre Offerten, die sie meinen unbedingt unter die Leute bringen zu müssen, mittels vergilbter Klarsichthüllen schützen oder nicht, das ist auch nicht von Belang. Es lässt sich sicherlich im bunt gemischten „Russischen-Kammgarn- Verschnitt“ gekleidet genau so gut von Gott sprechen wie im dezent- neutral gehaltenen Smoking, keine Frage, nur eines muss gewährleistet sein: die unangetasteten, ungebeugten, freien Gedanken der Menschen, die in beige -, braun -, schwarz oder wie auch immer gekleidet ihre „Botschaft der Hoffnung und der Freiheit“ an ihre Nächsten weiterleiten wollen. Das sollte die Voraussetzung sein, wenn man meint „Gott“ unbedingt vertreten zu müssen, das müsste zumindest die Zielsetzung sein, um einem Dialog mit der Würde des Individuums überhaupt standhalten zu können. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, so macht sich die Ermangelung kenntlich, das Manko nimmt Gestalt an, ja gesellt sich - in welcher Form auch immer - zu dem Menschen, der seiner Freiheit beraubt wurde.
So gesehen standen wir soeben in der Tat zu „viert“ an der Ecke - der „Trichter der WTG“, zwei „Gefäße der WTG“ und meine Wenigkeit. Der zuerst Genannte führte durchgängig die Diskussion, beziehungsweise - besser gesagt - wendete sie, ohne die Aussicht auf einen etwaigen Konsens bezüglich der erbrachten Argumente, rigoros ab.