In ihrer Erwachet-Ausgabe vom 08.01.1999 befasst sich die Wachtturm-Gesellschaft (WTG) auf 11 Seiten in mehreren Kurzartikeln mit dem Thema ‘Die Religionsfreiheit - ist sie bedroht?’. Wenn man diese Artikel liest, könnte der - wohl auch angestrebte - Eindruck entstehen, hier würde eine Lanze gebrochen für Freiheit und Toleranz.

Man findet Äußerungen wie folgende:

  1. ... Diskriminierung derer, die einen anderen Weg eingeschlagen haben, ... nach wie vor eine der hauptsächlichsten Ursachen für Intoleranz (S.4)
  2. Religionsfreiheit ist eine Grundvoraussetzung für eine Gesellschaft... Ohne... das Recht, seinen Glauben zu verkünden, kann es keine Gewissensfreiheit ... geben (S.5)
  3. Religiöse Intoleranz wurde damit entschuldigt, dass religiöse Einheit die solideste Grundlage ... bildete (S.6)

Es wird dabei zu einer Erziehung zu Toleranz aufgefordert und gesagt, dass Meinungsverschiedenheiten keine Intoleranz seien, solange keine Lügen verbreitet würden. Eine solche Erziehung könne sogar bewirken, dass einzelne Menschen ihre eigenen Glaubensansichten überprüfen (!). Ferner sei das Gespräch mit Andersgläubigen eine hervorragende Möglichkeit, Toleranz zu fördern. Es böte Gelegenheit, die Argumente anderer anzuhören.

Wenn man solche Formulierungen liest oder hört, könnte man den Eindruck haben, dass die WTG und ihre Organisation einen Hort von Toleranz darstellen und sich unter Jehovas Zeugen (JZ) das Wort wenigstens zu einem erheblichen Teil bestätigte, ‘wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit’ (2.Kor. 3:17).

Intoleranz als internes Prinzip

Doch leider sind die Realität und die Praxis in Lehre und Tat weit von dieser Vorstellung entfernt.

Wie steht es z.B. mit Punkt 1.? Werden Personen, die sich von der WTG trennen und aus Gewissensgründen einen anderen Weg einschlagen - das sind jährlich Tausende - mit Toleranz behandelt?

Nein! Über sie wird in den WTG-Schriften u.a. gesagt (Quellenangabe in Klammer):

  • Sie versuchen, Spaltungen zu verursachen (Jehovas Zeugen -Verkündiger des Königreiches Gottes, S.111).
  • Sie sind an unehrlichem Gewinn interessiert und schlecht (WT 15.08.1984, S.31).
  • Sie sind Lügner, denn sie veröffentlichen Unwahrheiten (WT 01.07.1994, S.12).
  • Man soll sie in biblischem Sinne hassen (WT 01.10.1993, S.19).
  • Sie sind stolz und unabhängig, undankbar und vermessen und begehen die Werke des Fleisches (WT 01.11.1980, S.18-22).
  • Sie sind hochmütig (WT 15.11.1981, S.28-29).

Personen, welche die Gemeinschaft von JZ verlassen oder wegen ‘Abtrünnigkeit’ ausgeschlossen wurden, dürfen nicht einmal gegrüßt werden. Sie werden manchmal auch als ehrgeizig bezeichnet und als nicht bereit, den für JZ typischen Predigtdienst zu verrichten, ein Vorwurf, der sich schon dadurch ad absurdum führt, dass es sich bei solchen Personen oft um langjährige Zeugen, sogar um ehemalige Vollzeitprediger handelt. Man könnte die Liste der abfälligen Aussagen über solche ehemaligen Zeugen noch verlängern. Was hier geschieht, ist eindeutig Diskriminierung, also laut den Ausführungen der WTG ‘eine der hauptsächlichsten Ursachen für Intoleranz’.

Kommen wir zu Punkt 2! Haben JZ das Recht, sich in ihrer Gemeinschaft frei zu äußern und Ansichten zu verkünden in Punkten, in denen sie mit der jeweiligen, nicht selten wechselnden Lehre der WTG nicht übereinstimmen?

Jeder Kenner von JZ weiß die Antwort: nein! Denn als ‘abtrünnig’ werden alle bezeichnet, die an Lehren festhalten, welche in Widerspruch zur offiziellen Lehre der WTG stehen (Ältesten-Handbuch ‘Gebt acht auf euch selbst...’, S.94) Es genügt z.B. schon, wie gerade in den letzten Monaten wieder geschehen, die WTG-Chronologie in bezug auf das Jahr 1914 anzuzweifeln oder als falsch nachzuweisen, um ausgeschlossen, gleichsam eine ‘Unperson’ zu werden.

Somit kann es laut der in Erwachet veröffentlichten WTG-Meinung unter JZ keine Gewissensfreiheit geben! Das Bild der gefesselten betenden Hände trifft leider auf JZ selbst zu, gefesselt von ihrer eigenen, nach Freiheit und Toleranz rufenden Organisation.

Und nun noch zu Punkt 3: Wird die angeführte Entschuldigung auch von der WTG gebraucht? Selbst ohne nähere Erläuterungen würde wohl jeder von JZ dies bestätigen; die Einheit im Sinne der WTG - Uniformität und Konformität - ist die ‘heilige Kuh’, das ‘goldene Kalb’ der WTG. Wie oft hört man in Gesprächen die Meinung: ‘wir müssen übereinstimmend reden und lehren; wer eigene Gedanken hat, steht in der Gefahr der Abtrünnigkeit; über Zweifel sollte man schweigen’. Kritik ist weder an der Organisation noch auch nur an den Ältesten, an den Publikationen oder an den Programmen der Zusammenkünfte erlaubt.

Der WT vom 15.07.1996, S.17 gebraucht genau diese Argumentation; Schweigen ist nötig, wenn man anderer Meinung ist; Gerede kann zu Uneinigkeit führen, mit entsprechenden disziplinarischen Folgen. Wer die Einheit stört und gefährdet ist abtrünnig (‘Gebt acht auf euch selbst...’, S.95). Geäußerte Kritik stört die Einheit (WT 15.06.1996, S.21).

Das alles ist weit entfernt von einer Erziehung zur Toleranz, es ist meines Erachtens Intoleranz pur! Zwar stimmt es, dass Meinungsverschiedenheiten an sich nicht Intoleranz bedeuten (auch nicht Abtrünnigkeit wie in den Reihen von JZ), und dass Gespräche Toleranz und gegenseitiges Verständnis fördern können. JZ jedoch sollen laut WT vom 15.08.1984, S.31, weder Schriften von anderen Glaubensgemeinschaften annehmen oder lesen noch mit anderen ‘Gedanken austauschen’ im Sinne von gegenseitigem Kennenlernen oder gar zur Überprüfung der eigenen Ansichten; sie haben ja die ‘Wahrheit’; sie sollen nur ‘predigen’, d.h. die WTG-Lehre verbreiten. Selbst mit kritischen Glaubensbrüdern sollte man privaten Umgang meiden! Während Außenstehenden empfohlen wird, sich über JZ nicht bei anderen - etwa bei Pfarrern oder Sektenbeauftragten - zu unterrichten, sondern bei JZ selbst, wird den Zeugen dringend empfohlen, sich über andere Religionen nur aus den Schriften der WTG zu informieren (WT 15.08.1984, S.31). Die Beurteilung einer solchen Verfahrensweise seitens der WTG überlasse ich dem Leser!

Hintergründe

Vermutlich liegen die Hintergründe für den Erwachet-Artikel in den rechtlichen Schwierigkeiten, welche die WTG gegenwärtig in einigen Ländern Europas hat. Frankreich wird ausdrücklich genannt. Doch scheinen Objektivität und Ehrlichkeit auch nicht die Stärke der WTG zu sein. In einem kleinen Kasten auf S.13 von Erwachet wird gesagt: ‘Religion bedroht’.

Dann wird von Unterdrückung gesprochen und von ungerechter Steuerlast sowie von der Absicht, die Tätigkeit von JZ in Frankreich zu lähmen.

Dem unbefangenen Leser wird ein erschreckendes Bild vermittelt; dabei geht es in Wirklichkeit nur um das Zahlen von Steuern nach einem auf rechtlichem Wege erlassenen Gesetz. Ist ein Bürger schon bedroht, weil er Steuern zahlen muss? Ist deshalb schon seine Freiheit in Gefahr? Man mag über die Höhe von Steuern verschiedener Meinung sein; dem Zahlungspflichtigen sind Steuern schon immer zu hoch gewesen - aber wo wäre hier die Freiheit der Meinungsäußerung und der Anbetung von JZ bedroht, wo würden sie gleichsam aus der Sozialgesellschaft ausgeschlossen, wie es innerhalb der Organisation von JZ auf Anordnung der WTG geschieht? Alle Zeugen wurden von ihrer Organisation stets gerühmt, treue Staatsbürger zu sein, weil sie pünktlich ihre Steuern zahlten; wie steht es aber mit der WTG? Dabei bleibt es ihr ja unbenommen, mögliche rechtliche Schritte zu unternehmen. Den Staat jedoch der Unterdrückung oder Bedrohung der Religion anzuklagen, scheint mir mit christlicher Ehrlichkeit nichts mehr zu tun zu haben.

Ergebnis

Die WTG fordert für sich - mit dem Ziel der Gleichbehandlung mit den großen Kirchen, ohne jedoch vermutlich zu beabsichtigen, auch deren Pflichten zu übernehmen -, Freiheit und Toleranz; sie ist aber nicht bereit, ihren eigenen Gläubigen in ihren eigenen Reihen diese zu gewähren. Als Christen ist für uns Jesus das große Beispiel von Toleranz; er hat seine Nachfolger wahrlich frei gemacht. Wir sind bereit, Toleranz gegenüber unseren Mitmenschen zu bekunden, nicht jedoch gegen Unehrlichkeit und Unterdrückung. Diese Dinge muss man beim Namen nennen, wie dies Jesus auch getan hat. Wenn man daran denkt, wie 1933 ein totalitäres System unter Ausnutzung demokratischer Freiheit und Toleranz über ein ganzes Land zu dessen Unglück Macht gewann, sollte man wachsam bleiben. Worte können schön klingen, aber Jesus sagte schon: an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen (Matth. 7:16,20)!