Wie die Liebe eine 36-Jährige in die Sekte hineinzog
WITTLICH. (mai) Die Liebe brachte eine 36-Jährige zu den Zeugen Jehovas. Doch ihr Selbstbestimmungswille ließ sich nicht mit dem Leben der Sekte in Einklang bringen.
„Liebe macht blind. Auf mich trifft das voll zu”, sagt Anja Schulte. Dabei wirkt die heute 36-Jährige nicht, als würde sie sich nur von ihren Gefühlen leiten lassen. Im Gegenteil. Die kaufmännische Angestellte scheint mit beiden Beinen im Leben zu stehen und hat auch die Zeit als Alleinerziehende eines heute elfjährigen Jungen gut gemeistert.
Über ihren zweiten Mann, den sie vor wenigen Jahren kennen lernte, kommt sie zu den „Zeugen Jehovas”. Er ist immer noch Sektenmitglied. Schulte: „Es war klar, dass er nur eine Frau wollte, die auch ‚Zeugin Jehovas’ war. Deshalb haben wir die Beziehung am Anfang immer wieder in Frage gestellt.” Dann entscheidet sich Anja Schulte für die Liebe – und für die Sekte. „Was ich im wöchentlichen Bibelstudium mit einem Ältesten gehört habe, hat mir gefallen. Ich habe mir immer gesagt, du bist ein gläubiger Mensch, du studierst das aus Eigeninteresse.”
Sie wird getauft, heiratet, zieht zu ihrem Mann. Bei den „Zeugen Jehovas” wird sie überaus freundlich empfangen. Doch bald kommen erste Zweifel. Was sie in den regelmäßigen Versammlungen hört, passt nicht in ihr Weltbild: „Bei den ‚Zeugen‘ heißt es, die Selbstverwirklichung im Beruf entspräche nicht der von Gott gewollten Frauenrolle. Die Frau soll nur den so genannten weiblichen Verpflichtungen nachkommen, also Küche, Kinder und den Mann unterstützen”, erzählt sie.
Nach der reinen Lehre treffen die Männer alle wichtigen Entscheidungen; die Frauen, die in den Versammlungen nur Röcke tragen dürfen, bekommen, wenn sie nicht berufstätig sind, lediglich Haushaltsgeld. Und auch hier soll der Mann darauf achten, dass sie „vernünftig” damit umgeht. Ein Wochenend-Kongress der „Zeugen” zum Thema „gottgefällige Unterordnung” stürzt Schulte dann endgültig in die Krise. Die wiederholte Botschaft dort: Die Frauen sollen sich den Männern, die Kinder den Eltern und die Männer der Organisation unterordnen. Wie immer bei den „Zeugen” wird alles mit Bibel-Sprüchen, besonders von Paulus, belegt. Schulte: „Ich konnte es nicht fassen, dass es gottgewollt war, dass ich nur um des Mannes Willen erschaffen war.” Ihr Glaube gerät ins Wanken. „Ich wollte mir die Pulsadern aufschneiden.”
Die Erklärung einer Mitschwester hilft ihr zunächst. Diese sagt: „Nicht Gott, sondern die Männer haben das so festgelegt. Die ‚Zeugen‘ berufen sich doch auf die Tradition in der Bibel.” Aber beim nächsten für sie frauendiskriminierenden Erlebnis – sie bekommt mit, dass Frauen in den Versammlungen der „Zeugen” keine Ämter bekleiden dürfen und auch nur dann mit Kopftuch vorlesen dürfen, wenn kein lesetüchtiger Mann zugegen ist – beschließt sie: Ich steige aus.
Schultes Ehe steht nun auf wackeligen Füßen. Immer, wenn es um Religion geht, gibt es Zoff. Die seelische Belastung hat auch die MS-Krankheit der Frau verstärkt. Nun ist sie fest entschlossen, mit Rita Maurer eine Selbsthilfe für den Raum Trier ins Leben zu rufen. „Heute sehe ich die ‚Zeugen‘ als Gefahr an, gerade auch weil die Sektenmitglieder immer sehr freundlich auftreten und viele die Organisation für harmlos halten.” Doch die selbst erlebten Selbstmordabsichten sprechen eine andere Sprache.