Sexualstraftäter genießen bei den Zeugen Jehovas offensichtlich einen besonderen Schutz. So kann man zumindest die Anweisung verstehen, nach der Älteste Fälle von sexuellem Missbrauch keinesfalls den Behörden melden sollen.

Dazu kommt, dass eine solche Straftat für den Täter erst dann Konsequenzen hat, wenn das Opfer in der Lage ist, nach biblischem "Recht" zwei oder drei Zeugen beizubringen. Eine Praxis, die jedes gesunde Rechtsempfinden verhöhnt und die Ältesten zu Mittätern einer Vertuschungspolitik macht, mit der die Wachtturm-Gesellschaft verzweifelt versucht, nach außen ein blütenweißes Bild abzugeben.

Wachtturm-Führer beschuldigt, Sexualtäter zu decken

Ehemalige und heutige Zeugen Jehovas ziehen eine Politik in Zweifel die, so sagen sie, die Führer davon abhält, Missbräuche anzuzeigen.

Bill Bowen, Kerzenmacher in der gemütlichen Stadt Draffenville in Westkentucky, war sein ganzes Leben lang ein treuer Zeuge Jehovas. Fast sieben Jahre lang hat er als Ältester im örtlichen Königreichssaal gedient. Ein Teil seiner Tätigkeit bestand darin, vertrauliche Daten der 50-Personen-Gruppe aufzubewahren. Die kürzliche Entdeckung einer Akte verblüffte Bowen. "Ich stieß auf einige Informationen, die Fragen aufwarfen,ob ein Kind sexuell belästigt wurde oder nicht", sagt er.

Doch Bowen sagt, als er an seine Mitältesten wegen der Situation herantrat, stellten sie sich gegenüber den Beweisen blind und taten nur wenig, um dem Opfer zu helfen. "Ich entdeckte, wie korrupt die Organisation darin ist, Kindern Schaden zuzufügen", sagt Bowen. Als Protest auf die Erwiderung der Ältesten trat Bowen, 43, von seinem Posten als Ältester zurück. Er ist Teil einer wachsenden Gruppe von ehemaligen und von Nochzeugen, die gegen eine Politik die Stimme erheben, von der sie behaupten, dass sie landesweit Kinderschänder in Zeugen-Jehovas-Kreisen deckt.

Der Widerwille, Anzeige zu erstatten

Bowen sagt, um peinlichen Situationen oder der Schande zu entgehen, raten Zeugenführer ihren Anhängern davon ab, Fälle von sexuellem Fehlverhalten bei den Behörden zur Anzeige zu bringen, selbst wenn das Gesetz dies fordert. Dabei führte er die Ausgabe der Zeitschrift der Organisation, Der Wachtturm, vom November 1995 an. In der Publikation heißt es, die Zeugen müssten dem biblischen Maßstab folgen und zwei oder drei Augenzeugen finden, um eine Anklage zu bestätigen, ehe sie jemanden des sexuellen Missbrauchs beschuldigen (mit Bezug auf 2. Kor. 13:1 und 1. Tim. 5:19).

Andernfalls, so heißt es, sollte man die Sache fallen lassen und der Beschuldigte sollte als unschuldig behandelt werden. Zu denen, denen verdrängte Erinnerungen an früheren sexuellen Missbrauch hochkommen, wurde im Wachtturm gesagt, "die Natur dieser Erinnerungen [sei] doch zu ungewiss, um ohne weitere belastende Beweise rechtliche Entscheidungen darauf zu stützen."

J.R.Brown, Leiter des Öffentlichkeitsbüros der Watchtower Bible and Tract Society (WTBTS) in Brooklyn, sagt, er teile Bowens Sorgen. "Wir verabscheuen, was [sexueller Missbrauch] mit Kindern anstellt", sagt er gegenüber Christianity Today.

Kritiker jedoch sagen, dass die Zeugenorganisation bei allen Missbrauchsfällen auf die gleiche Weise vorgeht, ob es sich nun um verdrängte Erinnerungen handelt oder nicht. In den meisten Missbrauchssituationen gibt es kaum mehrfache Zeugen, argumentieren die Kritiker und fügen hinzu, dass die Ältesten in den Ortsversammlungen mutmaßlichen Missbrauch nicht angemessen behandeln und eher geneigt sind, ihre Versammlungen zu schützen.

Jim Whitney, 49, ehemaliger Zeugenältester, sagt, er habe Notizen aus den Zusammenkünften anderer Ältester zu Missbrauchsfällen in einem Königreichssaal in Kalifornien entdeckt, wo er tätig gewesen war. Er sagte, keiner dieser Fälle sei je der Polizei gemeldet worden.

Als er begann, einen anderen Königreichssaal in Oregon zu besuchen, entdeckte er ein ähnliches Muster. "Sie decken die Organisation", sagt er. "Sie werden alles tun, um Jehovas Zeugen zu schützen."

Paul Carden, Exekutivdirektor des Centers for Apologetics Research in San Juan Capistrano, Kalifornien, sagt, diese schützende Haltung herrsche in der WTBTS vor. "Es gibt eine Festungsmentalität", sagt Carden. "Die Wachtturm-Gesellschaft gibt nur ungern Fehler irgendeiner Art zu. Weil sie sich selbst als Jehovas alleiniges Sprachrohr für die Menschheit bezeichnet, sucht sie seit jeher, sich als außer jeden Zweifels darzustellen."

Whitney glaubt, viele Kinderschänder fänden ihren Weg in die Zeugenversammlungen. "Da ist fruchtbarer Boden", sagt er. "Pädophile wissen, dass jedes Geständnis, das sie machen, vertuscht wird. Die Zeugen wollen keine Schande auf ihren Namen bringen."

Zeugensprecher Brown sagt, in seiner Religion trete Pädophilie nicht häufiger auf als in anderen Religionen, aber er räumt ein, dass einige Älteste Verdachtsmomente von Missbrauch nicht gemeldet hätten. In 38 Bundesstaaten fordert das Gesetz, dass Geistliche und andere Fachleute körperlichen und sexuellen Missbrauch von Kindern anzeigen. Einige Kritiker argumentieren, dass selbst in den 22 Bundesstaaten, die von Angehörigen der Geistlichkeit keine Anzeige fordern, die Zeugenältesten nicht für solch ein Sonderrecht in Frage kommen, weil die meisten weder fachlich geschult noch bezahlte Angestellte der Organisation sind.

Die interne Vorgehensweise unter den amerikanischen Religionsgemeinschaften ist unterschiedlich. Während die presbyterianische Kirche (U.S.A.) sagt, sie befolge alle Gesetze der Regierung bezüglich einer Anzeige, mögen einige Vorfälle intern behandelt werden, so Zane Bruxton, der für juristische Verfahren zuständige Direktor der Religionsgemeinschaft. "Man muss das ernst nehmen", sagt Bruxton. "Aber wir können nicht in jedem Fall jemanden unter Anklage stellen."

Obwohl das Book of Discipline der Vereinigten Methodistischen Kirche umreißt, wie in Missbrauchsfällen vorzugehen ist, entscheiden oft Pastoren vor Ort, wie die Besonderheiten eines Falles zu handhaben sind. "Wir machen generell eine Anzeige bei den Behörden, während wir auch eine interne Untersuchung vornehmen", sagt Scott Field, Hauptpastor an der Salem United Methodist Church in Naperville, Illinois. "Zumindest würden wir den mutmaßlichen Täter aus seinem Verantwortungsbereich nehmen, bis die Untersuchung abgeschlossen ist."

Zerstörte Familien

Dutzende von Gerichtsfällen, national wie auch international, sind in den letzten Jahren bekannt geworden, die ein Licht darauf werfen, wie schwer viele Menschen von den Wachtturm-Anweisungen bezüglich Missbrauch betroffen wurden. In ausgedehnten Interviews mit Christianity Today schilderten zwei ehemalige Familien von Zeugen, wie sexueller Missbrauch ihr Leben erschüttert hat. Don und Kim Clemens aus Mount Shasta, Kalifornien, sagen, dass ihr Sohn im Jahre 1996 seine Babysitterin Alizum Varium – eine Nachbarin und Mitzeugin – beschuldigte, sie habe in seit sechs Jahren häufig sexuell belästigt. Angefangen habe das, als er fünf Jahre alt gewesen sei.

Die Familie informierte Zeugenführer vor Ort. "Das Wort meines Sohnes stand gegen ihres", erinnert sich Kim Clemens. "Die Ältesten packten es in die Ablage und sagten, sie könnten nichts unternehmen."

Als die Familie Clemens sah, dass Varium freiwilligen Dienst in einer Kindertagesstätte tat, heuerte sie einen Privatdetektiv an, der Informationen sammeln sollte. "Unser Ziel ist, sie völlig von allen Kindern fernzuhalten", sagt Kim Clemens. "Wenn da mehr Kinder damit herausrücken, von ihr belästigt worden zu sein, möchten ich mir in 15 oder 20 Jahren nicht vorwerfen, nichts gesagt zu haben."

Varium lehnte ein Gespräch mit Christianity Today über den Fall ab. Sie hat keine offizielle Anklage in Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Missbrauch zu erwarten.

Jeff Tucker, einer der Ältesten im Königreichssaal von Mount Shasta, sagt, es habe nicht genug Augenzeugen gegeben, um zur Polizei zu gehen. Tucker glaubt, die Familie versuche nur, Unruhe zu schaffen. "Ihnen wurde die Gemeinschaft entzogen", sagt Tucker. "Wir befassen uns mit Missetaten, Sünden und Übertretungen", sagt er. "Und das erwartet man von einer Religionsgemeinschaft auch. Wir sind kein verlängerter Arm des Gesetzes. Wir befassen uns nur mit Reue."

In einem anderen Fall erhebt Sabrina Montgomery, eine 37-jährige ehemalige Zeugin aus Brigham City, Utah, die Beschuldigung, ihr Vater, John Bohman, habe sie seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr sexuell missbraucht, bis sie neunzehn war. Als die Zeugenältesten es herausfanden, sagt sie, sei Bohman einfach von seinem Posten als Ältester zurückgetreten, und nichts weiter wurde unternommen. Montgomery hat die Behörden vor Ort gebeten, jeden Kontakt zwischen ihren drei Töchtern und Bohman zu unterbinden. Montgomerys Exmann ist immer noch Zeuge und hält regelmäßig Kontakt mit Bohman. Bohman reagierte nicht auf die Bitte von Christinaity Today um ein Interview.

Nachdem er als Ältester in seiner Versammlung in Kentucky zurückgetreten ist, hofft Bowen, die Führer der Zeugen Jehovas dafür zu erwärmen, ihre Politik zu ändern. "Ich möchte, dass alle vertraulichen Unterlagen geöffnet werden und jede Information, bei der es um Pädophile geht, der Polizei übergeben wird", sagte Bowen. "Da werden Kinder sexuell belästigt. Sie sind eine Herde kleiner Schafe, die Angst haben, etwas zu sagen. Gott möchte das nicht."

Quelle: Christianity Today, 05.03.2001, Autor: Corrie Cutrer