Mit diesem Brief, wirksam ab dem Datum dieses Briefes, möchte ich als Ältester und vorsitzführender Aufseher zurücktreten.
Ich habe keinen bösen Willen gegenüber irgend jemandem in der Versammlung oder der Ältestenschaft, und ich trage auch niemandem etwas nach. In meinen über zwanzig Jahren Sonderdienst habe ich mich vieler Vorrechte erfreut, an die ich viele liebe Erinnerungen habe. So muss ich mit Traurigkeit folgende Erklärung abgeben: Ich kann einfach nicht einer Politik der Organisation zustimmen, die ich als Ältester durchzusetzen gezwungen bin. Diese Politik hat meiner Meinung nach Tausenden Schaden zugefügt, lässt viele ohne Schutz und bietet direkten Kriminellen Zuflucht.
Ich meine damit die Wachtturm-Politik, Informationen über Pädophile vertraulich zu halten. Pädophile werden durch einen Kodex des Schweigens geschützt und bleiben in vielen Fällen Dienstamtgehilfen, Älteste, Pioniere, Kreis- und Bezirksaufseher, Mitglieder der Bethelfamilie usw., während ihre Opfer schweigend leiden oder Sanktionen erwarten können. Diese Politik ist meiner Meinung nach unethisch und unmoralisch.
Als Ältester bin ich angewiesen (Ältestendienstschule 1994), wenn das Wort einer Person gegen das einer anderen steht und es keine Zeugen für das Fehlverhalten gibt, nichts zu unternehmen und nicht die Behörden zu informieren. Das Opfer? Gewarnt, sich ruhig zu verhalten oder innerhalb der Versammlung bestraft zu werden, was bis zu einem Gemeinschaftsentzug wegen Verleumdung gehen kann.
Diese Politik wurde wieder öffentlich im Wachtturm vom 1. November 1995, Seiten 28-29, erklärt, und zwar im Artikel „Trost für Menschen mit einem niedergeschlagenen Geist“ unter der Überschrift “Was können Älteste tun?” Dort wird gesagt:
„Wird die Beschuldigung zurückgewiesen, sollten die Ältesten dem Ankläger erklären, dass rechtlich nichts weiter unternommen werden kann. Und die Versammlung wird den Beschuldigten weiterhin als unschuldig betrachten. Gemäß der Bibel müssen zwei oder drei Zeugen vorhanden sein, damit rechtliche Schritte unternommen werden können (2. Korinther 13:1; 1. Timotheus 5:19). Selbst wenn sich mehr als eine Person an einen Missbrauch durch dieselbe Person „erinnert“, ist die Natur dieser Erinnerungen doch zu ungewiss, um ohne weitere belastende Beweise rechtliche Entscheidungen darauf zu stützen. Das bedeutet nicht, dass solche „Erinnerungen“ als falsch (oder als wahr) betrachtet werden. Aber bei einem Rechtsfall muss man sich an die biblischen Grundsätze halten.“
Bietet das Trost für Menschen mit einem niedergeschlagenen Geist? Wie oft gibt es bei einem Kindesmissbrauch Augenzeugen mit „belastenden Beweisen“? Wenn zwei unterschiedliche Personen sich an einen Missbrauch durch einen Pädophilen erinnern, wie kann er da als „unschuldig“ betrachtet werden? Wie schwer wäre es für jemanden mit der Neigung, Kinder zu belästigen, die Tat abzustreiten, wenn er beschuldigt wird?
Der Brief an die Ältesten vom 14.3.1997, Seite 2, Absatz 5, besagt:
„Es mag möglich sein, dass einige, die sich des Kindesmissbrauchs schuldig gemacht haben, als Älteste, Dienstamtgehilfen oder als allgemeine oder Sonderpioniere dienten oder jetzt noch dienen. Andere waren vielleicht der Belästigung von Kindern schuldig, ehe sie getauft wurden. Die Ältestenschaften sollten keine Einzelpersonen in Zweifel ziehen. Doch die Ältestenschaften sollten die Sache besprechen und der Gesellschaft Bericht erstatten, wenn jemand gegenwärtig in einer von der Gesellschaft ernannten Stellung in ihrer Versammlung dient oder früher diente, der dafür bekannt ist, dass er sich in der Vergangenheit der sexuellen Belästigung von Kindern schuldig gemacht hat.“ Absatz 6 fährt am Ende fort: „Diese Information darf niemandem zugänglich gemacht werden, der nicht betroffen ist.“
Der einzige Weg, dass jemand innerhalb der Organisation des Kindesmissbrauchs überführt werden kann, ist ein Geständnis, eine Verurteilung vor einem weltlichen Gericht oder eine Aussage zweier Zeugen, die bei demselben Ereignis zugegen waren. Wenn diese Kriterien auf jemanden zutreffen, so gilt nach der oben angeführten Information: „Die Ältestenschaften sollten keine Einzelpersonen in Zweifel ziehen“ und „Diese Information darf niemandem zugänglich gemacht werden, der nicht betroffen ist.“ Bei dem, auf den diese Kriterien nicht zutreffen, wie im Falle eines Opfers, das jemanden beschuldigt, ihn/sie belästigt zu haben, wird der Kodex des Schweigens noch strenger durchgesetzt. Was ist mit möglichen Opfern, Eltern von Kindern, die diese Beschuldigung nicht kennen? Sie werden ohne Kenntnis im Dunkeln gelassen, dass ihre Kinder einem beschuldigten Sexualtäter regelrecht ausgeliefert sein könnten.
Diese Direktiven machen die Wachtturm-Organisation zu einem Paradies für Pädophile, wo Kinder frei belästigt werden dürfen, solange es keine belastenden Beweise oder zwei Zeugen für denselben Vorfall gibt. Pädophile werden durch die Wachtturm-Politik, die die Ältestenschaften durchsetzen, geschützt.
Wie oft gibt es für sexuelle Belästigung von Kindern Zeugen? Wie kann es Beweise für eine Belästigung geben, wenn 90% der Verbrechen erst Wochen oder manchmal Jahre danach berichtet werden? Wieviele Pädophile sagen schon die Wahrheit, wissend, dass sie dafür ins Gefängnis kommen könnten? Bedeutet die Tatsache, dass der Durchschnittspädophile in seinem Leben siebzig Kinder belästigt und nie eines Verbrechens überführt wird, wir sollten ihm innerhalb unserer Organisation Anonymität zugestehen?
Aufgrund dieser Politik der Organisation sind wir meiner Meinung nach durchtränkt mit Pädophilen, die Ämter von ganz oben bis ganz unten innehaben. In meinen über vierzig Jahren in der Organisation muss ich immer noch nach einer Versammlung suchen, die keine schweren Probleme mit der sexuellen Belästigung von Kindern hat.
Die belastendste Tatsache ist noch nicht einmal, dass die Sache nicht angezeigt wird; in vielen Fällen, wo ein Wort gegen das andere steht, wird nicht ein Wort in die Versammlungsunterlagen aufgenommen. Die Wachtturm-Politik gibt in dieser Hinsicht keine Anleitung. Wenn Älteste die Dienstabteilung anrufen oder dorthin schreiben, weil sie Anleitung in Fällen brauchen, wo es um sexuelle Belästigung von Kindern geht, wird ihnen gesagt, dass sie selbst eine Entscheidung treffen sollen, ob die Sache zu einem Rechtsfall wird. Die Dienstabteilung überlässt die Entscheidung praktisch den örtlichen Ältesten, und infolgedessen ruht die Verantwortung auf diesen örtlichen Ältesten, wenn etwas schief geht. So ist die Wachtturm-Gesellschaft juristisch außen vor. Wie oft werden sich Älteste „eines angeklagten Mitältesten annehmen“ und ihn vor Rechtskomitees schützen, wobei technische Details als Entschuldigung dienen? Wenn es aber um die Opfer geht, dann werden diese diskreditiert und gedemütigt und man sagt ihnen, sie sollten sich ruhig verhalten. Da ist das Schweigen der Lämmer, der Kleinen, die von Euch und den Ältestenschaften Schutz erwarten, doch statt dessen werden sie durch eine Organisationspolitik zerdrückt und geächtet, wenn sie am meisten Hilfe benötigen. Der Wachtturm wird geschützt; der Pädophile wird geschützt; zu schlecht für die schweigenden Lämmer.
Wie schlimm ist das? Mit dieser Politik lasst Ihr meiner Meinung nach zu, dass eines von drei „Zeugenkindern“ in seinem Leben missbraucht wird. Ich kann nicht länger als Ältester in einer Einrichtung dienen, die unethisches und unmoralisches Verhalten gegenüber Kindern gutheißt. Ich weigere mich, eine Wagenburgmentalität gegenüber Pädophilen mitzutragen, die unter Ältestenschaften auf der ganzen Welt gefördert wird. Kriminelle sollten ausgeschaltet, identifiziert und bestraft werden, um Unschuldige zu schützen und das Opfer einen Schlussstrich ziehen lassen zu können.
Mit jedem Tag, der vergeht, werden weitere Kinder sexuell belästigt, und die Opfer leiden wie missbrauchte Lämmer mit einem Hirten, den das nicht zu kümmern scheint. Ich selbst glaube, dass ich niemandem innerhalb der Wachtturm-Organisation in Bezug auf meine Kinder trauen kann. Sollten meine Kinder einen Pädophilen der sexuellen Belästigung beschuldigen, brauchte er die Sache nur abzustreiten, und ich als Vater würde mit der Drohung des Gemeinschaftsentzuges zum Schweigen gebracht, sollte ich versuchen, etwas zu sagen (Verleumdung eines erkennbar Unschuldigen), um andere vor einem Schaden zu warnen und zu schützen. Ich sage zum dritten Mal: Dies ist verkehrt. Es ist unethisch und unmoralisch, die Kinder nicht zu schützen.
Ich habe die aufrichtige Hoffnung, dass dieser Brief zu einer Änderung führt, dass die Wachtturm-Politik in Bezug auf diese entsetzliche Haltung, Pädophile zu schützen und Kinder der Gefahr auszusetzen, völlig überholt wird.
Mit aufrichtigen Grüßen
William H. Bowen
PO Box 311
Calvert City, KY 4202