Bei Vortrag übt ehemaliges Mitglied heftige Kritik an den Zeugen Jehovas
KAUFBEUREN - Ein deutliches Auseinanderklaffen zwischen Anspruch und Realität, Verwirkung von Bildungschancen für Kinder, Einstellung gegen demokratische Prinzipien und die Ausnutzung ihrer Mitglieder - das wirft Stephan E. Wolf den Zeugen Jehovas vor.
Der Ex-Zeuge sprach vor gut 70 Zuhörerinnen und Zuhörern im Matthias-Lauber-Haus über Strukturen und Innenverhältnisse innerhalb des Vereins, dem er die Eigenschaften einer Sekte zusprach.
"Anspruch und Realität stimmen nicht überein", bilanzierte Wolf, der selbst als Jugendlicher über seine Eltern zu den Zeugen Jehovas kam, schließlich Dienstamtsgehilfe wurde und nach Jahren Zweifel an der Glaubensgemeinschaft entwickelte. Er zog sich schrittweise zurück, sammelte Informationen und Material, baute einen Internet-Auftritt zur Information über die Zeugen Jehovas auf und wurde 1998 offiziell ausgeschlossen.
Repressalien beim Ausstieg verneinte Wolf auf Nachfrage aus dem Publikum. Er sei nie regelrecht behindert oder bedroht worden. Man falle als ehemaliger Zeuge Jehovas aber in ein totales soziales Vakuum: Als Zeuge dürfe man nur mit Personen gleichen Glaubens Kontakt haben. Wer sich abwende, werde als Unperson geschnitten.
Durch Kriterien wie Endzeitversion, Wahrheitsmonopol, Forderung nach kritikloser Loyalität unter den Mitgliedern, soziale Isolation und Elitebewusstsein erfüllen die Zeugen nach Wolfs Ansicht alle Charakteristika einer Sekte. "Die Zeugen Jehovas versuchen, sich als Menschen wie du und ich darzustellen", klagte Wolf an. Nach außen propagiere man beispielsweise, dass Kinder niemals grausam bestraft werden sollen. In internen Schriften dagegen heiße es: "Schläge können einem Kind das Leben retten." Eine Umfrage im Internet habe bestätigt, dass Kinder oft in den Königreichssaal genannten Versammlungsräumen geprügelt würden, weil sie sich während der mehrstündigen Versammlungen nicht ruhig verhalten. Auch werde den Kindern Bildung vorenthalten. Eltern werde etwa weis gemacht, dass sich das Studentenleben "sehr wahrscheinlich nachteilig auf die Geschlechtsmoral" ihrer Kinder auswirke. Jegliche weltliche Bildung sei verpönt, als einzige Karrierechance gelte der Vollzeitpredigtdienst der Zeugen. Kindern werde auch die Teilnahme an schulischen Veranstaltungen verwehrt, die über den reinen Unterricht hinaus gehe.
"Doppelte Moral"
Doppelte Moral warf Wolf den Zeugen auch in deren Verhältnis zu anderen Religionsgemeinschaften vor. So prangere die Wachtturmgesellschaft die "permissive Einstellung" der Geistlichkeit an, vertusche aber regelmäßig Fälle von Kindesmissbrauch in den eigenen Reihen. Sogenannte Rechtskomitees mit Vertretern ohne jegliche Vorkenntnisse, die hinter verschlossenen Türen tagen, würden damit befasst. Täter, die bereuen, kämen völlig ungeschoren davon.
Wolf prangerte auch an, die Zeugen Jehovas beuteten ihre eigenen Mitarbeiter aus, indem sie während ihrer Tätigkeit keine Sozialversicherungsabgaben zahlten und ihnen im Krankheitsfall das Ausscheiden nahe legten. Während sie sich als einzig wahre Glaubensgemeinschaft darstellte, arbeite die Wachtturmgesellschaft hinter den Kulissen auch mit anderen Sekten zusammen. Der Verfassungsschutz spreche von Kontakten zu Scientology.
Auch das Finanzgebahren sei unseriös. Zwar werde den Mitgliedern versprochen, Spenden würden wieder zurück gezahlt, wenn der Spender in Not gerate. Die Realität sehe aber völlig anders aus: wenn überhaupt, so würden nur kleine Teilbeiträge zurückbezahlt. In den USA seien die Zeugen Jehovas außerdem in erheblichem Umfang im Immobiliengeschäft tätig.
Auf Nachfrage aus dem Publikum, was denn an den Zeugen Jehovas so schlimm sei, sagte Wolf, natürlich habe jeder die Freiheit, ein Zeuge Jehovas zu werden. Problematisch sei aber, dass Kinder völlig fremdbestimmt würden. Vor allem die Verwehrung von persönlichen Lebenschancen könne man nicht billigen. Und es bestehe auch Gefahr für die Gesellschaft: Die Zeugen Jehovas isolierten sich völlig von der Gesellschaft und nähmen beispielsweise nicht an Wahlen teil.
Allgäuer Zeitung vom 14.1.2000