Sie glauben an den nahen Weltuntergang, suchen nach innerer Erleuchtung, schotten sich von der Außenwelt ab. Was fasziniert Menschen an den Zeugen Jehovas? Wir waren mit einem »Verkünder« in Hamburg auf Haustür-Mission.

Rumms! Die Tür ist zu. Nur einen Spaltbreit war die Wohnungstür geöffnet, nachdem Johannes Weber* geklingelt hatte. Er klappt seine Mini-Bibel wieder zu und steigt die Stufen zum nächsten Stockwerk hinauf. Seit zwei Stunden läuft der 18-jährige Schüler mit dem strohblonden Haar schon durch Hamburg, um Menschen vom Wort Jehovas zu überzeugen. Bisher ohne Erfolg.

Johannes, zur Zeit noch Gymnasiast, hat bei seinen Klingeltouren mit der Bibel selten Erfolg, doch das stört ihn nicht. »Glauben ist Arbeit«, sagt er sehr gelassen.

Nach der Schule will er am liebsten Gärtner werden
"Darf ich Ihnen kurz zeigen, was die Bibel über unsere Zukunft sagt?", fragt er höflich, wenn sich endlich eine Tür öffnet. Meistens steht er jedoch verloren in Hausfluren und vor Klingelbrettern, niemand will seine Botschaft hören.

Johannes ist einer von 165.000 deutschen Zeugen Jehovas, einer Glaubensgemeinschaft, die nur in Berlin staatlich anerkannt ist. Er glaubt daran, dass die Welt in Kürze durch ein "Harmagedon", eine Art Apokalypse, untergehen wird. Nur Zeugen Jehovas werden im Paradies erwachen, weil sie nach einer strengen Bibelauslegung im Sinne Jehovas gelebt haben. Um Gottes Gnade zu erhalten, unterwirft sich Johannes rigiden religiösen Regeln und versucht, Ungläubige von Jehovas Wort zu überzeugen: mit dem gedruckten "Wachtturm" in der Fußgängerzone oder mit der "Heiligen Schrift" im Predigtdienst an den Haustüren. Diese Aufgabe führt er mit dem Stolz eines Fremdenlegionärs aus, der in der Wüste zwar auf verlorenem Posten kämpft, aber weiß, dass er zu einer Elite gehört.

Johannes trägt auf seiner Haustür-Mission einen braunen Anorak, dazu Hemd und Krawatte unter dem braun-beigen Wollpullover. Mode interessiert ihn nicht, sie ist ihm zu oberflächlich. In dem Zeugen-Buch "Junge Leute fragen" wird das Thema in die Nähe einer Sünde gerückt: "Manche Jugendliche kleiden sich abscheulich und ausgefallen […] Sie bringen ihre Eltern in eine peinliche Lage", Zeugen kommen "lieber etwas konservativer" daher.

Nach weiteren zwei Stunden der erste Erfolg: Ein Schüler mit Baseballcap bleibt im Treppenhaus stehen und hört Johannes zu, wie er aus der Bibel vorliest.

"Spielt Gott in deinem Leben noch eine Rolle?"
"Ähh, ja."
"Hast du dich in dieser Stelle wiedererkannt?"
"Hmm, na ja, eher nicht so."
"Macht ja nichts, ist heute auch alles so komplex in der Welt."
"Hmm."
"Vielleicht kann ich dich ja noch einmal später besuchen kommen, wenn du mehr Zeit hast und nicht so im Hausflur?"
"Ja, okay."

Später notiert sich Johannes den Nachnamen des Jungen vom Klingelschild. »Ich fühle mich ein bisschen wie Noah, dem hat auch niemand geglaubt, dass die Sintflut kommen wird«, sagt Johannes, »aber wir haben es besser, uns hört manchmal noch jemand zu.« Dreimal haben die Zeugen Jehovas den Weltuntergang bereits angekündet – bisher ohne Erfolg.

Was fasziniert junge Menschen, deren Leben gerade beginnt, an dem Glauben an ein baldiges Ende?

Johannes reizt es, jemand Besonderes zu sein. Mit philosophischer Neugier nähert er sich der Bibel, immer wieder liest er in ihr. Wo andere Jugendliche in seinem Alter nur Liedzeilen von Snoop Dogg auswendig kennen, kann er fließend Bibelverse zitieren. Das gibt Gesprächen mit ihm Tiefgang, lässt ihn sehr erwachsen wirken. Johannes meint, verstanden zu haben, was die Welt im Inneren zusammenhält, glaubt, die wahre Liebe zu kennen. "Jehova Gott ist wie ein Freund", sagt er, "meine Hauptantriebskraft im Leben ist die Liebe zu ihm." Profane Dinge wie weltlicher Liebeskummer wegen eines Mädchens sind nicht sein Problem.

Natürlich zweifelt er auch, hinterfragt sich, sagt er. In solchen Momenten schlägt er die Bibel auf und liest. "Glauben ist Arbeit", sagt Johannes. Jeden Tag wieder. Er strahlt eine Gelassenheit aus, die selten ist in unserer hektischen Zeit. Er lässt sich nicht stressen vom Alltag. "Was sind schon 80 Jahre Leben gegen die Ewigkeit, die danach kommt?" Im Gegensatz zu seinen Mitschülern lasse er sich nicht von Noten hetzen, in der Angst, später keinen guten Studienplatz zu bekommen. Viel lieber diskutiert er ausgiebig mit seinem Ethik-Lehrer – ohne auf eine gute Note zu schielen, einfach weil es ihn interessiert.

Johannes sitzt am Schreibtisch in seinem Kinderzimmer, an der Wand hängt eine Tafel, auf die er mit Kreide "Bibel lesen" geschrieben hat. Das ist sein Kosmos. Ein paar Bücher liegen unter dem Tisch, "Steppenwolf" von Hermann Hesse und "Alles ist erleuchtet" von Jonathan Safran Foer. Es gibt ein Aquarium, keinen Computer, keine Musikanlage, keinen Fernseher. Johannes war noch nie in einer Disko, hat sich noch nie betrunken und erst recht keinen Porno gesehen. "Das ist eine ganz andere Welt, die mich gar nicht reizt." 20 Euro Taschengeld pro Monat reichen ihm. Manchmal kauft er sich etwas beim Asia-Imbiss, manchmal, sehr selten, geht er ins Kino. Am liebsten schaut er sich Dokumentarfilme wie "Unsere Erde" an.

Auch in seinem Zimmer hat Johannes Gott als Mitbewohner einquartiert. Bevor er mit 15 getauft wurde, hat er auch mal am Computer gespielt oder in der Schule geschummelt. Alles Dinge, die er sich heute nicht mehr gestattet. Sex vor der Ehe ist ihm nicht erlaubt, er darf sich nicht mal allein in der Nähe eines Mädchens aufhalten. "Wenn ich sie unglaublich toll finden würde, wäre das Risiko zu groß. Denn wenn man einmal in Fahrt ist, geht’s dann auch weiter", sagt Johannes. Mit 15 hat er sich in der Kieler Ostseehalle taufen lassen. Seine Eltern, Stiefvater Maschinenbauer, Mutter Hausfrau, die seit Johannes’ Geburt Zeugen Jehovas sind, saßen unter den Tausenden Zuschauern. Die Entscheidung zur Ganzkörpertaufe in T-Shirt und kurzer Hose hat er allein gefällt, betont Johannes. Seitdem lebt er diszipliniert, um Jehova zu gefallen. Vor seiner Taufe hat er in der Schule auch schon mal gespickt oder nachmittags viel Zeit in virtuellen Welten vor dem Computer verbracht. Aus heutiger Sicht: reine Zeitverschwendung. "Manchmal sitze ich jetzt einfach rum und entspanne, ich bin anspruchslos geworden in meiner Freizeitgestaltung."

Viel freie Zeit hat er sowieso nicht. Während andere 18-Jährige skaten, sich Musik aus dem Internet herunterladen oder verliebt mit ihrer ersten Freundin knutschen, muss Johannes einen strengen Wochenplan befolgen. Sonntag: Gottesdienst im "Königreichssaal", der Kirche der Zeugen. Montag: Predigtdienst an den Haustüren. Dienstag: "Theokratische Bibelschule". Mittwoch: Bibelstudium zu Hause. Donnerstag: Bibelkreis. Freitag und Samstag: wieder Haustür-Mission und Heimbibelstudien. Mindestens 16 Stunden ist er pro Woche im Auftrag des Herrn unterwegs.

"Für Christus endlich kam die Zeit, als König zu regieren. Bald lecken seine Feinde Staub, und er wird triumphieren." Johannes schmettert das Eröffnungslied zum "Theokratischen Bibelstudium" mit seiner Bass-Stimme durch den "Königreichssaal", der an einen Seminarraum erinnert. Schwere Vorhänge an den Wänden, Neonlicht über der holzgetäfelten Bühne. Nur ein Bibelvers an der Wand verrät die Gottesnähe. 80 Menschen sind gekommen, wie jeden Dienstagabend, wie in über 2.200 Versammlungen deutschlandweit. Unter den Besuchern sind Immobilienmakler, Hausfrauen, Metallarbeiter genauso wie Hartz-IV-Empfänger. Hübsche Mädchen sitzen in den Reihen, Farbige, ein junger Mann mit Krücken – jeder Vierte hier ist unter 30 Jahre alt. Sobald sie den Raum betreten haben, werden sie zu uniformen "Brüdern" und "Schwestern".

Zwei "Schwestern" sitzen an einem Tisch und halten jeweils ein Mikro. Das eine ist grün, das andere orange. In einem einstudierten Rollenspiel zeigen die Frauen der Gemeinde, wie man andere Menschen in Gespräche über Gott verwickelt.

"Hätten Sie vielleicht Lust auf einen Bibelkurs?"
"Nein, ich habe keine Zeit."
"Oooh, entschuldigen Sie, ich merke gerade, Sie sind ja krank."
"Ja."
"Wir könnten Ihnen helfen."
"Ja, wie denn?"
"Ich würde Sie gern regelmäßig besuchen und mich um Ihre geistigen Belange kümmern."
"Na gut, kommen Sie bitte rein."

Die Versammlung klatscht. Ähnlich dem Gottesdienst am Sonntag sind alle Abläufe formalisiert, niemand widerspricht. Ein Prediger rezitiert aus der Bibel. Nach jedem Vers dürfen die "Brüder" und "Schwestern" die Bibelstellen mit eigenen Worten noch einmal zusammenfassen. Der Versammlungsleiter lobt jeden Auftritt. Immer wieder stellt ein Moderator rhetorische Fragen: "Wer eignet sich, die Welt zu regieren?" Jehova, wer sonst?, antwortet sich der Redner gleich selbst. Doch auch wenn die Mitglieder in den zwei Stunden selbst etwas sagen, dann scheint es, als ob die Antworten vorher schon feststünden. Nach einer Rede fragt der Vortragende, was denn die Vorteile der Taufe seien? Ein älterer Mann springt auf: "Ich wollte endlich zu unserer Gemeinschaft gehören, darum habe ich es getan."

Eine Frau antwortet: "Taufen ist geistiger Schutz", ein Mann ergänzt: "Ich war der Einzige in der Klasse, der sich zur Taufe bei den Zeugen entschieden hatte. Einer meiner Kameraden ist an Aids gestorben, andere sind auf die extrem schiefe Bahn geraten, und keiner ist heute noch glücklich verheiratet."

Sie suchen nach einem inneren Licht und akzeptieren strenge Rituale, die an Selbstaufgabe grenzen: Gottesdienst der Zeugen Jehovas in Hamburg. Akademiker, Hausfrauen, Arbeiter, Makler, viele junge Leute machen hier mit. Überall auf der Welt sehen Zusammenkünfte der Zeugen gleich aus. Darüber wacht die Wachtturm-Gesellschaft, der Verein hinter dem Glauben. Alles ist festgeschrieben, sogar, wann in Zusammenkünften geklatscht werden darf.

Die häufigen Treffen, die Bibelstudien, die Rituale sollen die Mitglieder daran hindern, auf falsche Gedanken zu kommen, sagt Melanie Hartmann. Die 28-Jährige ist vor drei Jahren bei den Zeugen ausgestiegen und leitet heute das Netzwerk Sektenausstieg e.V. Auch Melanie Hartmann war damals nie in einer Disko, hatte nie an einem Joint gezogen, kostete nicht vom Leben: "Wegen der Zeugen habe ich die Leichtigkeit meiner Jugend verpasst." Heute wirft sie der Wachtturm-Gesellschaft vor, sie verbiete ein selbstbestimmtes Leben. "Egal ob Berufswahl, Kleidung, Bildung – man kann nichts selbst entscheiden. Mir wurde tief eingepflanzt, dass die Welt untergehen wird", erinnert sie sich, "aber ich wollte überleben, nicht sterben." Trotz Zweifeln blieb sie 15 Jahre lang Zeugin. Heute wird sie als "Abtrünnige" von anderen Zeugen gemieden.

Johannes hat keine Freunde außerhalb der Zeugen-Gemeinde. Aber nicht, weil das die Zeugen nicht wollten, sagt er, sondern weil er sich seine Freunde nach seinen Interessen aussuche: "Die Bibel wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus, das ist eben mehr als ein Hobby, das man zwei Stunden in der Woche teilt." Das Leben der Menschen außerhalb der Gemeinde gehe in eine andere Richtung – die interessiere ihn eben nicht.

An den letzten beiden Klassenfahrten hat er nicht teilgenommen, im Musikunterricht singt er nie mit, wenn im Advent "Oh du Fröhliche" angestimmt wird. Weihnachten ist für ihn ein heidnischer Brauch – genauso wie Ostern und Geburtstage. Darum feiern Zeugen diese Feste nicht. Am Ende der 12. Klasse wird er das Gymnasium abbrechen, studieren will er nicht. Weltliche Bildung hat für Zeugen keinen Wert, Universitäten sind ihrer Ansicht nach schlecht, da sie aus Christen Atheisten machen würden. "Predigen ist mir wichtiger als Karriere", sagt Johannes. Am liebsten würde er nach dem Zivildienst halbtags missionieren und die restliche Zeit als Gärtner arbeiten. "Das stelle ich mir später im Paradies schön vor, die zerstörte Erde wieder aufzubauen und Gärten zu pflanzen." Wenn Johannes so etwas sagt, wirkt er dabei sehr gelassen.

Sportunterricht, 9. und 10. Stunde im "Gymnasium Allee" in Hamburg-Altona. Johannes hält die Sicherheitsleine, an der ein Mitschüler in sechs Metern Höhe an der Kletterwand unter der Turnhallen decke hängt. "Ey, Yussuf, Alter", lärmt ein türkischer Mitschüler; zwei Mädchen in dünnen Leggins und bauchfreien Tops kichern. Johannes hält die Leine straff, er bleibt davon unbeeindruckt, ein bisschen wie ein Erwachsener unter Kindern. "Johannes kenne ich nicht gut", sagt ein Mitschüler, "aber er ist verdammt nett, freundlich und hilfsbereit."

Hat er schon einmal nach der Schule etwas mit seinen Klassenkameraden unternommen? "Selten", sagt Johannes, "ich war immer schon verabredet, wenn die mal gemeinsam ins Kino gehen wollten." So wie heute. Nach dem Unterricht stehen alle auf dem Schulhof, reden, rauchen. Nur Johannes verlässt das Gelände schnellen Schrittes. Gleich trifft er sich mit seinem Freund. Mit Jehova. Die Studienbibel liegt zu Hause schon aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch.

Die Zeugen:

Jehovas Zeugen sehen sich als Bewahrer der urchristlichen Idee, sie berufen sich auf eine "Neue-Welt"-Übersetzung der Bibel. Die Bezeichnung Jehova für Gott bezieht sich auf die Bibelworte Jesaja 43:10 und 12. Charles Taze Russel gründete die Vereinigung 1881 in den USA, ab 1897 erscheint das Zeugen-Zentralorgan "Wachtturm" auch auf Deutsch. Unter den Nazis wurden die »Bibelforscher« verfolgt und in KZ’s umgebracht. Auch später in der DDR waren sie verboten. Heute gibt es nach eigenen Angaben 165 000 Zeugen in Deutschland – das sind 15mal mehr als Scientologen. Weltweit sollen sieben Millionen Menschen Zeugen sein.

Der Weltuntergang:

Bereits 1914, 1975 und in den neunziger Jahren sollte die Welt untergehen, seit 1994 wird als Zeitpunkt nur noch mit »in Kürze« angegeben. Als Anzeichen sehen die Zeugen den Zusammenbruch des Kommunismus, die nahende Klima-Katastrophe und dass sich einige Wenige auf Kosten der Armen bereichern.

Die Verbote:

Zeugen dürfen nicht wählen oder sich anders politisch engagieren, weil sie ansonsten die Demokratie anerkennen würden. Sie glauben an die Theokratie – die Herrschaft Jehovas. Übermäßiger Alkoholkonsum ist genauso verboten wie Drogen und Homosexualität. Zeugen essen keine Blutwurst und keine Peking-Ente, und sie lehnen Bluttransfusionen ab, wegen des biblischen Verbotes des Blutgenusses. Das Blut stehe für Leben, und jedes Leben gehöre Jehova.

Der Sex:

Sex vor der Ehe ist tabu. Um seine Triebe zu kontrollieren, wird in Ratgebern empfohlen: "Haltet euch nicht zu lange beim Verabschieden auf" und "In gefährlichen Situationen: Beten". Auch Selbstbefriedigung ist der Satan. "Masturbation ist ganz und gar nicht harmlos", es sei "eine unreine Gewohnheit". Darum ist auch jegliche Pornographie verboten: "Pornographie ist Anti-Liebe. Sie ist hässlich, grausam und zerstörerisch."

Christian Fuchs in: Das Magazin Juli/August 2008, Fotos: André Wunstorf

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