Zu den Merkmalen einer Sekte gehört eine möglichst umfassende Einflussnahme auf das Leben ihrer Mitglieder. Dabei darf natürlich eine möglichst restriktive Reglementierung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern nicht fehlen.

Ergänzt durch detaillierte Regeln darüber, welche Sexualpraktiken aus Sektensicht gottgefällig sind und welche nicht. Ein Bereich, in dem auch die "bibelerklärenden Schriften" der Wachtturm-Gesellschaft einiges zu bieten haben.

Die Zeugen Jehovas behaupten geradezu gebetsmühlenartig, sie alleine würden strikt nach biblischen Grundsätzen leben. Und sie verteufeln gerne andere Religionen, die in ihren Traditionen und Regeln weit über das hinaus gehen, was geschrieben steht. Doch wie sieht es mit ihrer eigenen Realität aus? Sind die Zeugen Jehovas wirklich die freien Menschen, als die sie sich gerne bezeichnen? Ist es tatsächlich so, dass für einen Zeugen Jehovas die Bibel der einzige Maßstab für das eigene Handeln ist?

Nehmen wir ein Thema, mit dem sich die meisten Religionen schwer tun. Reden wir über Sex.

In der Bibel findet man dazu ein Weltbild, dem man wohl kaum ohne Vorbehalte zustimmen kann. Hier gilt eine Moralvorstellung, nach der es für einen Mann ganz selbstverständlich ist, mehrere Frauen zu „besitzen“, während der umgekehrte Fall als absolut undenkbar gilt. Männer heiraten und Frauen werden verheiratet (Matth. 24:38). Konkret: Töchter werden meistbietend verkauft, um anschließend demjenigen zu gehören, der den besten Brautpreis zahlen kann (Genesis 24:51). Und wer eine Frau vergewaltigt, darf die beschädigte Ware anschließend behalten, weil sie für ihren Erzeuger sowieso wertlos geworden ist (Deut 22:28).

Dazu passt auch, dass Völkermord selbstverständlich in Ordnung geht, wenn man das Nachbarland als „gottlos“ ansieht. Und dass man dabei konsequent alle Männer abschlachtet, während man die jungen Mädchen als Kriegsbeute mit nach Hause nimmt. (Num 20:10-14, 21:10-14, 31:7-18)

Kaum einem Christen ist bewusst, dass die angeblich hohen moralischen Grundsätze der Bibel nichts anderes als Gesetze zur Besitzstandsicherung sind. Denn zur Zeit ihres Entstehens waren Frauen entweder Töchter, Ehefrauen oder Sklavinnen. Auf jeden Fall waren sie aber der Besitz irgendeines Mannes. Und als solcher durften sie natürlich auch verkauft, verliehen oder verschenkt werden (Exodus 2:20, Richter 1:12, Exodus 21:7).

Es sollte also nicht verwundern, wenn auch diejenigen, die dieses mehr als zweitausend Jahre alte Buch Bibel zum Wertmaßstab für ihr Denken und Handeln im 21. Jahrhundert machen, von der selben sexistischen Grundhaltung geprägt sind wie deren Urheber. Und dass sie größte Probleme damit haben, in einer Frau mehr als ein Objekt der Begierde oder eine preiswerte Haushälterin zu sehen. War es nicht so, dass die Frau von Anfang an lediglich als „Helferin“ des Mannes erschaffen wurde? (Genesis 2:18).

Ein besonders ungutes Gebräu entsteht jedoch, wenn das frauenfeindliche Weltbild aus der Bibel von fundamentalistischen Köpfen aufgegriffen und durch einen ganzen Katalog an Regeln, Restriktionen und Verboten ergänzt wird. Denn was dabei heraus kommt, sind in aller Regel verklemmte Menschen, die schon von Kind auf mit der unterschwelligen Vorstellung aufwachsen, das Sex an sich etwas Anrüchiges ist und die damit verbundenen Handlungen daher möglichst diskret im Schutz der Dunkelheit vorgenommen werden sollten.

Wobei die Bibel einen breiten Zitatenschatz hergibt, mit dem sich jede auch noch so abwegige Regel irgendwie „begründen“ lässt. Mit der Folge, dass die Anhänger der jeweiligen Glaubensvariante in einem ständigen Gewissenskonflikt leben. Weil praktisch jeder erotische Gedanke irgendwie „Sünde“ ist. Und weil sie eigentlich kaum eine Chance haben, ihre völlig angeborene Sexualität auszuleben, ohne dabei irgendein angeblich göttliches Gebot zu verletzen.

Besonders in der Welt der Sekten werden sexuelle Restriktionen gerne zum wichtigen Bestandteil einer besonderen „Erkenntnis“ hochstilisiert und als Zeichen eines überlegenen „moralischen“ Lebenswandels interpretiert. Wobei nicht selten das alte Israel als glorreiches Vorbild herhalten muss. Schließlich war nur das auserwählte Volk im Besitz der göttlichen Gebote (siehe oben) und damit in der Lage, genau die gottgefällige Moral zu praktizieren, die es von allen heidnischen Nachbarvölkern abhob.

Wie so viele der kleinen und kleinsten Gruppierungen, die sich auf die Bibel berufen, fühlen sich auch die Zeugen Jehovas als eine Art neue Variante von Gottes auserwähltem Volk. Auch sie sind davon überzeugt, von einer heidnischen Welt umgeben zu sein, die in immer mehr in Unmoral versinkt, während sie allein die biblischen Grundsätze hoch halten und ein moralisches Leben führen.

Und dieses Leben beginnt schon im Augenblick der Pubertät mit Gewissensbissen für angeblich „sündige“ Gedanken und endet nicht selten in problembehafteten Ehen, die nicht selten von viel zu jungen Paaren geschlossen werden, die kaum Gelegenheit hatten, sich vorher richtig kennen zu lernen und eigentlich nur deshalb geheiratet haben, weil sonst keine Chance bestand, endlich den ersehnten Sex auszuprobieren.

Die beiden „bibelerklärenden Schriften“, Der Wachtturm und Erwachet! tun ihr Bestes, um junge Zeugen Jehovas schon von Jugend an in Gewissenskonflikte zu stürzen. Zum Beispiel, indem Masturbation verteufelt und als die Wurzel aller Unmoral dargestellt wird, wie dieses vermutlich fiktive Zitat eines jugendlichen Zeugen Jehovas demonstriert:

Ich dachte, durch das Masturbieren könnte ich die sexuelle Leidenschaft abreagieren, aber in Wirklichkeit wird dadurch alles nur noch schlimmer. Ich bete darum, dass Jehova mir diese widerliche Praktik vergibt.

Erwachtet! vom 22.4.1995

Wobei natürlich die passende Bibelstelle nicht fehlen darf. Auch wenn dazu ein etwas umständlicher Gedankenkonstrukt notwendig ist, weil das Stichwort selbst in der Bibel einfach nicht zu finden ist:

In der Bibel werden Christen aufgefordert: „Ertötet daher die Glieder eures Leibes, die auf der Erde sind, in bezug auf Hurerei, Unreinheit, sexuelle Gelüste, schädliche Begierde und Habsucht“ (Kolosser 3:5). Die Masturbation ist eine unreine Gewohnheit, die Christen meiden sollten; sie ist das genaue Gegenteil davon, seine ‘sexuellen Gelüste zu ertöten’.

Erwachet! vom 22.7.1997

Doch die voreheliche Selbstbefriedigung ist nicht die einzige „widerliche Praktik“, die von den Gazetten aus dem Wachtturm-Verlag als angeblich „unmoralisch“ angeprangert werden. Auch wenn zwei junge Zeugen für die Verwirklichung ihres Sexuallebens schön brav den Bund der ewigen Ehe eingegangen sind, dürfen sie nicht alles, was vielleicht ihre Phantasie beflügelt. Wobei hier zur Begründung sogar der griechische Wortschatz herhalten muss und ein jedermann vertrautes Wort mit einer großzügigen Interpretation versehen wird, um alles zu verteufeln, was bei den Autoren im fernen Brooklyn nicht in die Kategorie „normaler“ Geschlechtsverkehr passt:

Das griechische Wort porneia, das mit "Hurerei" wiedergegeben wird, hat ein ziemlich breites Bedeutungsspektrum. Es bezieht sich sowohl auf Geschlechtsbeziehungen zwischen unverheirateten (ledigen) Personen als auch auf den Mißbrauch der Geschlechtsteile. porneia schließt oralen und analen Geschlechtsverkehr ein sowie die Masturbation einer anderen Person - Handlungen, die in einem Bordell üblich sind.

Der Wachtturm vom 15.2.2004, Seite 13

Der Wachtturm zitiert hier übrigens Gedanken, die bereits in den 70er Jahren zu lesen waren und zu heftigen Leserbrief-Reaktionen von Zeugen Jehovas führten, die sich schon damals nicht vorschreiben lassen wollten, was sie im Bett zu tun und zu lassen hätten. Doch im geistigen Umfeld des wiedererwachten Fundamentalismus im Amerika des ersten nie gewählten Präsidenten bestehen vermutlich gute Chancen, die alten Regeln wieder aufleben zu lassen. Auf dass der gläubige Zeuge selbst beim ehelichen Liebesspiel nicht vergisst, von wessen Regeln sein Leben beherrscht wird.

Doch der Wachtturm-Einfluss des 21. Jahrhunderts setzt noch viel früher an. Er geht sogar so weit, die ganz private Kommunikation zwischen Verliebten zu reglementieren. Nicht erst bei den ersten erotischen Handgreiflichkeiten sollen sich destruktive Gewissensbisse regen, sondern bereits bei den zärtlichen Worten, die diesen voraus gehen. Selbst wenn diese über große Entfernungen hinweg am Telefon gehaucht werden und somit eindeutig in den Bereich des safer Sex gehören.

Wenn ein verlobtes Paar vor der Hochzeit steht, ist es völlig in Ordnung, dass die beiden bestimmte intime Angelegenheiten besprechen. Aber wäre es in Ordnung, wenn sie ihre romantischen Gefühle durch Telefonsex zeigen würden?

Nein. Auch verlobte Paare müssen den Rat, den der Apostel Paulus gab, beachten: "Hurerei und jede Art Unreinheit oder Habgier sollen unter euch nicht einmal erwähnt werden, so wie es sich für Heilige geziemt, auch kein schändliches Benehmen noch törichtes Reden, noch unzüchtige Späße, Dinge, die sich nicht schicken, sondern vielmehr Danksagung. Denn das wisst ihr, indem ihr es selbst erkennt, dass kein Hurer oder Unreiner oder Habgieriger - das heißt ein Götzendiener - irgendein Erbe im Königreich des Christus und Gottes hat." (Eph 5:3-5)

Erwachet! 22.2.2004

Dass die biblische „Begründung“ reichlich weit her geholt ist, muss hier wohl nicht betont werden. Genauso wenig wie die Tatsache, dass hier ausgerechnet der größte Sexist der Bibel als Ratgeber herhalten muss, um romantische Gefühle zwischen zwei Menschen zu verteufeln.