Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Mainz mit seinem Urteil vom 26. Januar 2012, das damit den Zeugen Jehovas den Körperschaftsstatus in Rheinland-Pfalz verleiht, ist ein Schlag ins Gesicht für Aussteiger sowie Ausstiegswillige und für mittel- und unmittelbar Betroffene. Nach dem Urteil des Gerichts seien alle „Ministerien und Behörden bis hinunter zur Ebene der Schulen und Kindergärten“ auf die Rechtstreue der Zeugen Jehovas „abgefragt“ worden. Wie aus der Presse hervorgeht, wurden die Betroffenen, also Aussteiger und Ausgeschlossene, nicht als Zeugen vorgeladen. Mit dieser Unterlassung folgte das Gericht einer Tradition, die vom Verwaltungsgericht zu Berlin eingeführt worden war.

Bei dieser unbefriedigenden Sachlage tauchen Fragen auf:

Worüber wäre beispielsweise eine Schule oder ein Kindergarten in der Lage, Auskunft zu geben? Dass Kinder von Zeugen Jehovas beim Kindergeburtstag im Kindergarten nicht mitfeiern dürfen, stellt noch keinen rechtlichen Treuebruch dar. Auch die Moslems feiern keinen Geburtstag. Die staatlichen Einrichtungen sind aber nicht dabei, wenn beispielsweise Familienmitglieder wegen Kontaktsperre, die von Zeugen Jehovas nach einem Gemeinschaftsentzug dem „Missetäter“ verhängt wird, sozial isoliert werden. Sie sind auch nicht dabei, wenn Zeugen Jehovas nicht zur Wahlurne gehen dürfen. Das Wahlverbot existiert sehr wohl noch, auch wenn die offizielle „Sprachregelung“ hierfür scheinbar etwas anderes sagt. Wie sollen außerdem die staatlichen Einrichtungen prüfen, ob z. B. die Verweigerung einer Bluttransfusion „aus Glaubensgründen“ fremd- oder selbstbestimmt war? Rechtlich darf jeder eine medizinische Behandlung ablehnen. Dafür muss man kein Zeuge Jehovas sein. Zeugen Jehovas werden in diesem Fall höchstens als religiös-fanatische Spinner tituliert. Hier sollten also die Betroffenen selbst zu Wort kommen und nicht Behörden oder bloß rhetorisch geschulte und trainierte Rechtsanwälte.

Und selbst wenn Behörden, Ämter und Schulen bei Zeugen Jehovas Auffälligkeiten feststellen, ist es ihnen nicht möglich, die Ursachen auf das soziale Umfeld der Zeugen Jehovas zurückzuführen oder nachzuweisen, auch wenn sie es erahnen mögen. Es liegt dann auf der Hand, dass es aus dieser Perspektive keine „Anhaltspunkte für fehlende Rechtstreue von Jehovas Zeugen“ geben kann, denn es sind ja nicht diese behördlichen und staatlichen Einrichtungen, gegenüber denen Zeugen Jehovas ein menschenverachtendes Verhalten an den Tag legen. Das mehr als problematische Menschenbild, das Zeugen Jehovas vor allen Dingen gegenüber Aussteigern und Ausgeschlossenen pflegen, lässt sich eben nicht mit behördlichen Daten erfassen. Man muss die Betroffenen selbst befragen. Dies alles beweist somit nicht, dass mangelnde Rechtstreue, wozu auch die Menschenrechte gehören, bei Zeugen Jehovas nicht existiert. In der Pressemitteilung wird selbst zugegeben (Unterstreichung von mir):

Anders als das Land konnte das Gericht keine Anhaltspunkte für begründete Zweifel an der Rechtstreue von Jehovas Zeugen erkennen.

Im Klartext heißt dies: Das Land Rheinland Pfalz hat sehr wohl Anhaltspunkte gesehen, die gegen die Rechtstreue der Zeugen Jehovas sprechen. Wie das Gericht hinterher urteilt, liegt aber völlig neben der Sache und ist im Übrigen auch wieder Standpunktsache. Die Urteilsfähigkeit eines Gerichts ist nicht zwingend schon deshalb besser als die des Landes Rheinland Pfalz, nur weil es in seiner Eigenschaft als „Gericht“ urteilt. Dies möge man unterscheiden. Auch dort sitzen nur Menschen. Ob mit dem Urteilsspruch auch Recht gesprochen wurde, ist wieder eine andere Frage. Es ist nicht zwingend dasselbe. Und ob das Verwaltungsgericht diese Anhaltspunkte nicht sehen wollte, steht wieder auf einem anderen Blatt. Gekonnt hätte dies das Gericht schon - wenn Zeugen vorgeladen worden wären. Beim Zivil- oder Strafprozess werden ja üblicherweise auch Zeugen vorgeladen. Aber hier war es wohl einfacher, nur nach Aktenlage zu urteilen: Es ist kostengünstiger und schneller.

Die unbedeutende Randerscheinung der Zeugen Jehovas in der über 2000-jährigen Kirchengeschichte ist zudem wohl auch nicht interessant genug. Die Gerichte scheinen nicht daran interessiert zu sein, eine so "junge" Religionsgemeinschaft, wie die Zeugen Jehovas, genauer zu untersuchen. Nicht einmal die Öffentlichkeit scheint sich hierfür zu interessieren. Außerdem gilt das nur für das kleine Deutschland. In anderen Ländern existiert eine Körperschaft des öffentlichen Rechts nicht.

Das Urteil des Gerichts beweist also nicht, dass das Land mit seiner Wahrnehmung falsch liegt. Dass das Gericht diese Anhaltspunkte nicht sehen konnte und wohl auch nicht wollte, hat selbstredend auch folgenden Grund: Nicht die Betroffenen, die von den Gerichten wieder einmal nicht ernst genommen wurden, sind der Maßstab gewesen, an dem das Gericht die Rechtstreue der Sekte geprüft hat - aber hätte prüfen müssen -, sondern Behörden, Ämter und Schulen, die in Wirklichkeit überhaupt nichts dazu sagen können. Man versuche doch einmal, mangelnde Rechtstreue von Eltern gegenüber dem Staat, die ihr Kind nicht richtig erziehen, nachzuweisen, indem man das Jugendamt befragt.

Dass das Verwaltungsgericht dann aus dieser Perspektive „keine Anhaltspunkte für begründete Zweifel an der Rechtstreue von Jehovas Zeugen“ erkennen konnte, erklärt sich daher von selbst: Was man sich nicht selber vorlegt (betroffene Zeugen, Aussteiger und Ausgestoßene, auch Beobachtungen Unbeteiligter usw.), kann man auch nicht sehen. So einfach ist das! Und was man nicht sehen will, sieht man ebenfalls nicht.

Das Ergebnis ist dann das, was der Sprecher des Zweigkomitees, des leitenden Gremiums der Religionsgemeinschaft, Werner Rudkte, als „ein Gütesiegel für unsere Rechtstreue“ bezeichnet. Wie das aber bei Gütesiegeln so ist: Was drauf steht, muss nicht zwingend drin sein: Warum wurden keine Betroffenen als Belastungszeugen vorgeladen? Das wird wohl ein Geheimnis bleiben. Das „Gütesiegel“ auch!

Theologisch muss zudem gefragt werden: Warum haben „Jehovas Zeugen in Deutschland“ es nötig, sich vom so genannten „satanischen System“, den ‚irdischen Handlangern Satans‘, ein Gütesiegel verleihen zu lassen, wenn sie doch nicht müde werden, zu verkünden, ein solches „Gütesiegel“ bereits von Jesus Christus 1914 für ihre „Treue“ erhalten zu haben, das bescheinigt, dass Zeugen Jehovas die einzig wahre Religion sind? Anspruch und Wirklichkeit klaffen hier wieder einmal weit auseinander: Mit der Dialektik der Teilhabe am „weltlich Ding“ (Luther) und des gleichzeitigen „Getrenntseins von der Welt“ (Joh 15, 19 nach Auslegung der Zeugen Jehovas) scheinen die Zeugen Jehovas inzwischen gut zurechtzukommen.

Nach diesem Siegeszug kann Werner Rudkte nach seiner Feststellung, dass „keine Religionsgemeinschaft in Deutschland […] jemals so intensiv auf ihr gesetzestreues Verhalten untersucht worden [sei] wie Jehovas Zeugen“, es sich scheinbar erlauben, folgende rhetorische Frage zu stellen:

Ob einer solchen Prüfung wohl alle Religionsgemeinschaften standhalten könnten, die den Körperschaftstatus bereits innehaben?

Mit solcher Nonchalance wird auf subtile Weise auf die eventuell mangelnde Rechtstreue anderer Religionsgemeinschaften hingewiesen. Das ist eine doch recht überhebliche Haltung, die den Zeugen Jehovas nicht zusteht.

Mit christlichen Grundsätzen hat eine solche Haltung jedenfalls nichts mehr zu tun, sondern hier gilt dann vielmehr: Wer es nötig hat, andere abzuwerten, um sich aufzuwerten, ist nicht glaubwürdig.

Besser als mit dieser rhetorischen Frage hätte Werner Rudkte die für Zeugen Jehovas charakteristische, abgehobene Glaubenshaltung gegenüber anderen Religionsgemeinschaften nicht vorführen können. Wenn man gewonnen hat, sollte man eines können: Aufhören, zu siegen. Sonst bekommt der Sieg einen schalen Beigeschmack.

Theologisch gesehen hat Jesus Christus jeder überheblichen Glaubenshaltung eine Absage erteilt. In Lk 18, 9-14 lesen wir im Beispiel Jesu mit dem überheblichen und arroganten Pharisäer und dem demütigen Zöllner:

Einigen, die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt waren und die anderen verachteten, erzählte Jesus dieses Beispiel: Zwei Männer gingen zum Tempel hinauf, um zu beten; der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stellte sich hin und sprach leise dieses Gebet: Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner dort. Ich faste zweimal in der Woche und gebe dem Tempel den zehnten Teil meines ganzen Einkommens. Der Zöllner aber blieb ganz hinten stehen und wagte nicht einmal, seine Augen zum Himmel zu erheben, sondern schlug sich an die Brust und betete: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser kehrte als Gerechter nach Hause zurück, der andere nicht. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden.

Wessen Charaktereigenschaft entspricht der der Zeugen Jehovas? Die des Pharisäers, der sich selbst beweihräuchert oder die des Zöllners, der demütig seine Unzulänglichkeiten eingesteht? Was würde Jesus zu der Haltung der Zeugen Jehovas heute sagen? Die Antwort steht oben im Bibeltext.


Ein Kommentar zur Pressemitteilung der 'Zeugen Jehovas in Deutschland' vom 26. Januar 2012, Nr. 07/12