Jahrzehntelang haben Jehovas Zeugen die Vereinten Nationen als das scharlachfarbene wilde Tier aus der Offenbarung verurteilt, aber insgeheim waren sie dennoch mit ihm verbunden. Der für religiöse Themen zuständige Korrespondent des "Guardian" stieß auf ihr Geheimnis und löste damit unter den Gläubigen eine Welle von gegenseitigen Beschuldigungen aus.

Die lächelnden Frauen mittleren Alters, die an einem Samstagmorgen an meiner Tür vorsprachen, waren äußerst freundlich. Sie sagten, sie seien von den Zeugen Jehovas, und fragten, ob sie mein Interesse an einem Besuch ihres Königreichssaals wecken könnten. "Nein", antwortete ich, meine Pflichten als Berichterstatter fürs Religiöse aufs gröbste vernachlässigend, "ich gehe in eine andere Kirche." Darauf lächelten sie wieder, und wir wünschten uns gegenseitig einen angenehmen Guten Morgen.

Wenn ich das gewusst hätte, was ich jetzt weiß, wäre ich vielleicht eine Spur weniger freundlich gewesen.

Denn einige Tage später flatterte die E-Mail eines wissenschaftlichen Mitarbeiters auf meinen Computerbildschirm mit der Frage, ob mir ein merkwürdiges kleines Geheimnis seiner religiösen Gemeinschaft, der Zeugen, bekannt wäre. Er meinte, es gäbe da einen klaren Widerspruch zwischen ihrer extremen Opposition gegenüber den Vereinten Nationen und ihrem internen Beschluss, sich als eine Nichtregierungsorganisation mit den Vereinten Nationen zu verbinden.

Wie die meisten Außenstehenden, so wusste auch ich, dass die Zeugen - weltweit gibt es sechs Millionen, davon 130.000 in Großbritannien - sonderbare Ansichten über Bluttransfusionen haben (selbst wenn es um Leben oder Tod geht, sind sie ihnen nicht erlaubt); dass sie keine Regierungen mögen und dass sie nicht zu Wahlen gehen; dass sie von einer Gruppe von Ältesten geführt werden, die in Brooklyn, New York, sitzt; und dass sie Fundamentalisten sind, die sich auf die Bibel berufen. Aber was um alles in der Welt könnten sie gegen die UN haben?

Gewiss, muss einer religiösen Gruppe eine solche Stellung nicht wie ein Verharren in der Sünde vorkommen? Aber ja doch, da stand es schwarz auf weiß: 80 Jahre lang hat die Wachtturm Bibel- und Traktatgesellschaft (WTG) von New York, wie die Zeugen formal heißen, den Völkerbund und dann die Vereinten Nationen nicht nur kritisiert, sondern verurteilt. Die UN wird dabei als das scharlachfarbene wilde Tier aus der Offenbarung identifiziert, als Babylon die Große, ein abscheuliches Ding in den Augen Gottes und der Menschen.

Gleichzeitig tauchte die Wachtturmgesellschaft jedoch auf der Website der Vereinten Nationen als eine von 1.500 akkreditierten Nichtregierungsorganisationen auf.

"Das ist sicher ein bisschen komisch", sagte eine UN-Sprecherin. "Ich vermute mal, dass wir nicht wussten, was die in Wirklichkeit über uns dachten."

Nein, sagte der britische Sprecher der Zeugen, sie waren niemals mit der UN assoziiert - vielmehr hätten sie dorthin nur Vertreter geschickt.

Wie auch immer, es gab sie dort. Die WTG war mit der UNO verbunden gewesen seit ihrem ersten Antrag im Jahre 1991. Um anerkannt zu werden, musste sie sich verpflichten, die UN-Charta zu unterstützen und bereit zu sein, deren Ziele und Politik zu verbreiten und zu publizieren. Nicht ein Mal, sondern jedes Jahr aufs neue! Das war kein Versehen. Ich schrieb die Geschichte, und sie erschien mittendrin im "Guardian" an dem Tag, als es mit dem Bombardement auf Afghanistan losging. Ich dachte, das wär's gewesen - bis die E-Mails hereinflatterten, aus Hawaii, Kalifornien, Nebraska und der Ukraine. Irgendwie wurde der Artikel innerhalb von wenigen Stunden auf einer Zeugen-Website veröffentlicht und ins Französische übersetzt. 14.000 Anhänger weltweit hatten ihn gelesen. Hunderte kommentierten ihn, andere wollten eine Kopie der Originalzeitung sehen (als ob sie es nicht richtig hätten glauben können, wenn sie es nur auf ihrem Computerbildschirm lasen). Nur eine Antwort war feindselig: Unsere Redakteure veränderten das Wort "scharlachfarben", und das hat einem Versammlungsältesten aus Illinois ausgereicht, um den Artikel als von Ungenauigkeiten strotzend zu tadeln.

Dann passierte das Überraschendste von allem: Zwei Tage nachdem der Artikel erschien, löste die WTG ihre Liaison mit der UN. Hatte man etwa ein schlechtes Gewissen? Von ungläubigen Zeugen unter Druck gesetzt, verbreitete die UN eine Erklärung auf Briefkopfpapier, um die Meldung zu bestätigen. Sektenanhänger belagerten das Büro des Leiters für Öffentlichkeitsarbeit und verlangten ein Original seines Schreibens oder wenigstens eine Kopie davon. Gerüchte sickerten durch, dass loyale Älteste, nach der Geschichte befragt, ihren Versammlungen gegenüber erklärten, es handle sich um eine Lüge, die von Abtrünnigen in Umlauf gebracht worden sei. Oder dass die UN-Website offensichtlich von Hackern manipuliert worden sei. Oder dass es das Werk des Teufels gewesen sei. Allerhöchstens habe es sich um ein Versehen gehandelt - wenn auch um eines, wie kritische Zeugen feststellten, das zehn Jahre lang angedauert habe. Oder hatte die Führungsriege die Unterlagen, die sie von der UN erhielt, etwa immer ungelesen in den Papierkorb geworfen?

Als Zeugen ihren Glaubensbrüdern und Verwandten, Müttern und Vätern, Schwestern und Brüdern Kopien des Zeitungsartikels zeigten, wurde ihr Lesestoff zerrissen, auf den Boden geworfen oder einfach ungelesen zurückgegeben. Ihnen selber warf man Abtrünnigkeit vor. Das Diskussionsforum der Zeugen war gefüllt mit Hunderten von Beiträgen, im Grunde alle empört über die Führungsriege der WTG. Jemand schrieb, dass er zu einer zweistündigen Anhörung vor den Ältesten seiner Versammlung zitiert wurde, weil er einem Freund die UN-Website gezeigt hatte. Er und seine Frau mussten bei ihrer nächsten Zusammenkunft eine öffentliche Rüge vor der ganzen Versammlung über sich ergehen lassen.

"Der 16jährige treue Dienst meiner Frau ist anscheinend null und nichtig - nur wegen einer privaten Unterhaltung mit einem Freund über Tatsachen und private Informationen", schrieb er. "Wir mussten uns anhören, dass das Schriftwort von denjenigen, die ‚Unruhe stifteten', auf uns zutreffe. Die Entscheidung der Ältesten wurde als eine gute Nachricht präsentiert. Sie sagten: ‚Wir haben uns dafür entschieden, Milde zu zeigen und euch nicht die Gemeinschaft zu entziehen' - es ging um etwas, das aus der Versammlung entfernt werden musste wie Gangrän."

Ein "Gemeinschaftsentzug" ist eine ernste Angelegenheit, weil Zeugen aufgefordert werden, keine enge Freundschaft mit Außenstehenden zu haben. Wird jemandem die Gemeinschaft entzogen, so bedeutet das, dass andere Zeugen, auch die eigene Familie, den Kontakt zu ihm abbrechen und ihn meiden sollen, wenn sie ihm begegnen. Das geschieht, so sagte mir der Älteste aus Illinois, nur aus Liebe und nachdem man sich bemüht hat, dass er seine falschen Wege einsieht.

Solcher Zank mag Außenstehenden albern vorkommen: Unzufriedenen Zeugen, die sich wieder einmal getäuscht fühlen, reicht es endgültig. In der Welt des Wachtturms mit ihrer starken Innenorientierung, ihrer Abwehrhaltung und ihrem Misstrauen wird es nicht gerne gesehen, Fragen zu stellen. Deshalb bereitet ein Fall von Heuchelei wie dieser um so größere Schmerzen. Das zeigt sich besonders stark beim Thema Bluttransfusion. Jahrelang glaubte man, Hunderte von Zeugen und ihrer Kinder seien gestorben, weil sie auf der Grundlage von Apostelgeschichte 15:20 lebensrettende Maßnahmen ablehnten. Dann aber trafen sich letzten Sommer die Führer in Brooklyn und beschlossen nach einer offensichtlich göttlichen Offenbarung - um genau zu sein, nach einer Abstimmung von acht gegen vier Stimmen -, dass die Übertragung von Blutbestandteilen wie Plasma unter bestimmten Umständen erlaubt sei, sofern der Empfänger es später aufrichtig bereue. Bekannt gegeben wurde das in den Versammlungen nicht, und bei Nachfrage erklärte man, dass dies überhaupt keine Lehränderung sei.

"Kindesmissbrauch" ist ein weiteres Thema. Die offizielle Vorschrift lautet, dass Anschuldigungen nur dann untersucht werden sollten, wenn es zwei unabhängige Zeugen gibt - was nahezu unmöglich ist. Ich habe Anweisungen gesehen, die man Ältesten gab, in denen diese aufgefordert werden, schriftliche Unterlagen zu verbrennen. Das mag eine Rechtsbehinderung sein oder nicht, hilfreich ist es wohl kaum. Die äußere Umwelt hat fast keine Wirkung auf die felsenfesten biblischen Gewissheiten der Zeugen Jehovas - umso peinlicher wirkt da ihr Techtelmechtel mit der UN. Diejenigen, denen die Gemeinschaft entzogen wird, schließen sich der restlichen Menschheit an und werden insgeheim als "Vogelfutter" bezeichnet, nachzulesen - wenn auch mit einer gehörigen Portion Phantasie - in Hesekiel 39:18. Denn wie sagt doch die Zeitschrift "Der Wachtturm": Jehova verachtet die Stolzen und die Mächtigen, er betrachtet sie als wertloses Aas, auf dem er die wilden Tiere und Geier ihr Mahl halten lässt.

Die Zeugen sind angehalten, eine "theokratische Kriegsstrategie" zu verfolgen: "In Zeiten des geistigen Kampfes ist es angebracht, den Feind zu täuschen, indem man die Wahrheit verheimlicht. Das geschieht nicht aus Eigennutz; es schadet niemandem. Im Gegenteil, es bewirkt viel Gutes."

Das Problem ist, dass die Führer nicht nur den Feind getäuscht haben, sondern genauso ihre eigenen Anhänger. Es kann nicht gut gehen, so eine wachsende Gruppe von enttäuschten Mitgliedern zu haben. Kein Wunder, wenn einige der Unzufriedenen glauben, dass der WTG ein Harmagedon blüht, früher noch, als es der "Wachtturm" prophezeit.

Quelle: The Tablet, Großbritannien, 3.11.2001, Autor: Stephen Bates