Der Skandal in Belgien um den Kinderschänder Dutroux hat europaweit für Schlagzeilen gesorgt. Doch nur wenige wissen, dass im Umfeld der Dutroux-Affäre auch der Fall eines Zeugen Jehovas ans Tageslicht kam, der seine pädophile Karriere in der Versammlung begann und jahrelang seinen Neigungen nachgehen konnte.

Weil den Zeugen Jehovas auch in diesem Fall das Ansehen nach außen wichtiger war als der Schutz unschuldiger Kinder.

Der Fall Dutroux und die Zeugen Jehovas

Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache. Während es in Belgien 1996 noch 26.654 Zeugen Jehovas gab, waren es 1997 bereits 326 weniger. 1998 sackte die Zahl um weitere 321 ab und 1999 verließen sogar 612 Zeugen Jehovas die Religion, die sie einst als die „Wahrheit" bezeichnet hatten. Die Gründe dafür sind sicher vielfältig, doch einer davon ist jedem bekannt, der Zeitung liest. Er hat unter dem Strichwort Dutroux traurige Berühmtheit erlangt und steht für einen Kinderschänder-Skandal von geradezu erschreckendem Ausmaß.

Mitgliederentwicklung in Belgien
Jahr Mitglieder
1994 26.328
1995 26.853
1996 26.654
1997 26.328
1998 26.007
1999 25.395

Auch bei Gesprächen mit mehreren belgischen Aussteigern fällt immer wieder der Name Dutroux. 40 Fälle von Pädophilie soll es unter Zeugen Jehovas gegeben haben. Das berichteten zumindest die belgischen Medien und die Wachtturm-Gesellschaft (WTG) ließ eiligst eine Pressemitteilung verteilen, in der betont wurde, dass es sich dabei ausnahmslos um Ausgeschlossene handelt. Parallel dazu ging eine entsprechende Mitteilung an die Versammlungen zahlreicher europäischer Länder.

Der in l’Express geschilderte Fall Raymond Meys ist typisch für die Vorgehensweise der WTG. Typisch für eine Organisation, bei der offensichtlich Vertuschen vor Problemlösung geht. Und das eigene Ansehen vor dem Schutz unschuldiger Kinder. Auch in den zahlreichen anderen Fällen von Kindesmissbrauch unter Zeugen Jehovas, die bekannt geworden sind, konnten die Täter oft jahrelang ihrer Neigung nachgehen, ohne dass die geistigen Führer der Versammlung etwas dagegen unternahmen. Und ohne dass die Kinder vor ihnen geschützt wurden.

Ein ähnliches Bild zeichnen die Berichte von Frauen, die als Zeugen Jehovas aufgewachsen sind und in frühester Kindheit von einem Ältesten oder dem eigenen Vater missbraucht wurden. Teilweise sind die Täter noch heute in der Versammlung aktiv, während die Opfer ihr Leben lang mit den psychischen Folgen zu kämpfen haben.

Nach einer Aufklärungsveranstaltung des Netzwerks ehemaliger Zeugen Jehovas am 11.01.2000 in Kaufbeuren, in der auch das Thema Kindesmissbrauch unter Zeugen Jehovas angesprochen wurde, kam es zu mehreren Anrufen, in denen ebenfalls von derartigen Übergriffen berichtet wurde.

Dass das Problem auch der Wachtturm-Führung bekannt ist, zeigt schon ein vertrauliches Schreiben an alle Ältesten, in dem genaue Hinweise gegeben werden, wie in Fällen von Kindesmissbrauch vorzugehen ist. Auch hier offenbart sich die wahre Motivation der WTG. Zur Frage, ob ein Pädophiler, der seine Tat bereut, früher oder später wieder eine führende Rolle in der Versammlung einnehmen kann, heißt es unter anderem: „Dabei spielt es eine Rolle, wie bekannt der Fehltritt geworden ist".

Es lässt sich zwar nicht nachweisen, dass Pädophilie unter Zeugen Jehovas weiter verbreitet ist als anderswo. Kommunikationsverhalten und Machtstrukturen innerhalb der Sekte geben jedoch Grund zur Annahme, dass es hinter den bekannt gewordenen Fällen noch eine ganz erhebliche Dunkelziffer gibt. Und das nicht nur in Belgien.


Der Zeuge Jehovas

...in Sachen Raymond Meys. Im Januar 1993 wurde dieser Mann wegen Kindesmissbrauch zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt. Ein Urteil, das nach einer langen Reihe von Verfehlungen gefällt wurde. Er hatte seine pädophile „Karriere" schon 1971 begonnen. Bei den Zeugen Jehovas, wo er für die religiöse Unterweisung der Kleinen sorgte. Unter diesem Vorwand lockte er ein 9jähriges Mädchen zu sich und missbrauchte es sexuell. Von der Mutter des Opfers informiert beschließt die Versammlung, diese „Verfehlung" innerhalb der Versammlung zu richten. Während einer Gegenüberstellung wird das Kind gebeten , dem „Bruder Raymond" zu vergeben, da er verspricht, es nie wieder zu tun.

Zwanzig Jahre später, im Januar 1991, wird Raymond Meys beim Verlassen eines Fotoladens verhaftet. Dort wollte er Bilder abholen, die ein kleines, 2 1/2 Jahre altes Mädchen in obszöner Pose zeigen. Die sofortige Durchsuchung seines Hauses in Lasne (Wallonisch Brabant) führt zur Beschlagnahmung einer beeindruckenden Menge an pädophilem Material. Man fand insbesondere 300 Fotos nackter Kinder und Jugendlicher in erotisch pornographischen Stellungen (nur vier Mädchen und zwei Jungen konnten identifiziert werden), 24 Fotos vom Geschlechtsteil eines 2jährigen Mädchens, 16 Bilder vom Geschlechtsteil eines nicht identifizierten Babys, 11 Video-Aufnahmen, auf denen homosexuelle Beziehungen zwischen Raymond Meys und einem jungen Freund zu sehen sind, ein Exemplar der Zeitschrift Spartacus und verschiedene andere eindeutige Gegenstände.

Um ihr Ansehen und das ihres Sohnes zu schützen, verbrennt die Ehefrau von Raymond Meys im Laufe der Untersuchungen die Seiten seines Notizbuches, in dem er alle Daten der Kinder, die durch seine Hände gegangen waren, festgehalten hatte. Seit Mai 1990 hatte Meys über Anzeigen unter der Rubrik „Babysitting" kleine Kranke, Genesende oder Behinderte gesucht und bei sich aufgenommen.

Aufgrund weiterer Anzeigen in Vlan traf Mey mit einem europäischen Beamten zusammen, mit dem er pädophile Cassetten austauschte. Gemeinsam mit einem ihm anvertrauten 9jährigen Mädchen, das unter Krebs im Endstadium litt, schaut sich Meys unter anderem eine Fellatio-Szene zwischen einem Jugendlichen und einem jungen Mädchen an. Sein Lieferant übergibt ihm unter anderem auch einen Film, das die Vergewaltigung eines kleinen Mädchens zeigt, das offensichtlich terrorisiert wurde und Spuren von Schlägen aufweist.

Selbst der Anblick dieses kleinen Opfers von ungefähr 10 Jahren – vergewaltigt, misshandelt und an einem anonymen Ort gefilmt, wobei der Hintergrund mit einem weißen Tuch unkenntlich gemacht ist, genügt nicht, um als Beweis für die aktive Beteiligung des Lieferenten von Raymond Meys zu dienen.

Quelle (auszugsweise): Artikel in Le Vif / l’Express vom 8.11.1996 über den Dutroux-Skandal in Belgien